RUSH

Zitat entfällt.

Rush ~ I 1983
Directed By: Tonino Ricci

Nach dem Großen Knall: Eine skrupellose Führungspartei lässt die Überlebenden für sich auf einer Plantage arbeiten, wo ein die Menschen gefügig machendes Rauschgift angebaut und verarbeitet wird. Es ist unter Todesstrafe verboten, selbst Kulturpflanzen zu züchten. Der rebellische Einzelkämpfer Rush (Conrad Nichols) schert sich darum jedoch nicht und landet prompt im Arbeitslager des Ministers Yor (Gordon Mitchell). Dort wähnt man in Rush den lang ersehnten Organisator des überfälligen Aufstands und tatsächlich fackelt Rush nicht lang und tut, worum man ihn bittet. Unter einigen Verlusten macht Rush Lager und Bösewichte dem Erdboden gleich.

Italienisches Endzeitkino aus den Achtzigern mit Plagiatsbukett zählt mit zum Schönsten, was man sich bis heute aus der mediterranen Filmregion angedeihen lassen kann. Nahezu jeder dort ansässige, namhafte und im kommerziell(er)en Fach werkstätige Regisseur hatte während dieser Ära irgendwann mindestens einmal mit postapokalyptischen Szenarien zu tun. Die meisten der entsprechenden Arbeiten sind toll bis sagenhaft, manchmal beeindruckend liebevoll gestaltet und manchmal inbrünstig vor die ungläubige Visage des Zuschauers gerotzt. In beiden Fällen gibt es stets massenhaft zu staunen und zu prusten, wobei Tonino Riccis „Rush“ ganz klar letztere genannte Kategorie bedient. Bereits das Script, das neben den üblichen Vorbildern zusätzlich großzügig beim just erfolgreich gelaufenen „First Blood“ einklaufen geht (sogar das Filmplakat ist bloß geringfügig abgewandelt worden), spricht die komplexitätsreduzierte Sprache eines Zweitklässlers beim Cowboy-Spielen. Conrad „Nicht vergessen, ich bin Einzelkämpfer!“ Nichols, ein vormaliges Fotomodell, das unterdessen wahlweise unter den Namen Luigi Mezzanotte oder Bruno Minitti firmiert, hätte man gern einmal im Dubbel mit Mark Gregory / Marco Di Gregorio gesehen – die beiden hätten sich bestimmt eine Menge zu erzählen gehabt. Nun, hier erschöpft sich die partenerschaftliche Prominenz in dem nicht mehr ganz taufrischen Cinecittà-Heroen Gordon Mitchell sowie dem hackfressigen Riccardo Pizutti, den bewanderte Zeitgenossen flugs als Abruf-Punching-Ball von Bud Spencer identifizieren dürften. In „Rush“ wird er zwar auch nach Strich und Faden verkloppt, darf am Ende jedoch ausnahmsweise einmal sogar blutig durchsiebt werden und hernach den Heldentod mit zwei Handgranaten sterben. Die obligatorischen Damen werden von Laura Trotter und einer gewissen Bridgit Pelz gespielt und sehen weniger lieblich aus als von cineastischen Artgenossen her gewohnt. Über die Dramaturgie, so man von einer solchen überhaupt sprechen mag, gehört derweil das wohlweisliche Mäntelchen des Schweigens gebreitet; zumindest der Showdown, in dem Rush eine gefühlte Ewigkeit per gekapertem Jeep durch ein vermeintlich komplexes Höhlensystem laviert, ist dann irgendwann auch nicht mehr lustig. Doch selbst dieser kann bei aller epischen Breite diesem Kleinod nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Ganz vorzüglich natürlich die Berliner Synchronfassung, die den Protagonisten beständig teutonisiert als „Rasch“ veräußert, bezüglich derer der gute Christian Keßler sich in seinem eigens für die deutsche DVD abgefassten und ansonsten wie gewohnt fachkundigem sowie sehr diskursiv gefärbtem Audiokommentar allerdings ausnahmsweise auch mal irrt: Der Off-Erzähler ist nämlich nicht Hans Korte, sondern Joachim Nottke. Ätsch, Herr Keßler. Ansonsten alles eine dufte Angelegenheit, eine Wolke, eine Wucht gar!

6/10

THE ACCIDENTAL TOURIST

„I don’t really care for movies; they make everything seem so close up.“

The Accidental Tourist (Die Reisen des Mr. Leary) ~ USA 1988
Directed By: Lawrence Kasdan

Macon Leary (William Hurt) hat einen eigenartigen Beruf: Er schreibt Reiseführer für Menschen, die das Reisen hassen. In seinen Ratgebern stehen Tipps, wie man auch in der Ferne kaum bemerkt, dass man von zu Hause weg ist, wie man es möglichst vermeiden kann, sich an fremde Lokalitäten zu adaptieren und was man tun muss, um nicht mit anderen Leuten ins Gespräch zu kommen. Seit Macon vor über einem Jahr seinen kleinen Sohn Ethan (Seth Granger) infolge eines Raubüberfalls verloren hat, schlummert auch die Ehe mit seiner Gemahlin Sarah (Kathleen Turner) nahe des Gefrierpunkts. Eine Trennung scheint unausweichlich. Da lernt Macon die unkonventionelle Hundetrainerin Muriel Pritchett (Geena Davis) kennen, die ein ungemeines Interesse an ihm zeigt. Trotz ihres Einsatzes schafft sie es jedoch zunächst nicht, Macon aus der bleiernen Lethargie seiner Trauer herauszuholen. Da meldet sich Sarah wieder und bietet Macon an, ihrer Beziehung noch eine Chance zu geben.

In seiner vierten Regiearbeit in direkter Folge des angemessen spektakulären Retrowesterns „Silverado“ wiedervereint Lawrence Kasdan William Hurt und Kathleen Turner, die beiden Hauptdarsteller seines Regiedebüts, des erotischen neo noir „Body Heat“, und versetzt sie in ein immens differentes Szenario. „The Accidental Tourist“ lokalisiert sich im herbstlichen Neuengland, passend zu der generalisierten Depression seines Protagonisten. Abgesehen von zwei oder drei Ausbrüchen, die dann erfolgen, wenn Macon Leary sich von seinen Partnerinnen allzu weit in eine emotionale Ecke gedrängt fühlt, spielt William Hurt seine Rolle mit ganz wunderbar stoischer Teilnahmslosigkeit und Lakonie. Die ersten Minuten lassen ein schweres Verlustdrama von ähnlichem Format wie Redfords „Ordinary People“ erahnen, dann vollzieht Kasdan jedoch eine Wende hin zu leiser Komödie: Nachdem Sarah weg ist, zieht Macon zu seinen drei spleenigen Geschwistern Porter (David Ogden Stears), Charles (Ed Begley Jr.) und Rose (Amy Wright), die innerhalb einer Zweckgemeinschaft leben, in der sich ihre infantile Verhaltensschemata und Neurosen irgendwann so fest verwurzelt haben, dass sie niemandem von ihnen mehr auffallen oder seltsam vorkommen. Selbst Macon fällt es, obschon er als einziger des Quartetts den Ausbruch mitsamt Familiengründung geschafft hat, nicht schwer, in den geschwisterlichen Schoß mit seinem vollständig ritualisierten Alltag zurückzukehren. In der ebenso sensiblen wie witzigen Porträtierung der Learys liegt dann auch die größte Qualität des Films; Macons Unentschiedenheit zwischen dem altvetrautem Beziehungstrott mit Sarah und einem Neuanfang mit der quirligen Muriel bremsen ihn derweil fast schon ein wenig aus, wenngleich Geena Davis in einer ihrer schönsten Rollen zu bewundern ist. Dass Filme, in denen Hunde in prominenter Rolle zu sehen sind, wie in „The Accidental Tourist“ der knuffige Corgi Edward, sich häufig ohnehin einen eher umweglosen Zugang in mein Filmherz erwirtschaften, wird mancher, der diese Zeilen liest, wissen. So…

8/10

JACK REACHER

„I am not a hero. I’m a drifter with nothing to lose.“

Jack Reacher ~ USA 2012
Directed By: Christopher McQuarrie

Der wegen eines mehrfachen Attentats auf scheinbar unbescholtene Bürger verhaftete Militär-Scharfschütze James Barr (Joseph Sikora) wähnt sich als Opfer einer Verschwörung und beruft sich auf den geheimnisvollen Jack Reacher (Tom Cruise), einen mysteriösen Ex-Militärpolizisten ohne festen Wohnsitz und mit geheimnisvoller Agenda. Barrs Anwältin Helen (Rosamund Pike) ahnt, dass sie Reacher trauen kann und setzt ihn trotz anfänglichen Widerstands als leitenden Ermittler für Barrs Belange ein. Reacher, der schon einmal mit Barr zu tun hatte und ihn bereits wegen eines früheren Amoklaufs im Irak belangen wollte, muss bald erkennen, dass der nach einem Angriff mittlerweile im Koma liegende Barr diesmal tatsächlich unschuldig ist und als Sündenbock für eine Drittpartei im Dunkel fungieren soll. Reacher stößt bis zu einer einflussreichen, russischen Killerorganisation vor, die in gezieltem Auftrag gehandelt hat und der der bizarre Zec Tschelovek (Werner Herzog) vorsteht…

Die Figur des Ex-Militärcops und „Equalizer“-Nachfolgers Jack Reacher ist eine erfolgreiche und zugleich die bis dato einzige Protagonisten-Erfindung des Trivialliteraten Lee Child, die es bereits auf ganze neunzehn Romanauftritte gebracht hat und in den USA eine treue Fangemeinde für sich verbuchen kann. Die zu erwartende Film-Adaption erfolgte nach ganzen fünfzehn Jahren recht spät und bot für Tom Cruise abermals eine vortreffliche Gelegenheit, die Genre-Rampensau herausghängen zu lassen. Jack Reacher nämlich ist ein Held wie speziell für Cruises Auftrittsmechanismen geschaffen: smart, gutaussehend, souverän, gerechtigkeitsliebend und vor allem knallhart. Er ist ein Womanizer, dem die schönsten Ladys hinterherspitzen und der sich aussuchen kann, wen er mit in die Heia nimmt. Seine Nahkampffähigkeiten sind von größtmöglicher Effektivität und er ist dazu passend fair genug, seine Gegner vorzuwarnen. Er kommt und geht wie ein Geist, erfüllt dabei jedoch stets die gegenwärtige Mission zur vollsten Zufriedenheit Justitias. Die sich aus dieser starken Titelfiguren-Prämisse ergebende Unterhaltsamkeitskonsequenz verlangt nach adäquater Erfüllung und steht tatsächlich für ein brauchbares Stück Entertainment; so professionell, wie es Genre, Budget und Hauptdarsteller erwarten lassen. Dabei versucht „Jack Reacher“ glücklicherweise nicht, sich einen breiteren Anstrich zu verleihen als er ihn letztlich einlösen kann, er weiß im Gegennteil recht genau um seine Limitierungen hinsichtlich Sujet und Affektradius und gibt sich entsprechend schmal gefächert. Mit dem in mehrerlei Hinsicht überraschenden Werner Herzog als dämonisch-lauernder Ostblock-Intelligenzia im Hintergrund und dem stets gut gelaunten Robert Duvall in einer seiner typischen Altersrollen erhält der – es lässt sich par tout nicht leugnen – überaus charismatische Cruise hervorragende Flankierungen. Nett und garniert mit dem Potenzial für mögliche Fortsetzungen.

7/10

WORLD WITHOUT END

„The surface of the Earth was meant for man. He wasn’t meant to live in a hole in the ground!“

World Without End (Planet des Grauens) ~ USA 1956
Directed By: Edward Bernds

Im Zuge einer Erkundung des Mars geraten die vier Astronauten Borden (Hugh Marlowe), Galbraithe (Nelson Leigh), Ellis (Rod Taylor) und Jaffe (Christopher Dark) mit ihrer Rakete in einen Zeitstrudel, der sie rund fünf Jahrhunderte in die Zukunft katapultiert. Die Menschheit ist in dieser postatomaren Welt in zwei Lager gespalten: Draußen leben die teilweise durch Strahlung missgebildeten „Bestien“, Mutanten, deren Sprache und aggressives Gebahren sich auf atavistisches Niveau zurückentwickelt hat, und in einem unterirdischen Höhlensystem jene Sprösslinge, deren Vorfahren einst die rechtzeitige Flucht vor dem Fallout gelang. Diese Menschen sind technisch wie ethisch hochentwickelt und gegen jede Form von Kombattanz, trauen sich jedoch aus Angst vor den Bestien nicht an die Oberfläche, weshalb jede ihrer Generationen anfälliger für Krankheiten wird. Die vier Zeitreisenden beschließen, das Höhlenvolk wieder zurück an die Luft und zum Licht zu führen, entgegen den Plänen des eifersüchtigen Intriganten Mories (Booth Colman).

Na sowas! Bereits vier Jahre vor seiner Reise mit der berühmten wells’schen Zeitmaschine zu den Morlocks und Eloi wagte Rod Taylor bereits einen Trip in die etwas nähere Zukunft, und noch dazu sind die Parallelen zur herrlich viktorianisch geprägten Dystopie des großen Phantastik-Autors hierin ziemlich unübersehbar. Auch in „World Without End“ hat das Armageddon nämlich zwei humane Ableger hervorgebracht – mutierte Neandertaler und anämische Höhlenbewohner, die unter der Kampfeslust ihrer tumben Antagonisten zu leiden haben. Ob die „Bestien“ auch kannibalisch unterwegs sind, lässt sich lediglich mutmaßen, ansonsten bleiben die politischen Implikationen eines H.G. Wells in dem schön spekulativen „World Without End“ ohnehin unbeachtet. Für Bernds zählen dann doch mehr gute Laune und unbedarfte Unterhaltsamkeit, um sein postapokalyptisches Szenario an den sensationslüsternen Autokino-Zuschauer zu tragen: Bunte Riesenspinnen aus Gummi, wie sie auch einen Edward Wood begeistert hätten, wolllüstige Damen, die auf die kernigen Kerls aus der Vergangenheit angesichts ihrer gegenwärtigen, impotenten Pendants geradezu sehnsüchtig gewartet haben und ein Zukunftsbild, so einfältig wie bezwingend. Dass es am Ende mithilfe eines zwangsweise konstruierten Raketenwerfers gelingt, die hässlichen Mutanten zu verbannen und die von ihnen geknechteten, nicht entstellten Außenbewohner mit den vormaligen Tunnelmenschen zu versöhnen, gehört zum guten Ton. Dass erstere allerdings immer noch zottig und in Bärenfelle gehüllt umherschlawinern, derweil ihre „kultivierten“ Zeitgenossen sich gepflegt darüber amüsieren, kündigt bereits die Dämmerung einer neue Zweiklassengesellschaft an: Sklave bleibt eben Sklave und Malocher bleibt Malocher, daran ändern auch fünf Centennien sozialökonomischer Irrungen und Wirrungen nix.

7/10

MAD MAX: FURY ROAD

„He’s a crazy smeg who eats schlanger!“

Mad Max: Fury Road ~ AUS/USA 2015
Directed By: George Miller

Der ziellos durch die postapokalyptische Ödnis streifende Einzelgänger Max (Tom Hardy) gerät in die Fänge des größenwahnsinnigen Wüsten-Despoten Immortan Joe (Hugh Keays-Byrne), der ein ordentliches Kontigent an Frischwasser und Pflanzen kontrolliert und sich eigens einen Harem zu Fortpflanzungszwecken hält. Seine anämischen, albinösen War Boys bilden Joes Streit- und Schutzmacht. Max soll als lebender Blutspender für den War Boy Nux (Nicholas Hoult) herhalten. Joes beste Kriegerin Imperator Furiosa (Charlize Theron) plant derweil einen Ausbruch, um fünf von Joes jungen „Gebärmaschinen“ die Flucht und ein Leben jenseits der Wüste zu ermöglichen. Max gelingt, an Nux gekettet, ebenfalls die Flucht und gemeinsam fährt man dem wütenden Joe und seiner Armee davon. Furiosas Ziel erweist sich jedoch als Matschpfütze, die letzten Überlebenden des ihrer Erinnerung florierenden, Grünen Landes als altersschwache Seniorinnen. Der zunächst gefasste Plan, das andere Ende des sich anschließenden gigantischen Salzsees zu erreichen, wird über Bord geworfen: Max schlägt vor, stattdessen den Rückweg einzuschlagen und Joes Zitadelle einzunehmen. Die letzte Schlacht kann beginnen.

Lang, lang musste man warten, bis George Millers vierte Installation seines bahnbrechenden Endzeitspektakels schlussendlich doch noch das Licht der Kinoleinwand erblicken konnte. In der Planung war bereits in nicht allzu langer Folge nach „Beyond Thunderdome“ mit geflissentlichen Unterbrechungen, so glaube ich, permanent irgendetwas. Zunächst sollte jawohl noch Mel Gibson in der ihm angestammten Rolle zu sehen sein (und wie gern hätte ich ihn fürderhin auch darin gesehen), schließlich ward mit dem in den letzten Jahren klammheimlich zum Meisterschauspieler gemauserten Engländer Tom Hardy jedoch immerhin der vielleicht passendste Ersatz gefunden. Rasch mauserte sich „Fury Road“ zu everybody’s darling und jeder, dem die Gnade der frühen Betrachtung zuteil wurde, lobpries ihn bis in annähernd ätherische Sphären. Es gab faktisch keinerlei Möglichkeit, sich der grassierenden Euphorie zu entziehen, wollte man sich nicht massenmedial emeritieren. Der Rezipienten-Zweit- und Drittgeneration macht diese tendenziöse Zwangslage es nicht eben leicht; tatsächlich regt sich bald der eigentlich unangenehme, jedoch unvermeidliche Automatismus der Konterevaluation – ’so gut kann das angehimmelte Objekt doch gar nicht sein; ich werde schon die Schwächen ausfindig machen, die all die anderen in ihrer grenzenlosen Verblendung nicht sehen mochten‘.
Nun, „Mad Max: Fury Road“ erweist sich als das womöglich beste Werk, das er hätte sein mögen. Die alte, wundervolle Rasanz und vor allem die so prägnante Interaktion von Kamera und Montage sind noch immer präsent. Dafür wählt Miller nun eine innovative Farbgestaltung: die sonnendurchflutete, wolkenlose Wüste leuchtet in erdigem Orange, die Nächte sind tiefblau. Die digitale Photographie ist so hochauflösend und detailreich, dass kein Pickelchen sich mehr verbergen lässt, was die häufig mittels Close-Ups und Zooms aufgenommenen Gesichter noch unmittel- und studierbarer wirken lässt. Die Stunts und Crashes sind derweil so spektakulär wie eh und je, ich musste mich allerdings manchmal zwingen, anlässlich der bonbonfarbenen Koloratur die Filmdramturgie nicht mit einer Blechzirkus-Revue zu verwechseln – ein persönliches Problem, das mir zuweilen bereits bei „Beyond Thunderdome“ in die Quere kam. In audiovisueller Hinsicht bekommt man das Beste zur Zeit; die emotionale Transzendenz der ersten beiden Filme, die „Fury Road“ allerdings bereits in Ermangelung nostalgischer Assoziationen kaum erreichen bzw. wiederaufnehmen kann, habe ich jedoch vermisst. Dabei gibt sich Miller redlich Mühe, den enigmatischen Archetypus Max‘ auch einer jungen Generation zugänglich zu machen. Wiederkehrende Albträume und Visionen beladen ihn neuerdings mit Schuldkomplexen; die, die er nicht retten konnte, verfolgen ihn als geisterhafte Schemen. Derlei war in „Mad Max“ und „The Road Warrior“ noch unnötig. Besonders im ersten Sequel bewahrte sich Max den mysteriösen Hauch eines von der reinen Bewegung und seiner Getriebenheit abhängigen Wüsten-Leviathan, dessen Opportunismus durch persönliche Involvierung irgendwann doch noch von einem Rächer- und Retterkomplex eingeholt wird. Eigentlich ist die Figur der Furiosa in „Fury Road“ (bereits der Titel deutet ja eine charakterliche Zentrierung an) die wesentlich interessantere und mehrdimensionalere. Schon allein aufgrund ihres Geschlechts nimmt sie eine deutlich speziellere Position im Geschehen ein: sie ist Motor und zugleich Versorgungsstamm der Story, derweil sich für Max „lediglich“ eine weitere Überlebensepisode im nuclear wasteland abspielt, aus der er als Sieger hervorgeht. Dass er am Ende möglicherweise einer zweiten Aunty Entity den Thron präserviert, diesen Gedanken fand ich sehr reizvoll. Ansonsten würde ich mich freuen, wenn Max im ja bereits angekündigten (und diesmal hoffentlich keine dreißig Jahre auf sich warten lassenden) Nachfolger wieder eine prominentere Rolle bekleidet. Mit Tom Hardy hat man dafür, dessen bin ich mir nunmehr sicher, jedenfalls den richtigen Mann.

9/10

THE BEACH GIRLS

„There’ll never be another party like this one.“

The Beach Girls (Beach Girls – Strandhasen) ~ USA 1982
Directed By: Bud Townsend

Sturmfreie Bude für die attraktive, aber etwas schüchterne Sarah (Debra Blee): ihr wohlhabender Onkel Carl (Adam Roarke) hat schwer zu arbeiten und ist für ein paar Tage in der Stadt, weshalb sein großzügig eingerichtetes und gelegenes Strandhaus in Malibu leer steht. Sarahs deutlich lebenslustigere Busenfreundinnen Ginger (Val Kline) und Ducky (Jeana Keough) haben für diesen Zustand die beste Idee zur Abhilfe: Party! Zwischendurch den flotten Streuner Scott (James Daughton) aufgelesen und los geht’s. Ein paar zufällig an den Strand gespülte Säcke feinsten mexikanischen Marihuanas, das der Schmuggler Captain Jack (Paul Richards) von der Küstenwache bedrängt über Bord gehen lassen musste, versüßen die Fete und selbst der doch noch eilends herbeijettende, etwas zugeknöpfte Onkel Carl entdeckt seine späte Liebe zum Pot (und zu deutlich jüngeren Betthäschen).

„The Beach Girls“, der weithin dem Konzept der Frühachtziger-College-Komödie folgt, als ‚anarchisch‘ zu bezeichnen, wäre wohl etwas zu hoch gegriffen; dazu ist er in seiner Gesamtheit zu flach, zu schlicht und zu mies inszeniert. Immerhin bugsiert sein eigentlich obsoleten Idealen frönendes Gusto, zu dem freie Liebe, die Legalisierung von Dope, die beherzte Verballhornung uniformierter Amtsschimmel, ein unangepasster Lebensstil und beherztes Anti-Spießbürgertum zählen, den Film wenigstens einen Tritt weit neben die allzu brave Normspur. Bei alldem lässt sich dennoch nicht leugnen, dass die meisten Gags übelst angeschimmelt sind und eigentlich keinen wirklich innigen Lacher mehr evozieren können. Für die offenbar als vielversprechendst gedachten Witzchen steht dann auch ein mit heftigem Akzent parlierender Latino-Gärtner (Bert Rosario), dessen unentwegte, verzweifelte Versuche, einen Blick auf eine der zumeist unbekleidet umherhüpfenden Strandschönheiten zu erhaschen, durch pausenlose Missgeschicke wie das Herunterfallen von Treppen bestraft wird. Später liefert der Gute sich dann noch ein Schlammcatch-Duell mit George Cheung, an dessen einprägsame Visage sich wohl nahezu jeder erinnert, der irgendwann mal „Rambo: First Blood Part 2“ gesehen hat – darin spielt er nämlich den im Showdown von Rambos Explosivpfeil zerfetzten vietnamesischen Offizier. Die Nebenepisoden mit dem schwulen Küstenwachen-Captain Blye (Herbie Braha) und seiner noch obertuckigeren Crew und ihrem „Heiteitei“-Gehabe wäre auch als eher mäßig komisch einzuordnen. Die offenbar von Arne Elsholtz stammende, deutsche Vertonung bietet immerhin ein paar liebenswert zeitgenössische, rhetorische Bonmots, die ganz wunderbar aufzeigen, wie vergänglich „Jugendsprache“ ist.
Ist mit einmaliger Betrachtung erstmal hinreichend abgegolten.

4/10

THE LAST SAMURAI

„What do you want for yourself?“

The Last Samurai ~ USA/J/NZ
Directed By: Edward Zwick

Um 1870: Der Sezessions- und Indianerkriegs-Veteran Nathan Algren (Tom Cruise) ist ein ausgebranntes, daueralkoholisiertes Wrack, seit er unter General Custer und dessen Adlatus Bagley (Tony Goldwyn) an einigen Massakern gegen die indianische Zivilbevölkerung beteiligt war. Just Bagley versucht, im Auftrag des machthungrigen Politikers Omura (Masato Harada), Algren als Militärberater für die kaiserlich-japanische Armee zu gewinnen. Diese verharrt in Verteidigungsstellung gegen den in Rebellion befindlichen Samurai-Stand, der ihr kampftechnisch und strategisch völlig überlegen gegenübersteht. In Japan angekommen, gerät Algren gleich nach einem ersten Scharmützel in die Gefangenschaft des Samurai Katsumoto (Ken Watanabe). Über Monate hinweg lernt Algren die japanische Art zu leben und zu denken kennen und lieben und schlägt sich auf Katsumotos Seite. Zusammen mit seinen neuen Freunden zieht Algren in eine nahezu aussichtslose Schlacht gegen die mittlerweile mit modernen Bajonetten, Gatling-Geschützen und Haubitzen ausgerüsteten Soldaten des Kaisers Meji (Shichinosuke Nakamura). Algren überlebt das Massaker und kann Meiji, dessen treuer Diener Katsumoto einst war, schließlich davon überzeugen, dass die kulturwirtschaftliche Öffnung Japans wie sie Männer wie Omura verfolgen, zum Untergang der Nation führen würde.

Obschon ich Edward Zwicks Hang zum unverhohlenen Pathos manchmal als mehr denn grenzwertig empfinde, kann ich nicht verleugnen, dass mir zumindest seine historisch kolorierten Epen infolge ihrer erlesenen Bildpracht und ihrer ausufernden Detailfreude regelmäßig einige Freude bereiten. „The Last Samurai“, der ein relatives Maß an Ausgewogenheit hinsichtlich Zwicks stets übergut geölten Kitschradwerks vorweisen kann, ist vermutlich sein bisher schönster Film. Natürlich ist die Geschichte um den ungehobelten, ausgebrannten Okzidentalen, der im Land der aufgehenden Sonne seine Liebe zum Leben wiederentdeckt, alles andere als innovativ, bleibt bezüglich ihrer historischen Akkuratesse überaus schwammig und erinnert nicht zuletzt an etliche Vorbilder, deren Aufzählung an dieser Stelle müßig wäre. Durch seine wirklich leidenschaftliche Herangehensweise an jenen Kulturclash, den Zwick mittels der ihm eigenen Naivität auflöst und der im Grunde auch inter-amerikanisch und als Indianerwestern funktioniert hätte, kann der Regisseur sich zumindest von den teils doch allzu grob vorgetragenen Klischeenäpfchen der Vergangenheit emanzipieren. Der Hauptgrund dafür ist offensichtlich: Die vordringlichen Sympathieträger des Films stehen nämlich auf japanischer Seite, allen voran der großartig aufspielende Ken Watanabe und die bezaubernde Koyuki. Der hier vergleichsweise zurückhaltend agierende Tom Cruise könnte dennoch kaum repräsentativer für das laute, stinkende, vulgäre Nordamerika (nicht nur) des späten 19. Jahrhunderts stehen: Erst das andere Ende der Welt ist für ihn ausreichend, um Leib und Seele von Grundauf zu reinigen und ihn neuen Lebensmut schöpfen zu lassen. Dass ausgerechnet Cruise, der Watanabe – zumindest aus dem Blickwinkel der Zuschauerperspektive besehen – niemals den Rang abläuft, am Ende als Erretter der altehrwürdigen japanischen Kultur antreten und den Tennō davon überzeugen muss, der von seinem Beraterkabinett angestrebten, drohenden „Verwestifizierung“ des altehrwürdigen Kaiserreiches entgegenzusteuern, gerät indes wieder so altbacken und reaktionär wie nur was – der damit einergehende Unterton spricht nämlich die undeutliche Sprache von käsigem Altimperialismus und ranzigem Weltpolizeigebahren. Unter wohlwollender Ignoranz dieser geradezu unflätigen dramaturgischen Redundanz (man hätte Algren, wie es der von Timothy Spall gesprochene Off-Kommentar wahlweise anbietet, auch einfach sterben lassen können) bleibt „The Last Samurai“ ein hervorragend ausgestatteter und somit ordentlicher Film mit wenigen wirklich überragenden Momenten.

7/10

INHERENT VICE

„Motto panukeiku!“

Inherent Vice ~ USA 2014
Directed By: Paul Thomas Anderson

Gordita Beach, 1970: Der Privatschnüffler Doc Sportello (Joaquin Phoenix), der seine Spliffs in Kettenformation inhaliert, trauert seiner verflossenen Liebe Shasta (Katharine Waterston) nach. Diese hat Doc für den Baulöwen Wolfmann (Eric Roberts) verlassen, der selbst seine Liebe zu halluzinogenen Substanzen entdeckt hat und, wie Shasta Doc eröffnet, von seiner Gattin Sloane (Serena Scott Thomas) in eine psychiatrische Anstalt abgeschoben werden soll. Kurz darauf sind Wolfmann und Shasta wie vom Erdboden verschluckt. Fast zeitgleich trudeln noch mehrere Aufträge für Doc ein, die seltsamerweise alle bei Wolfmann und einer als zahnärztliche Zunft veräußerten Drogenmafia namens „Golden Fang“ zusammenzulaufen scheinen. Immer wieder kreuzen sich Docs Wege mit denen von Detective Bigfoot Bjornsen (Josh Brolin), der mit seinen Ermittlungen stets zwei Schritte hinter Doc her tapert. Als Doc unheilige Verbindungen zwischen Golden Fang und dem LAPD offenlegt, soll er selbst aus dem Weg geräumt werden, kann sich dank seiner hart erarbeiteten Toleranz bezüglich diverser Rauschmittel jedoch rechtzeitig befreien. Zudem weiß er die ihm hinterrücks untergeschobenen 20 Kilogramm Heroin strategisch einzusetzen: Mithilfe der Drogen erkauft er die Freiheit des Ex-Junkies und Polizeispitzels Coy Harlingen (Owen Wilson), der damit zu seiner Familie zurückkehren kann. Die Beziehung zu der unbeschadet wieder aufgetauchten Shasta bleibt vage.

Diese erste Hollywood-Adpation eines Romans von Thomas Pynchon (von dem ich zu meiner größten Schande noch immer nichts gelesen habe) nimmt sich, wie man es von den jüngeren Arbeiten P.T. Andersons gewohnt ist, zunächst verhältnismäßig unsubordiniert aus. Gut, die mit dem Kriminalfilm liebäugelnden Drogengrotesken der neunziger Jahre und demzufolge auch das um New Hollywood aufflackernde Faible für verschwurbelte hard boiled stories offerieren einen nicht zu übersehenden Inspirationspool für „Inherent Vice“. Dennoch bleibt Andersons Film mitsamt erhobenem Mittelfinger anders und eigen. Die Geschichte um Doc Sportello gibt sich vorsätzlich unübersichtlich aufgebaut und in ihrer diverse Rauchfragezeichen aufsteigen lassenden Inhärenz (da haben wir sie) beinahe schon eine Chandler-Parodie. Zumindest den breiten Anstrich der Groteske kann und will „Inherent Vice“ nicht verhehlen, wie sein von dem mit den Jahren immer besser werdenden Joaquin Phoenix gespielter Protagonist bereits verspricht. Wo sich die Markanz und Exaltiertheit etwa eines Philip Marlowe in dessen eiserner Coolness konzentrieren sowie in seiner Fähigkeit, den allermeisten Situationen völlig souverän zu begegnen, ist Doc Sportello eher ein unfälliger Privatschnüffler, der seinen Job wohl primär deshalb ausübt, weil die Arbeitszeiten unregelmäßig sind und es fürderhin der einzige ist, der es ihm gestattet, rund um die Uhr und ungestraft Pot zu rauchen. Dennoch behält Doc, sein Berufsstand verpflichtet nämlich zumindest intrakulturell, den Überblick und schafft es schließlich, alle losen Enden zusammenzuführen und sogar halbwegs geschickt zu verknoten. Immerhin müssen ihm Mafia und Polizei zugestehen, dass er gefährlicher ist, als sein schlurriges Auftreten ihn zunächst veräußern mag. So verspricht „Inherent Vice“, ohne das permanente Gekiffe seiner Vorzeigefigur je pubertär zu überhöhen, vor allem gelebte Lässigkeit. Er hinterlässt nie den Eindruck, sich bei irgendwem anbiedern zu wollen und erwirtschaftet sich gerade durch seine katatonische Trockenheit und seine gepflegte Rotznäsigkeit Sympathiepunkte. Somit Andersons flächigster Film seit dem großmächtigen „Punch Drunk Love“.

8/10

RANSOM

„I’ll have your head on a fucking pike!“

Ransom (Kopfgeld) ~ USA 1996
Directed By: Ron Howard

Der Airline-Chef Tom Mullen (Mel Gibson) ist in den Massenmedien als pr-bewusster Selfmade-Millionär kein Unbekannter. Jedoch gereichen ihm die jüngsten Schlagzeilen um seine Person weniger zum Vorteil: er soll den Gewerkschaftsvertreter Jackie Brown (Dan Hedaya) geschmiert haben, um einen drohenden Streik abzuwenden. Mitten in diese Krise hinein platzt dann auch noch die Entführung von Toms kleinem Sohn Sean (Brawley Nolte), hinter der der neurotische Cop Shaker (Gary Sinise) nebst vier Verbündeten (Lili Taylor, Liev Schreiber, Donnie Wahlberg, Evan Handler) steckt. Mullen schaltet das FBI ein, doch auch der engagierte Agent Hawkins (Delroy Lindo) kann mit Ausnahme steter Beschwichtigungen wenig für ihn und seine nicht minder besorgte Frau Kate (Rene Russo) tun. Der Versuch einer ersten Geldübergabe scheitert und Tom kann sich des immer stärker werdenden Gefühls, dass Sean ohnehin ermordert werden wird, nicht erwehren. Verzweifelt dreht er den Spieß um und setzt die von den Kidnappern verlangte Lösegeldsumme öffentlich als Kopfgeld für die Bande aus.

Ron Howards Remake eines exakt 40 Jahre älteren Thrillers mit Glenn Ford kommt nur selten über das eher fade Prädikat ‚routiniert‘ hinaus. Zwar leistet sich „Ransom“ alles in allem keine eminenten Fehler, er leidet jedoch unter anderen Kinderkrankheiten, die eine wirklich tiefgehende Beziehung zu ihm unmöglich machen. Daran trägt allerdings weniger Howards emsige Inszenierung Schuld; der Regisseur macht weithin das Beste aus den ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen, verpasst nur selten einen sich nähernden Spannungsbogen und schlägt sich daher mit wenigen Schnitzern wacker. Die Einbußen liegen anderswo. Da wären zunächst Mel Gibson und Rene Russo als reiches Ehepaar. Die Leute haben Geld, sogar sehr viel, und der mit Vorliebe gegen die Hochfinanz wetternde Jimmy Shaker als eine Art fehlgeleiteter Arbeiterheld somit eine deutlich sympathischere, berechtigtere Agenda als die nicht immer moralgetreu mit ihren Milliönchen jonglierenden Mullens. Dieser Turnus im Bereich der Charakterzeichnung durchaus interessant, wird jedoch vom Script leider überhaupt nicht weiterverfolgt. Inhärent bleiben die Mullens trotz der fragwürdigen (aber natürlich erfolgreichen) Strategie des Vaters, die Kidnapper mit seiner Lösegeldanpreisung zu entzweien und gegeneinander aufzuhetzen, stets Sympathieträger, derweil Shaker als eifersüchtiger, sadistischer und geldgieriger Bösewicht über klischierte Stereotypen nie hinausragt. Gibson, das weiß man, kann vor der Kamera ganz phantastisch leiden und eine Menge an Weltschmerz in seine Mimik einfließen lassen. Auch Howard war dieses Talent seines Hauptdarstellers ganz offensichtlich bekannt und so lässt er ihn gleich mehrfach taumeln und schließlich zur Gänze zusammenbrechen, bevor er sich dann im (unvermittelt heftigen) Showdown endlich Mann gegen Mann beweisen kann. Tom Mullen ist phasenweise gar nicht mal weit sonderlich entfernt von Max Rockatansky, Martin Riggs und William Wallace, nur dass er über eine deutlich dickere Geldbörse verfügt als seine Kinoahnen und Kampfesbrüder im Geiste. Rene Russo in der Rolle der Blanko-Ehefrau fungiert derweil einzig als moralisches Rückgrat für ihren Gatten, unterschreibt letzten Endes aber sowieso alles, was er ihr anträgt. Wirklich herausragend sind derweil Gary Sinise und die sowieso immer tolle Lili Taylor, die „Ransom“ wirklich etwas zu geben haben, nämlich Mehrdimensionalität und darstellerische Facetten.

6/10

I MELT WITH YOU

„So, this is a reunion, huh?“

I Melt With You ~ USA 2011
Directed By: Mark Pellington

Wie jedes Jahr treffen sich auch in diesem Frühling die vier College-Freunde Richard (Thomas Jane), Ron (Jeremy Piven), Jonathan (Rob Lowe) und Tim (Christian McKay) zu einem einwöchigen Gelage, wie jedes Jahr organisiert Richard die ganze Sache. Diesmal hat man eine mondäne Strandvilla bei Monterey gemietet, Alkohol und Drogen sind in rauen Mengen vorhanden. Doch in diesem Jahr ist etwas anders als sonst: Alle vier Männer sind 44 geworden und alle vier erkennen mehr oder weniger freimütig, dass ihre jeweilige Position im Establishment von Lug und Betrug, Versagen und Misserfolg geprägt ist. Da erinnert sie der stille, sensible Tim mittels eines verzweifelten Akts an einen vor 25 Jahren geschlossenen Pakt, der nunmehr seiner termingerechten Erfüllung harrt…

„The Big Chill“, unversöhnlich und in finsterste Melancholie getaucht. Man stelle sich vor, in Kasdans Film wäre der freiwillig aus dem Leben getretene Alex nur der Erste gewesen, der seine frühere Clique an ein lang zurückliegendes Versprechen erinnert hätte und die anderen wären ihm nachgefolgt. „The Big Chill“ wäre womöglich verdammt und gehasst worden, hätte er überhaupt jemals das Licht der Welt erblickt. Rund dreißig Jahre später nun, die Generation der damaligen Kinder steht vor derselben Zerreißprobe, sehen Film und Welt anders aus. Zwar hat eine gewisse Entpolitisierung stattgefunden, das Gefühl der Freiheit jedoch ist noch präsent und Zynismus und Fatalismus haben deutlich an Einfluss hinzugewonnen. Sogar ein vordringlicher Repräsentant des damaligen Brat Pack (Lowe) gesellt sich zu der Suicide-Pact-Gang hinzu, vielleicht ist er sogar derjenige, den es von alle am Schlimmsten erwischt hat.
Richard ist High-School-Lehrer im Fach Englisch und Literatur, der seine früheren Ambitionen, selbst erfolgreicher Autor zu werden, längst der Berufsroutine und dem unentwegten Desinteresse seiner Schülerschaft geopfert hat. Die Partnerin fürs Leben hat er nie gefunden. Ron hat Familie, ist Börsenmakler, hat jedoch etliche seiner Kunden übervorteilt und abgezockt und steht just vor der Entdeckung. Jonathan ist Internist, seine Haupttätigkeit besteht nurmehr jedoch darin, seinen Schickimicki-Patienten Rezepte für legale, harte Drogen auszustellen. Ferner hat er die Scheidung hinter sich und sein Sohn nennt jetzt seinen Stiefvater ‚Dad‘. Tim, ein Künstler, der just seinen Geburtstag feiert, hat vor fünf Jahren seinen Lebensgefährten und seine Schwester durch einen Autounfall verloren und ist darüber nie hinweggekommen. Das jährliche Zusammentreffen soll sie alle zumindest vorübergehend aus und vor dem grauen Alltag retten, doch ihre vor die Wand gefahrenen Existenzen, ihre Mittlebenskrisen, ihr zertrümmertes Gewissen und die daraus resultierende Erkenntnisse sind stärker als alle Drogen und jeder Rausch. Als Tim sich in sein damaliges „Studenten-Ich“ verwandelt, den Bart abrasiert, in einen Anzug schlüpft und sich im Bad erhängt, bleibt den anderen ebenfalls keine Alternative als die finale Konsequenz: Ron lässt sich von Richard mit einem Kissen ersticken, Jonathan setzt sich den Goldenen Schuss und Richard schließlich stürzt sich, in Gegenwart der besorgten Polizistin Boyde (Carla Gugino), von der Leuchtturmklippe.
In „I Melt With You“, benannt nach einem nachgerade wunderbaren Song der britischen Wave-Band Modern English und repräsentativ für die nach wie vor kompromisslos exerzierte Interaktion einer bröckelnden Männerfreundschaft (einer der stärksten zwischenmenschlichen Bindungen), spielt die Musik eine vordringliche Rolle. Der Soundtrack des Lebens des Protagonistenquartetts, für dessen Kompilierung und Einsatz offenbar vornehmlich der ausgebrannte Richard Pate steht, rekrutiert sich aus Bands wie den Sex Pistols, The Clash, U2, Pixies, Stone Roses, den Specials oder Bauhaus – Namen, die für sich sprechen und besonders in ihrer Kombination bereits ein ganzes Lebensgefühl abzudecken vermögen. Der letzte Film, in dem die Songauswahl nicht nur einen solch umfassenden Stellenwert besaß, sondern der mich bereits allein aufgrund des musikalischen Einsatzes auch vollstens für sich einzunehmen vermochte, war „Grosse Pointe Blank“, in dem zufälligerweise auch Jeremy Piven dabei ist. Auch darin geht es um eine Konfrontation mit der Vergangenheit, dem, was mal war und was im Laufe der Jahre daraus geworden ist. Die mitunter gefährliche Begegnung mit dem energetischen, vor Kraft und Enthusiasmus strotzenden Selbst von dereinst und die zerstörerische Erkenntnis darüber, wie es seither durch Kompromiss und Anpassung korrumpiert und vernarbt ist, löste auch George Armitages Film noch in sehr versöhnlicher Weise: er beharrte darauf, dass Älterwerden, Bürgerlichkeit und Anpassung ihre Berechtigung haben, weil die Welt sich nun einmal auf diese Weise dreht. „I Melt With You“ geht stoisch den umgekehrten Weg und zählt damit zum Erschütterndsten, überraschenderweise aber auch Besten, was ich dieses Jahr für mich an Erstbetrachtungen verbuchen kann.
„I Melt With You“ wird bestimmt noch oft in meinem Player rotieren – zumindest, wenn ich die dafür benötigte Kraft fassen kann.

10/10