SWEET VIRGINIA

„Do I need to tell you what’s gonna happen if I don’t get the money?“

Sweet Virginia ~  CA/USA 2017
Directed By: Jamie M. Dagg

Der frühere Rodeo-Champ Sam Rossi (Jon Bernthal) hat sich nach einer bewegten Vergangenheit in Alaska niedergelassen und dort ein Motel mit dem wehmütigen Namen „Sweet Virginia“ eröffnet. Die ganzen Sympathien des stillen, zurückhaltenden Mannes gelten der bei ihm jobbenden Schülerin Maggie (Odessa Young) und der verheirateten Lila (Imogen Poots), mit der Sam eine heimliche Affäre pflegt. Als der etwas aufdringliche Motelgast Elwood (Christopher Abbott) sich als Auftragsmörder erweist, der zunehmend nervös auf seine Bezahlung wartet, begeben sich die Dinge Richtung Eskalation…

Etwas sarkastischer, etwas weniger melancholisch vielleicht und dies hier wäre ein typischer Coen-Film geworden, wie sie ihn vor zwanzig, dreißig Jahren hätten inszenieren mögen. Dagg lässt sich für ein Minimum an Plot ein gerütteltes Maß an kontemplativer Zeit und erwartet von seinem Publikum, dass es sich in den von ihm so gemächlich vorangetriebenen, personellen und lokalen Mikrokosmos fallen lässt.
Das Kleinstädtchen, in dem sich „Sweet Virginia“ entblättert, liegt nicht nur regional betrachtet ziemlich weitab vom Schuss; es scheint durch die umliegenden Berge symbolisch getrennt vom Rest des Landes. Ein Gewaltakt zu Beginn des Films, dem drei Männer in einem Diner zum Opfer fallen, wird fortan wuchtig als „Massaker“ bezeichnet – so etwas erlebt man hier nicht alle Tage. Fraglos wird sich bald erweisen, dass zwei trauernde Witwen (Poots, Rosemarie DeWitt) mit dem Dreifachmord unmittel- und mittelbar in Verbindung stehen; eine von ihnen ist gar die Auftraggeberin des Killers mit der viel zu kurzen Zundschnür. Interessant wird es, wenn ebenjener und der stille, zum morgendlichen Aufwachen erstmal ein Graspfeifchen rauchende Held sich kennenlernen und sich ein merkwürdiges, symbiotisches Verhältnis zwischen ihnen entspinnt. Projektionsflächen eröffnen sich, Reziprozitäten, die sich in jeweils krisengeschüttelten Biographien widerspiegeln. Wo der eine versucht, seiner Vergangenheit zu entfliehen, ist der andere nicht in der Lage, gänzlich mit ihr abzuschließen. Es braucht ihrer beider Konfrontation, um sich wechselseitige Erlösung zu verschaffen. Den Weg dorthin bereitet Dagg allerdings als recht spröde Chronik, deren Explosivität bis zur finalen Entladung ganz tief unten vor sich hin brodelt.
Jon Bernthal gefällt mir mit jedem Mal, da ich ihn sehe, etwas besser. Mit seinem kantigen Charakterkopf und der Boxernase scheint er für gebrochene Heldenfiguren geradezu prädestiniert, was ja nunmehr auch großflächig erkannt und genutzt wird. Wie seine traurigen Augen unter den von Vollbart und Krauskopf zugewuchertem Gesicht nur ganz selten mal hervorblitzen, das ist nichts Geringeres denn minimalistische Schauspielkunst auf dem Höhepunkt.

8/10

BRAWL IN CELL BLOCK 99

„Prison will give me plenty ´o time on guys that I don’t like.“

Brawl In Cell Block 99 ~ USA 2017
Directed By: S. Craig Zahler

Um die Ehe mit seiner frustrierten Gattin Lauren (Jennifer Carpenter) zu retten, lässt sich der faustmächtige Bradley Thomas (Vince Vaughn) auf die Lohnliste des Dealers Gil (Marc Blucas) setzen. Das Arrangement geht eine Zeitlang gut, bis eine Transaktion zwischen Gil und dem undurchsichtigen Eleazar (Dion Mucciacito) im Hafen gründlich schief läuft und Thomas in der Folge einwandert. Im Knast wird er flugs erpresst – von Eleazar, der die schwangere Lauren entführt hat und droht, beide zu töten, wenn Thomas nicht dafür sorgt, in das Hochsicherheitsgefängnis Redleaf verlegt zu werden, um dort einen Insassen namens Christopher Bridge zu ermorden. Dafür muss Thomas wiederum zunächst in das Kellergeschoss von Redleaf, Cell Block 99, gelangen. Über Umwege dort angekommen stellt Thomas fest, dass man ihn schwer gelinkt hat.

Nach dem Kannibalenwestern „Bone Tomahawk“ erweist sich S. Craig Zahler neuerlich als das, was ich gern als „Referentialregisseur“ bezeichnen möchte und setzt sich damit endgültig in direkte Genealogie zum mittlerweile etwas abgekochten Schaffen eines Quentin Tarantino. Die (Re-)Aktivierung arrivierter Altstars, die Bedienung klassischer Genresujets und die unablässige Liebäugelei mit Sleaze und Exploitation sprechen Bände. Der Terminus „Neo-Grindhouse“ war jüngst des Öfteren zu lesen.
Freilich gibt es jedoch auch eindeutige Differenzen, respektive Eigenheiten, die Zahler in diversen Nuancen vom großen Vorbild abheben. Zunächst ist er sehr viel mehr Freund von visueller Kommunikation denn von unablässig stattfindendem Dialog, was seine rein filmische Sprache um Einiges bestimmender und genuiner erscheinen lässt. Dann erweist sich Zahler als wesentlich aufrichtiger, was seinen Einsatz von visuellen Bräsigkeiten anbelangt – für den Mainstream, mit dem Tarantino insgeheim ja spätestens seit seinem zweiten Film liebäugelt, sind Zahlers Filme schlicht zu deftig und zu underground-angebunden. Damit ist er jedoch gewissermaßen auch ehrlicher zu seinen kreativen Wurzeln, die nicht nur im amerikanischen Drive-In-Kino liegen, sondern auch bei den europäischen Exporteuren der Spätsiebziger und Frühachtziger, jenen revisionistisch anerkannten Filmemachern also, die die Grenzen zwischen körperlicher Auflösung und Grand Guignol in blutigem Schmodder lustvoll zerfließen ließen. „Brawl In Cell Block 99“ wird über seine stattliche Laufzeit hinweg nur selten ostentativ hart, aber wenn, dann richtig und ohne Kompromissbereitschaft.
Die Idee, den staturisch ja überaus beeindruckenden Vince Vaughn in die Ahnenreihe der neuen Selbstjustiz-Superhelden zu setzen, die durch fast nichts aufzuhalten sind und ihre Gegner ebenso fachgerecht wie mit stoischer Miene in überwältigender Zahl ins Jenseits schicken, erweist sich bereits in den ersten Minuten des Films als zwingend. Man ist mit der früh angesetzten Szene, in der er seine Wut über den Betrug seiner Frau an ihrem Auto auslässt, gar geneigt, zu fragen, warum Vaughn überhaupt so lange im Comedy-Fach verweilte, wo ja eine ähnlich sublime Aggressivität in ihm zu schlummern scheint wie in seiner Filmfigur.
Einen ausgesprochenen Originalitätspreis wird man „Brawl In Cell Block 99“ nun nicht zugestehen können, dafür assimiliert er sich dann doch zu sehr und zu willfährig an gängige Strukturen und Schemata. Aber er ist ein knackiges, vitales Stück Kino, das fesselt und Spaß macht, wenn man sich zumindest eine kleine Affinität zu stürmisch aufbrausenden Gewaltfantasien mit gepflegtem Horrortouch bewahrt hat.

8/10

THE CRUCIFIXION

„Remember: You’re weak because you have no faith!“

The Cucifixion ~ USA/UK/RO 2017
Directed By Xavier Gens

Die Jungjournalistin Nicole Rawlins (Sophie Cookson), die einst ihre Mutter durch eine schwere Krankheit verloren und daran bis heute zu knabbern hat, überredet ihren Onkel und Chefredakteur (Jeff Rawle), sie für eine spektakuläre Story nach Rumänien zu schicken. Dort soll der Provinzgeistliche Dimitru (Catalin Babliuc) einen Exorzismus an der Nonne Adelina (Ada Lupu) durchgeführt haben, woraufhin diese verstarb. Dimitru ist nun des Mordes angeklagt, bleibt jedoch felsenfest bei seiner Version der Geschichte, derzufolge der Dämon Schwester Adelina auf dem Gewissen hat. Nach einigen höchst seltsamen Vorgängen muss die Erzatheistin Nicole schon bald ihre Ansichten zur Spiritualität überdenken und findet in dem jungen Vater Anton (Cornelio Ulici) einen treuen Freund für ihre folgende Mission.

Dafür, dass Xavier Gens ein solch spärlicher Regiearbeiter ist, lässt seine Zielsicherheit im Hinblick auf die Auswahl der zu bearbeitenden Stoffe doch geflissentlich zu wünschen übrig. Mit Ausnahme seiner denkwürdige Hillbilly-Blutoper „Frontière(s)“ blieb und bleibt da vergleichsweise wenig im Filmgedächtnis haften; ein Schicksal, das auch dem zumindest inhaltlich furchtbar unoriginellen „The Crucifixion“ bald ereilen wird. Die Story heftet sich, natürlich unter Berufung auf einen authentischen Fall, der sich 2005 im ruralen Rumänien ereignet hat und bei dem ein Priester und vier Nonnen, die eine junge Schwester trotz fachärztlicher Schizophrenie-Diagnose einer Teufelaustreibung unterzogen hatten, wegen Mordes angeklagt und verurteilt wurden. Eine spätere Untersuchung ergab, dass das Opfer nicht infolge der indizierten, körperlichen Misshandlungen durch die Geistlichen, sondern durch eine Überdosis Adrenalin im sie abtransportierenden Krankenwagen verstorben war. Erst durch die nachträgliche Beschäftigung mit dem Thema habe ich erfahen, dass sich der rumänische Filmemacher Cristian Mungiu bereits vor einigen Jahren jener Ereignisse in Spielfilmform angenommen hat – schätzungsweise um Einiges seriöser und sehenswerter, was ich in Bälde überprüfen werde.
Dass das relativ eingeschränkte Exorzismus-Subgenre im Horrorfach noch immer um neue Beiträge ergänzt wird, sollte eigentlich bereits als immanente Warnung hinreichen; in diesem Falle lockte mich jedoch der Name des Regisseurs in zugegeben etwas blauäugiger Erwartung etwas besserer Lieferung. Immerhin lässt sich Gens zugeben, dass seine sehr traditionspflegende Inszenierung noch das mit einigem Abstand Beste an „The Crucifixion“ ist. Bildfluss und Montage bleiben fließend und dabei angemessen zurückhaltend, auf wilde Found-footage-Orgien verzichtet Gens dankenswerterweise komplett, wenn ihn auch drei, vier jump scares haben schwach werden lassen. Aber okay. Ich musste bei den Besuchen der Heldin in der rumänischen Provinz zudem häufig an den zauberhaften „Howling II“ denken, in dem bereits die sich doch stark hintergebirgig ausnehmende Landbevölkerung mit ihren überalterten Folkloreritualen wesentlich furchteinflößender ausnimmt als der übernatürliche content des Ganzen. So gibt es auch in „The Crucifixion“ ein volkstümliches Maskenfest, das in seiner diffusen Unheimeligkeit um Einiges gruseliger daherkommt als das effektlastige Finale mit seiner ziemlich stupiden Befürwortung christlicher Treue und Glaubensstärke. Überhaupt mag ich es nicht leiden, wenn fiktive Stoffe versuchen, ihre Protagonisten und somit gewissermaßen auch ihre Rezipientenschaft zielgerichtet zu oktroyieren. Dass „The Crucifixion“ jedoch just in diese Kerbe schlägt, kostet ihn – bedauerlicherweise – eine Masse an Sympathiepunkten.

5/10

AMERICAN HISTORY X

„Has anything you’ve done made your life better?“

American History X ~ USA 1998
Directed By: Tony Kaye

Nazi-Skin Derek Vinyard (Edward Norton) genießt eine massive Reputation in der „Szene“. Diese wächst nochmals tüchtig an, als er einen farbigen Einbrecher auf offener Straße erschießt und noch einen weiteren per Bordsteinbiss hinrichtet, um daraufhin drei Jahre wegen Totschlags in Chino abzusitzen. Besonders sein heimlicher Mentor Cameron Alexander (Stacy Keach), ein Vertreiber von Nazi-Musik und -Memorabilia schätzt ihn ebenso als intelligenten, eloquenten Vertreter rassistischer Ideologien und Hassbotschaften wie als gewaltbereite rechte Hand. Doch die drei Jahre Gefängnis machen aus Derek einen anderen Menschen: Das große Swastika-Tattoo auf der linken Brust ist zwar noch da, doch die Haare sind länger, das Auftreten deutlich milder, gefasster und ruhiger. Derek musste am eigenen Leibe erfahren, wie weit her es ist mit der Aufrichtigkeit der weißen Rasse; wie diese sich im Knast willfährig weiter kriminalisiert, dealt, vergewaltigt. Dereks dringendstens Ziel ist es nun, seinen zu ihm aufsehenden, jüngeren Bruder Danny (Edward Furlong) aus Alexanders Fängen zu befreien. Doch Danny hat sich andernorts bereits Todfeinde gemacht…

Unter all den jüngeren, sich (nicht nur) mit der Parallelkultur der (amerikanischen) Neonazis und rechtsextremen Skinheads befassenden Filmen genießt „American History X“ fraglos die größtflächige Beliebtheit. Die Userschaft der imdb sorgt dafür, dass er konstant unter den fünfzig renommiertesten Filmen verweilt und immer wieder ist er in Kanonisierungen zu finden, die sich mit Coming-of-Age-, Subkultur- oder ganz allgemein transgressivem Kino befassen. Dabei hatte Regisseur Tony Kaye schon während der Postproduktion die Schnauze gestrichen voll von „seinem“ Film und pausierte hernach erstmal neun Jahre, bevor er ein neues Kinoprojekt in Angriff nahm. Woher der Groll? Nachdem die Produktionsfirma New Line Kayes ursprüngliche Schnittfassung ablehnte, erstellte er eine extrem verkürzte Version, die wiederum schließlich von Hauptdarsteller Norton in ihre nunmehr bekannte Form gebracht wurde. Kaye lehnte und lehnt diese vehement ab, durfte nach Auflagen der DGA seinen Namen jedoch weder zurückzuziehen noch unkenntlich machen. Ob der von Kaye im Nachhinein veranstaltete Affenzirkus das ganze Drama um den Film in irgendeine positivere Richtung lenkte, darf bezweifelt werden. Dass er persönlich mit dem Thema noch nicht abgeschlossen hat, lässt sich einsichtsvoll an der Existenz der von ihm selbst erstellten, bisher jedoch noch nicht veröffentlichten Dokumentation „Humpty Dumpty“ festmachen.
Was bleibt unterm Strich? Der größte Verdienst von „American History X“ besteht darin, bei all dem Aufwerfen seiner komplexen Fragen keine billigen, moralinsauren Antworten zu liefern. Damit steht er am Ehesten in der Tradition von Spike Lees „Do The Right Thing“, der sich, obschon aus diametraler Perspektive heraus, zumindest ein wesentliches, finales Statement mit „American History X“ teilt: Gewalt ist keine Lösung.
„American History X“ ist kein pädagogischer und kein didaktischer Film. Er dürfte kaum dazu angetan sein, überzeugte Neonazis ad hoc zu leidenschaftlichen Aussteigern umzuerziehen, er erzählt lediglich eine – sehr tragisch und traurig verlaufende – Milieugeschichte mit einem konsequent offenen Ende. Eigentlich wäre zu erwarten, dass Derek Alexanders tumben Schlägern zum Opfer fällt und für seine Verfehlungen aus den eigenen Reihen heraus bestraft wird; stattdessen jedoch steht ein denkbar unschuldiges Opfer am Schluss – Danny, der sich bislang noch nicht offen kriminalisiert hat, wird ausgerechnet von einem afroamerikanischen Gangmitglied erschossen. Die Spirale findet kein Ende, sie dreht sich weiter, einem Perpetuum Mobile gleich, und wird dies vermutlich auch bis ans Ende aller Zeiten, weil Hass, Vorurteile und rassistisch motivierte Gewalt einer multikulturellen Gesellschaft wesentlich inhärent sind. Dieses doch sehr finstere conclusio gilt es zu schlucken, und sie erfüllt ihren Auftrag. Sie macht betroffen und schmerzt. Leider schafft es der Film bei all dieser unweigerlich ausgestellten streetwiseness nicht, gängige Klischees zu ignorieren. Nebenfiguren wie der gebildete, farbige Lehrer Bob Sweeney (Avery Brooks), der sich nebenbei als leidenschaftlicher Sozialarbeiter und bei allem Engagement zur Machtlosigkeit verdammter, sisyphosische Weltenretter hervortut, muss man ebenso in Kauf nehmen wie Elliot Gould als verprellten, jüdischstämmigen Freund der tuberkulösen und überforderten Familienmutter (Beverly D’Angelo) und wie, ganz besonders ärgerlich, Ethan Suplee als tumben, fetten Klischee-Skinhead Seth Ryan, der offenbar demonstrieren soll, in welchen sozialen Gewässern Nazi-Rattenfänger am Erfolgreichsten fischen können. Einem Typen wie Seth wäre ein Szeneausstieg nach dem Vorbild Derek Vinyards, zumindest suggeriert das der Film unweigerlich, erst gar nicht möglich. Dafür ist er letztlich zu hässlich, zu unsportlich, zu dick, zu dumm und infolge dessen zu stark fanatisiert. Aufgrund dieser Eigenschaften taugt Seth nicht zum Helden und damit auch nicht zur Identifikationsfigur und schon gar nicht zum Freidenker, anders als eben Vineyard, der im Gegenzug hinreichend „positive“ Qualitäten besitzt. An diesen Stellen erscheint „American History X“ mir nach wie vor verlogen und inkonsequent, weil er als Film, der sich genau dessen enthalten müsste, einen mehr oder weniger subtilen Persönlichkeits-, ja, Führerkult betreibt. Damit zerstört er sich nicht gleich, beschädigt sich jedoch irreparabel. Und das kann nicht im Sinne des Erfinders sein – abschließendes Lincoln-Zitat hin oder her.

7/10

PRIMAL FEAR

„If you want justice, go to a whorehouse. If you wanna get fucked, go to court.“

Primal Fear (Zwielicht) ~ USA 1996
Directed By: Gregory Hoblit

Der Chicagoer Strafverteidiger Martin Vail (Richard Gere) liebt vor allem zwei Faktoren, die sein Beruf mit sich bringt: Prominenz und Geld. Um seinen öffentlichen Putz etwas aufzumöbeln, bemüht er sich daher um eine besonders aufsehenerregendes Mandat – er will pro bono den des Mordes am lokalen Erzbischof (Stanley Anderson) verdächtigen Kirchenchorknaben Aaron Stampler (Edward Norton) vor Gericht verteidigen. Nicht nur, dass Vail bei seinen folgenden Ermittlungen bald auf einige unliebsame Nebenaktivitäten des toten Klerikers stößt, findet er heraus, dass sein Klient offenbar einer multiplen Persönlichkeitsstörung unterliegt, die zwar seine Schuld an der Bluttat beweist, ihn jedoch de facto als unverantwortlich für sein situatives Handeln dastehen lässt. Mit großem juristischen Geschick manövriert sich Vail fortan durch die Verhandlung, doch die größte Überraschung wartet noch auf ihn…

Ganz ordentliches Neunziger-Hochglanzkino, das erfolgreich mit den üblichen Ingredienzien des courtroom drama zu hantieren versteht – ein narzisstischer Anwalt, der weniger clever ist als er glaubt und sich selbst, ebenso wie sein bisheriges Berufsethos, am Ende selbst in Frage stellen muss, ein Klient, der ein doppeltes Spiel spielt und schließlich über Moral und Justiz triumphiert, gewürzt mit einem mäßig intelligenten MacGuffin, hier: einer brisanten Immobilienaffäre, die die Integrität von katholischer Kirche und Staatsanwaltschaft als höchst etablierte Stadt- und Staatsträger bis in ihre Grundfesten erschüttert. Schließlich darf noch der eingangs verteidigte Gangsterboss (Steven Bauer), der sich im Nachhinein als nützlicher Stichwortlieferant zur Offenlegung der obligatorischen Korruptionsaffäre erweist, nicht fehlen. Hoblit kann sich beruhigt auf das Engagement einer ziemlich makellosen Besetzung stützen: Richard Gere in einer buchstäblich maßgeschneiderten Rolle, der beeindruckende Debütant Edward Norton, der sich hiermit sogleich bedingungslos für kommende Großtaten empfiehlt, die stets erfreuliche Frances McDormand als gelackmeierte Psychologin und dazu zuverlässiges, wenngleich mäßig farbenfrohes Personal Marke Laura Linney, Alfre Woodward, John Mahoney.
Das ergibt in der Summe ein schniekes, kantenloses Unterhaltungsprodukt von einiger handwerklicher Professionalität und ohne allzu großen Nachhall, das sich auf seinen modischen twist stützt, als erfinde dieser das geschnittene Brot neu.
Nun bewegen sich allerdings weder Hoblit noch seine Autoren auf derselben erlauchten Ebene wie, sagen wir, Hitchcock, Wilder, Preminger oder Lumet, was „Primal Fear“ am Ende zwar vollkommen okay dastehen lässt, aber eben auch nicht sehr viel besser als das.

6/10

BLOODY MAMA

„We’re gonna take what’s ours!“

Bloody Mama ~ USA 1970
Directed By: Roger Corman

Während der Depressionszeit entwickelt sich die „Barker-Gang“, bestehend aus Kate „Ma“ Barker (Shelley Winters), ihren vier Söhnen Herman (Don Stroud), Lloyd (Robert De Niro), Fred (Robert Walden), Arthur (Clint Kimbrough) und Freds Freund Kevin Dirkman (Bruce Dern), zu den berüchtigsten Gangstern im Südwesten des Landes. Nach Jahren der Flucht mitsamt etlichen Raubüberfällen und einer spektakulären Kidnapping-Aktion um den millionenschweren Unternehmer Pendlebury (Pat Hingle), gelingt es dem FBI, die Bande in Florida zu stellen und unschädlich zu machen.

Roger Cormans in den Spätsechzigern und Frühsiebzigern entstandene Regiearbeiten werden vermutlich nur deshalb beständig von New-Hollywood-Kanonisten übergangen, weil Corman bis heute mit dem stets augenzwinkernd konnotierten Image des unermüdlich umtriebigen Billigproduzenten, der sich für kein noch so albernes Projekt zu schade ist, anhaftet. Dabei sollte Cormans künstlerische Integrität bei etwas eingehenderer Beleuchtung vor allem seines späteren Werks als Regisseur außer Frage stehen. Zudem bilden Filme über Gangster in der Depressions- und Prohibitionsära ein eminentes Segment jener künstlerischen Phase und eines der wenigen letzten, von der Strömung weiterhin regelmäßig bedienten, klassischen Genres, das nicht zuletzt durch Arthur Penns „Bonnie & Clyde“ zugleich einen bedeutsamen Initiationsschuss der bis heuer stilistisch nicht eindeutig umreißbaren „Bewegung“ beinhaltet. Entsprechende Beiträge folgten unter anderem von Aldrich, Altman, Milius und eben Corman sowie seinem Schüler Steve Carver.
Die authentische Kate „Ma“ Barker bildet neben den vielen anderen schillernden Kriminellen ihrer Zeit eine besondere Projektionsfläche für hauseigene Mythen und deren blumige Ausgestaltung; sie gilt als personifiziertes Matriarchat, als Albtraum selbstbestimmter, sexuell libertin(är)er Weiblichkeit in einem ansonsten ausschließlich von Männern dominierten Milieu. Corman trägt dieser Legendenbildung willfährig Rechnung und macht sie sich zunutze, indem er trotz eingangs formulierter Ähnlichkeitsbeteuerung wenig Notiz von den historischen Fakten nimmt und sein eigenes Süppchen um Kate Barker und ihre Söhne anrührt. „Bloody Mama“ entwickelt sich gleich von der ersten Einstellung an zu einem Festival der Abseitigkeiten, des anti-bourgeoisen, akzeptanznegierten Lebensstils. Zu Beginn wird die junge Kate Barker (Lisa Linsky) einmal mehr zum Opfer einer Vergewaltigung durch Vater und Brüder, offenbar eine nicht unwichtige Motivationsgrundlage für ihre spätere Karriere. Nachdem sie und die vier Jungs ihren Ehemann und Vater (Alex Nicol), einen weinerlichen, affirmativen Schwächling, verlassen haben, beginnt ihre Tobestrecke quer durch den Mittel- und Südwesten des Landes. Zu ihren Söhnen plegt Kate ein ebenso autoritatives wie inniges Verhältnis, das auch regelmäßige inzestuöse Zuwendungen nicht ausspart. Jeder der Vier wiederum trägt derweil nochmals (s)ein ganz spezifisches Päckchen spazieren: Herman ist ein sadistischer Soziopath und Mörder, Lloyd bindungsunfähig und heroinsüchtig, Fred ein homosexueller Masochist und Arthur das bloße Anhängsel. Corman porträtiert diese komplexen Charaktere so weit als möglich wertfrei und nüchtern; selbst für Ma findet er bei aller Gewaltaffinität immer wieder Momente sehnsuchtsvoller Zärtlichkeit und Träumerei. Die Kamera entfesselt sich immer wieder und vollführt radikale Schwenks nebst dazu passender Montage; auch hier macht sich eine Emanzipation von der Konvention bemerkbar.
„Bloody Mama“ lädt zu einer unbedingt lohnenswerten Reise ein; als obligatorisches Mosaikstück einer auch nur halbwegs vollständigen Chronologie des amerikanischen Gangsterfilms scheint er mir darüber hinaus unverzichtbar.

9/10

EYES OF LAURA MARS

„If you’re not a horny creep, leave a message at the beep!“

Eyes Of Laura Mars (Die Augen der Laura Mars) ~ USA 1978
Directed By: Irvin Kershner

Noch bevor die kontrovers gefeierte New Yorker Kunstfotografin Laura Mars (Faye Dunaway) ihren neuen Fotoband veröffentlicht, beginnt ein unbekannter Killer, ihr nahe stehende Personen gleich in Reihe zu ermorden. Parallel dazu wird Laura allenthalben von Anfällen geplagt, die sie kurzzeitig durch die Augen des Wahnsinnigen sehen und somit an dessen Verbrechen und seinen fortwährenden Annäherungen an Lauras Privatsphäre teilhaben lassen. Während sie sich einer Liaison mit dem ermittelnden Detective John Neville (Tommy Lee Jones) hingibt, ziehen sich die Kreise des Täters immer enger um Laura…

Ein schönes Stück Kultur- und Zeitgeschichte ist wohl das primäre Erbe, das dieser von John Carpenter cogescriptete, amerikanische Giallo hinterlässt. Irvin Kershner, in späten Jahren vor allem Spezialist für Sequels und Franchise-Beiträge, gewährt ein paar hübsch stilisierte Einblicke in die hedonistische New Yorker Bohéme der ausgehenden siebziger Jahre, indem er seine Titelprotagonistin bei ihren oftmals bizarr arrangierten Photo-Shootings begleitet, die sich aus einer aufreizenden Mischung aus Erotik- und Gewaltelementen speisen und stets von ohrenbetäubend dargebotenen, zeitgenössischen Disco-Tracks von KC & The Sunshine Band oder Michael Zager begleitet werden, dadurch wie Videoclips wirken und einen nicht unwesentlichen Teil der Erzählzeit nehmen. Die hier und da zu sehenden, tatsächlichen Photos stammen von Helmut Newton. Wie von den italienischen Vorbildern gewohnt, erweist sich der Kriminalplot bald als nebensächlicher Aufhänger für ein sehr viel mehr vom porträtierten Milieu fasziniertes Kunstwerk, dessen schlussendliche Auflösung ebenso willkürlich wie unbeeindruckend, gar nebensächlich erscheint. „Eyes Of Laura Mars“ bekleidet insofern eines der wenigen Beispiele für „reziproke Inspiration“ – wo normalerweise die Italiener die Ideen für ihr Genrekino von erfolgreichen Hollywood-Produktionen abschöpfen, geht es hier umgekehrt zu; nicht etwa die hier und da mühselig aufgebaut wirkenden Suspense-Sequenzen oder das sehr offenkundig ausgespielte Whodunit-Element verleihen „Laura Mars“ seine Faszination, sondern die bloße Sorgfalt seiner Observierungstechniken; das Eintauchen in eine dem gängigen Rezipienten verschlossene, ebenso künstlerische wie artifizielle Parallelwelt, geprägt von schönem Schein und Oberflächenreiz. Insofern bleibt der aufreizend unperfekte „Eyes Of Laura Mars“ gleichermaßen ein Paradoxon: ein durchaus schöner Film, der jedoch in seiner eigentlichen Funktion als Genrevertreter blass bleibt.

7/10