THE LOBSTER

„It’s no coincidence that the targets are shaped like single people and not couples.“

The Lobster ~ IE/UK/GR/F/NL/USA 2015
Directed By: Yorgos Lanthimos

Der etwas bieder anmutende, kurzsichtige David (Colin Farrell) wird von seiner Frau (Rosanna Hoult) wegen eines anderen verlassen. Das bedeutet, er muss unverzüglich in ein am Meer befindliches Hotel voller SchicksalgenossInnen ziehen, wo ihm wie den übrigen Gästen 45 Tage Zeit bleiben, eine neue Partnerin zu finden, die ein wesentliches Persönlichkeitsmerkmal mit ihm teilt. Gelingt dies nicht, wird David in ein Tier seiner Wahl verwandelt, einen Hummer, und nur in dieser Form der Freiheit zurücküberantwortet. Die Gäste können sich allerdings zusätzliche Aufenthaltstage erkaufen, indem sie bei unregelmäßig stattfindenden Jagden rund um das Hotel Einzelgänger fangen, die dort leben. Dafür erhält jeder Gast ein Betäubungsgewehr mit Pfeilen. Eine verbitterte, als „herzlos“ geltende Frau (Angeliki Papoulia) etwa verzichtet bereitwillig auf optionale Liebeleien und hält stattdessen den Rekord im Singlejagen. So verlängert sich ihr Aufenthalt Tag um Tag. Ausgerechnet sie kürt David zur vermeintlichen Herzdame, indem er sich ebenso gefühlsbar gibt wie sie. Doch sein Plan misslingt und David ist gezwungen, sich als Outlaw im Wald zu den Einzelgängern unter der Führung einer gehässigen Dame (Léa Seydoux) zu gesellen. Unter den Singles, die als gesellschaftliche Outlaws leben, gelten ähnlich strenge Regeln wie im Hotel: wer flirtet oder Zärtlichkeiten austauscht, wird drakonisch bestraft. Als David sich in eine ebenfalls kurzsichtige Einzelgängerin (Rachel Weisz) verliebt, steht er somit vor dem nächsten Problem…

Und weiter im Kosmos des mir immer wundersamer anmutenden Yorgos Lanthimos, nach dem herrlichen „Kynodontas“ und in (sich demnächst aufhebender) Ermangelung des zwischenzeitlich entstandenen „Alpeis“.
„The Lobster“ ist Lanthimos erster von bis dato drei anglophonen Filmen, für den ihm sogleich eine mehr denn ansehnliche, internationale Besetzung zur Seite eilte. An der irischen Ostküste gefilmt, entwirft „The Lobster“ das wiederum dystopische Bild einer unsrigen sehr stark ähnelnden Parallelwelt, die sich jedoch durch ein wesentliches Merkmal unterscheidet: Wer hier keine/n LebenspartnerIn vorweisen kann, wird auf produktive Weise entsorgt. Anders als in klassischen, zumeist ernster konnotierten SciFi-Szenarien, in denen Überalterung, Übervölkerung, emotionale Freigiebigkeit oder sonstige systemische Insubordination zumeist ohne Federlesens mit dem Tode bestraft werden, darf die oder der Unangepasste hier weiterleben, indem er künftig in freigewählter Form die Wildfauna des Planeten bereichert.
Dass sich David für den Hummer entscheidet, hat zuvorderst praktische Gründe: Hummer leben im Meer, sie besitzen blaues Blut wie Aristokraten und – überaus praktisch – eine harte Schale. Innerhalb des recht eng befristeten Zeitrahmens wen Neues zu finden, ist nicht einfach, zumal als Grundbedingung nicht nur eine besondere Gemeinsamkeit herhalten muss, sondern die neu sprießende Liebe zudem am Anfang penibel überwacht wird. So schummelt sich manche/r durch die Regularien, verharrt in determinierter Resignation oder wählt gleich den Sprung aus dem dritten Stock. Was David anbelangt, so verläuft sein weiteres Schicksal in umgekehrter Relation zu seinem gleichmütigen Charakter. Als dann nämlich doch noch die wahre Liebe zuschlägt, erweist sich auch das als Widernis gegen die mittlerweile veränderten Umstände – in der Welt von „The Lobster“ sind Aufrichtigkeit und Erwartungshaltung nur sehr selten passgenau.
Trotz seines bleiernen Dystopismus‘ und der stillen Gräulichkeit der äußeren Bedingungen transportiert Lanthimos einen bezaubernd verqueren, manchmal gar aufreizend albernen Humor, der ihn in die unmittelbare Genealogie der großen melancholischen Komödienfilmer mit Hang zu erwachsenenmärchenhaften Skurrilitäten von Woody Allen über Wes Anderson, Spike Jonze, Michel Gondry und Charlie Kaufman setzt.
Formidabel, more to follow.

9/10

KYNODONTAS

Zitat entfällt.

Kynodontas (Dogtooth) ~ GR 2009
Directed By: Yorgos Lanthimos

Irgendwo in der griechischen Provinz lebt eine Familie, bestehend aus Vater (Christos Stergioglou), Mutter (Michele Valley), einem Sohn (Hristos Passalis), einer älteren (Angeliki Papoulia) sowie einer jüngeren Tochter (Mary Tsoni). Der einzige, der das großzügige Grundstück verlässt, um arbeiten und einzukaufen, ist der Vater. Gemeinsam mit seiner Frau erzieht er die drei bereits erwachsenen Kinder nach einem völlig autarken Konzept, das durch die totale Abkapselung von der gesamten Außenwelt funktioniert. Das Resultat bildet einen pervers-idiosynkratischen, durch Lügenkonstrukte kultivierten, soziologisierten Mikrokosmos, der sich aus einer unablässigen, peniblen Pflege von Ritualen, Fleißpunktevergaben und Märchen speist. So leben die Kinder etwa im festen Glauben daran, dass man jenseits des Gartenzauns nur überlebt, wenn man ein Auto fahren kann. Dies wiederum bedingt das Nachwachsen eines zuvor ausgefallen Eckzahns (eines „Hundezahns“, wie er im wiederum spezifiziert-abgewandelten Sprachuniversum der Familie genannt wird). Auch ihr Weltwissen und die physikalischen Grundkenntnisse setzt sich aus dem zusammen, was die Eltern den Kindern beibringen: Hauskatzen sind die gefährlichsten Tiere und Menschenfresser, Flugzeuge am Himmel nur wenige Zentimeter groß und stürzt eines ab, so findet man es in Spielzeuggröße irgendwo im Garten. Der Medieneinsatz beschränkt sich auf selbstaufgenommene „Quiz-“ und Aufgabencassetten, selbstaufgenommene Videofilme und alte Schallplatten. Die Idee des Vaters, die sexuellen Bedürfnisse des Sohnes entgeltlich mithilfe von Christina (Anna Kalaitzidou), einer Sicherheitsmitarbeiterin seiner Firma zu befriedigen, führt schließlich über Umwege in die Abkapselung der älteren Tochter. Diese gerät über Christina an ein paar Videos und sieht heimlich „Rocky“ und „Jaws“. Der Anfang vom Ende.

Gewiss hat man Yorgos Lanthimos schon seit Jahren als feste Größe auf der cinephilen Weltkarte, doch ging es mir in seinem Fall wie mit vielen anderen bestimmt exzellenten Filmemachern und ihren Werken, die mir noch „fehlen“: Mit wachsender Werkzahl, analog zu den hier und da immer wieder aufblitzenden Vernehmlichkeiten in der Filterbubble, steigt der heimliche Respekt vor ihnen und bilden sich irrationale Ängste vor ihrem Schaffen.
Wenn ich an das griechische Kino denke, fallen mir spontan drei Filme ein: Michael Cacoyannis‘ „Alexis Sorbas“, Nico Mastorakis‘ „Ta Paidia Tou Diavolou“ sowie Niko Nikolaidis‘ „Singapore Sling: O Anthropos Pou Agapise Ena Ptoma“, darunter also zwei auf ihre jeweilige Art immens transgressive Werke. Zumindest „Kynodontas“, mit dem es anzufangen galt, versprach ein ebensolches zu sein. Eine korrekte Vermutung. Dennoch oder gerade deshalb – ein jeder setze sein individuelles Kreuzchen – zählt er gleich nach der (wie so oft verspätet erfolgten) Erstbetrachtung für mich ab sofort zu den innovativsten und mutigsten Filmen der letzten zwei Jahrzehnte.
Lanthimos kreierte für seinen dritten Film eine dystopische, soziologische Versuchsanordnung, bis in winzigste Details bravourös durchdacht und bestenfalls durch kleinere, unlogische Zugeständnisse angekratzt. Das Publikum schubst er ohne Vorwarnung, einerseits mit akribischer Genauigkeit und doch wie von einer dokumentarischen Gleichmut befleißigt, mitten in hinein in das Unglaubliche. In langen Einstellungen und oftmals bewegungslosen Bildrahmungen wechseln sich Groteske, schwarzer Humor und blanker Horror ab, wenn man dem hochpathologischen Alltag der drei weltentlehnten „Kinder“ hinter ihrem Gartenzaun und den entsprechenden Bemühungen des sich als unfassbarerweise immer noch geisteskranker zu werden scheinenden Vater folgt. Dessen motivische Gemengelage offenbart sich nur einmal ganz kurz, als er der „entlassenen“ Christina zur Strafe ihren VHS-Recorder über den Schädel zieht: Er wolle seine Kinder vor den Verderbnissen der Außenwelt beschützen, ihnen die obligatorische „Persönlichkeitsstörung“ (offenbar spricht er da aus eigener Erfahrung) ersparen. Der Rest ergibt sich dann durch die einmal (mittelbar ausgerechnet durch Filmklassiker) ausgelöste Dynamik des familiären Zusammenbruchs – oder wahlweise des unheimlichen „coming of age“ der ältesten Tochter, die, zusätzlich zu allen anderen lebenslangen Entbehrungen auch noch zum inzestuösen Vergewaltigungsopfer degradiert, endlich zum verzweifelten Aufbegehren schreitet. Den kathartischen Epilog überlässt Lanthimos dann seinem geradezu als aufreizend mündig deklarierten Rezipienten. Dafür kann man nurmehr „Danke“ sagen, wie für diesen ganzen, wunderbaren Film.

9/10

THE STRANGE DOOR

„I don’t know the pain of a conscience! My way’s clear!“

The Strange Door (Hinter den Mauern des Grauens) ~ USA 1951
Directed By: Joseph Pevney

Unweit von Paris bewohnt der sinistre Adlige Alain de Maletroit (Charles Laughton) ein feudales, von zahlreichen Gängen unterkellertes Schloss, gemeinsam mit seiner von ihm adoptierten Nichte Blanche (Sally Forrest) und einer ihm hündisch ergebenen Gefolgschaft von Galgenstricken, allen voran dem Opportunisten Corbeau (William Cottrell). Sein ganzes böses Leben hat Maletroit nur einem Zweck gewidmet: der Rache. Nachdem seine Zukünftige einst Alains Bruder Edmond (Paul Cavanagh) ihm vorgezogen hat – Blanche ist das Resultat jener Affäre-, schäumt Maletroit im unablässigen Drang nach Vergeltung. Blanches Mutter verstarb einst bei ihrer Geburt und der von Allen totgeglaubte Edmond fristet seit zwei Jahrzehnten ein Dasein als vermeintlich wahnsinniger Gefangener in einem geheimen Schlossverlies. Nun soll Maletroits Rache perfekt werden: Die ahnungslose Blanche wird von ihm dazu gezwungen, eine Zwangsheirat mit dem dahergelaufenen Filou Denis de Beaulieu (Richard Wyler) einzugehen, was Maletroit durch eine geschickte Intrige in die Wege leitet. Beaulieu entpuppt sich jedoch als mitnichten so boshaft, wie es Maletroit Recht wäre und entgegen all dessen Bestrebungen verliebt sich das junge Paar ineinander. Damit bricht zugleich das Ende von Maletroits Schreckensregime herein…

Der sich auf eine Kurzgeschichte von Robert Louis Stevenson berufende „The Strange Door“ fällt in eine Ära, in der das Kino weitestgehend horrorabsent war; der Zweite Weltkrieg hatte die Weltbevölkerung wahres Grauen gelehrt, die klassischen Universal-Monster hatten (mit einer Ausnahme) ihre letzten mash-ups nebst Abbott und Costello hinter sich gebracht und auch sonst tat sich in den neun Jahren zwischen 45 und 54 kaum Genrebewegendes, von den wenigen frühen SciFi-Gehversuchen, die wie etwa Hawks und Nybys „The Thing“ recht unzweideutige Horrorelemente verarbeiteten, abgesehen. Das maßstäbliche, gotische Element indes, das vor allem die Verknüpfung zwischen den Klassikern der schauerromantischen Literatur und den Horrorfilmen der zwanziger bis mittvierziger Jahre vitalisierte, fand sich recht rückstandslos eliminiert. „The Strange Door“ bildet, ebenso übrigens wie Nathan Jurans kurz darauf entstandener „The Black Castle“ diesbezüglich eine Ausnahme. So wurde etwa Boris Karloff von der Universal reaktiviert, um Edmonds leicht tumben, aber gutherzigen Adlatus Voltan zu spielen (eine Rolle, die eigentlich perfekt für Lon Chaney Jr. gewesen wäre), was ihm nach Laughton immerhin den zweiten Darstellercredit einbrachte. Die unschwer erkennbar nicht nur von Stevenson, sondern ebenso von Elementen nach Poe und Dumas durchdrungene, wildromantische Story siedelt sich entgegen der nominellen Vorlage eher im frühen 18. Jahrhundert denn zu Zeiten des Hundertjährigen Krieges an, was, ergänzend zum bitterbösen Familiendrama, kleinere Gelegenheiten zu Kostümauftragungen und Swashbuckeleien bietet. Richard Wyler spielt jenen Tunichtgut, der nicht nur ein offensichtliches Interesse für Wein und Damenröcke, sondern auch eines für Kampfkunst und Folterhistorie pflegt und somit dem einen oder anderen Hundsfott gekonnt Paroli bieten kann. Ein Errol Flynn oder Tyrone Power ist an ihm allerdings nicht verlorengegangen. Die hauptsächliche Show gehört fraglos ganz Charles Laughton, der sich mit seiner unnachahmlichen Art als feister, selbsttrunkener Bösewicht durch den gesamten Film despotiert und selbst minimalste Anflüge von emotionaler Wärme flugs im Keim erstickt. Allein Laughtons herzerfrischend boshafte Darstellung bestimmt einen Großteil der Qualität von „The Strange Door“, was die ansonsten eher unkonturierte Arbeit des routinierten Regisseurs Pevney allenthalben vergessen macht.

7/10

THE GIFT

„You just need to keep doing what you are doing.“

The Gift ~ USA 2000
Directed By: Sam Raimi

Die seit einem Jahr verwitwete, dreifache Mutter und Hellseherin Annie Wilson (Cate Blanchett) bildet für einige der einfacher gestrickten Menschen ihres Heimatnests Brixton, Georgia eine stille Institution. Viele vertrauen auf Annies kartenbasierte Weissagungen und Eingebungen, die sich in der Regel als zutreffend erweisen. Anders steht es da mit dem üblen Proleten Donnie Barksdale (Keanu Reeves), dessen ihm hörige Gattin Valerie (Hilary Swank) Annie allenthalben aufsucht, um sich von ihr wohlgemeinte Trennungsratschläge einzuholen, die sie dann am Ende doch nicht befolgt. Als Donnie davon Wind bekommt, bedroht er Annie und ihre Söhne (Lynnsee Provence, Hunter McGilvray, David Brannen) und bezichtigt sie der Hexerei. Dann verschwindet die stadtbekannte Pomeranze Jessica King (Katie Holmes), deren Leiche mit Annies Hilfe in einem Bayou hinter dem Haus der Barksdales gefunden wird. Gegen Donnie wird Mordanklage erhoben. Obgleich er seine Unschuld beteuert, sprechen alle Indizien gegen ihn und er wird verurteilt. Doch Jessicas Geist ruht noch immer nicht in Frieden…

Mit seinem 98er-Neo-Noir „A Simple Plan“ hatte sich der vormals als einschlägiger Genreauteur zu Ruhm gekommene Sam Raimi als differenzierter denn gewohnt zu Werke gehender Filmemacher empfohlen, der seine Fühler auch in andere Regionen auszustrecken vermochte. Der verschneite, kleine Thriller weckte eher Assoziationen an die Arbeiten der Coens, bekanntermaßen ja lange Karriereweggefährten Raimis. In „A Simple Plan“ spielte der gebürtig aus Arkansas stammende Billy Bob Thornton einen etwas minderbegabt wirkenden Hillbilly-Typen; eine Rolle, die gewissermaßen bereits klare Avancen an „The Gift“ vorformuliert. Dessen Scriptidee stammt wiederum von Thornton, der darin Erfahrungen um und mit seine/r Mutter verarbeitet, angeblich selbst eine Wahrsagerin. „The Gift“ taucht tief in das Südstaatenmilieu von Georgia ab, in dessen sumpfnahen Kleinstädten noch stillschweigend die alte Antebellum-Glorie geatmet und gelebt wird. Die Leute haben die jahrhundertealten Feudalstrukturen nie ganz vergessen, kennen ihren ständischen Platz, sind zumeist gottesfürchtige Kirchgänger. Die reichlich vorhandenen, familiären Missstände werden im gutnachbarschaftlichen Sinne totgeschwiegen. Gewiss wäre auch der nicht totzukriegende Rassismus ein sich dringend anbietender Topos, doch den spart „The Gift“ wohlweislich aus – tatsächlich hätten diesbezügliche Diskurse den ohnehin schon gespannten Rahmen gewiss gesprengt. Ohnedies werden bereits mehrere kleine Plotepisoden miteinander verflochten – da wären der traumatisierte Autoschrauber Buddy Cole (Giovanni Ribisi), der den sexuellen Missbrauch durch den eigenen Vater (Erik Cord) nicht verarbeiten kann; der sympathische Vertrauenslehrer Wayne Collins (Greg Kinnear), der sich um Annies verhaltensauffälligen Ältesten bemüht, den der Verlust des Vaters besonders hart trifft und der wiederum mit dem späteren Mordopfer Jessica King verlobt ist. Die sich libertin wähnende Jessica wiederum, deren Verhältnis zu ihrem Vater, dem Stadtreichen und Salonlöwen Kenneth King (Chelcie Ross), ebenfalls nicht ganz koscher erscheint, vögelt alles, was ihr vor die Plinte kommt, darunter den Staatsanwalt David Duncan (Gary Cole) und – Donnie Barksdale. Ein gerütteltes Panoptikum unseligen, mikrokosmischen Filz‘ bietet dieses Brixton somit, für die zarte, unfreiwillig im Zentrum all dessen stehende Annie und auch für den Film vielleicht ein etwas zu umfassend. So scheint die Lösung der meisten Konflikte doch immer nur angedeutet und nie wirklich befriedigend psychologisch ausgearbeitet. „The Gift“ hätte, um sich selbst ordentlich auserzählen zu können, noch eie gute Stunde länger sein mögen – so bleibt allzu viel in unbefriedigend akzentuierten Ansätzen stecken. Ob Raimi seinen Selbstansprüchen damit gerecht werden konnte, bleibt fraglich.
Als kleines Stück southern gothic nebst einer Wagenladung wohlabgehangener Klischees und einigen erstklassigen Darstellerleistungen (Ribisi und Holmes haben mir am besten gefallen) ist „The Gift“ okay, nicht wesentlich mehr. Innerhalb Raimis Gesamtœuvre wäre er qualitativ wohl im unteren Drittel anzusiedeln.
Welches Potenzial wirklich in der Paarung Blanchett/Ribisi steckt, hat uns Tom Tykwer mit „Heaven“ dann zwei Jahre später nochmal treffsicher aufzeigen können.

6/10

THE CONSTANT GARDENER

„That’s the way it is here.“

The Constant Gardener (Der ewige Gärtner) ~ UK/D/KE/F/CH/USA 2005
Directed By: Fernando Meirelles

Was genau seine noch nicht lang mit ihm verheiratete Gattin, die Aktivistin Tessa (Rachel Weisz), in ihrer Freizeit eigentlich treibt, weiß der in Nairobi tätige, englische Diplomat Justin Quayle (Ralph Fiennes) gar nicht so genau und er lässt sie machen. Er kümmert sich stattdessen lieber um seinen geliebten Garten. Der Aufenthalt des Paars in Kenia gestaltet sich weitgehend standeskonform; man verkehrt vornehmlich mit der weißen Elite oder den wenigen farbigen Kenianern, denen Bildung und Karriere vergönnt ist. Tessa verbringt viel Zeit mit dem belgischen Arzt Dr. Bluhm (Hubert Koundé), man munkelt bereits von einer Liebschaft. Nach einer gemeinsamen Reise der beiden in den Norden wird Tessas Leiche am Lake Turkana gefunden, Bluhm ist verschwunden. Quayle begreift erst jetzt, wie wenig er eigentlich wirklich über Tessa wusste und beginnt, Nachforschungen auf eigene Faust anzustellen. Mit seiner unliebsamen Neugier stößt er bald auf eine Mauer des Widerstands, die sich aus Pharmaverbänden, Lobbyisten und Korruption zusammensetzt und ihn selbst in höchste Lebensgefahr bringt.

Wenn das erstweltliche Kino sich diskursiv mit drittweltlichen Missständen auseinandersetzt, regt sich zurecht bei vielen Filmfreunden offenes Unwohlsein. Ich sehe das anders, da ich der Meinung bin, dass damit Wahrnehmungspforten aufgestoßen werden, die ansonsten möglicherweise verschlossen blieben. Die Tatsache, dass Afrika, von seinen zahllosen innerpolitischen Problemen abgesehen, noch immer unter den Folgen kolonialistischer Ausbeutung zu leiden hat und nach wie vor einen liebsamen Spielball verbrecherischer, kommerzieller Erwägungen großkapitalistischer Konzerne darstellt, kann insofern gar nicht oft genug ins mitteleuropäische Bewusstsein gehievt werden.
John le Carré, der eigener Aussage zufolge eine Verfilmung seiner Romane ehedem dezidiert erwünscht und später zumindest stets fest eingeplant hat, lieferte die Vorlage zu „The Constant Gardener“; der brasilianische Regisseur Fernando Meirelles machte dann unter der Ägide des Mike-Leigh-Hausproduzenten Simon Channing Williams vier Jahre später daraus seinen fesselnden Einstieg in die anglophone Filmindustrie. Große Namen also, veredelt noch zusätzlich durch eine entsprechende Schauspielphalanx.
„The Constant Gardener“ vermengt formvollendetes, klassisches Politthrillerambiente mit einer ebenso unkitschigen wie traurigen Liebesgeschichte, deren ganzes Ausmaß und bittere Tragik sich dem Zuschauer peu à peu in Rückblenden erschließt.
Nach dem noch recht unverbindlichen Anfang beginnen wir, gemeinsam mit dem eingangs gefassten Protagonisten Justin Quayle, einem durchweg braven und integren, aber auch naiven Vorzeigediplomaten, sowohl die aktivistischen Umtriebe seiner ermordeten Frau als auch seine aufrichtige, doch sehr viel tiefer verwurzelte Liebe zu ihr zu entdecken. Beide Bohrungen, die in der internationalen Verstrickung aus Politik und Pharmakonsortien, als auch die im eigenen Herzen führen jeweils in tödliche Sackgassen. Nicht, dass le Carré oder Meirelles, die ein brillantes Kombinat aus inhaltlicher Relevanz und exzellenter Regie vollziehen, uns am Ende mit völlig leeren Händen dastehen ließen; der unabwendbare Skandal wird pothume Kreise ziehen.
Für Tessa und Justin jedoch gibt es nurmehr das Wiedersehen im Jenseitigen – am anderen Ufer des karg umfelsten Turkanasees gewissermaßen.

8/10

BLOODLINE

„Please describe to me the feelings and sensations you experience.“

Bloodline ~ USA 2018
Directed By: Henry Jacobson

Evan Cole (Seann William Scott) ist seit Kurzem aufopferungsvoller Vater eines kleinen Sohnes und treusorgender Ehemann der sensiblen Lauren (Mariela Garriga). Seinen Lebensunterhalt verdient der stets emotionslos wirkende Evan als Sozialarbeiter in der High School. Leider kann er den von ihm betreuten Kids nicht ansatzweise die Hilfen zukommen lassen, die sie wirklich bräuchten – nur wenige offenbaren sich zur Gänze, wenn die auf eine Schulstunde begrenzte Sitzungszeit überhaupt dafür reicht.
Doch auch in Evan selbst schlummern unwägbare Untiefen. Sein gewalttätiger Vater (Matthew Bellows) hat ihn als Kind (Hudson West) geschlagen und wurde dann von Mutter Marie (Cassandra Ballard) ermordet. Auch heute noch ist Marie (Dale Dickey) praktisch omnipräsent und kümmert sich – vielleicht etwas zu intensiv – um ihren Enkel. Eines Tages reißt in Evans Innenleben die dünne Wand zwischen Akzeptanz und Aktionismus und er lässt all den brutalen Erwachsenen, die seine Schutzbefohlenen quälen, deren nach seinem Dafürhalten gerechte Strafe zukommen.

Und noch eine Blumhouse-Produktion, diesmal eine, die mit einiger Verspätung bei uns landete (da sie wohl den mit Universal üblichen, großen Distributor zu ermangeln hat). Tatsächlich handelt es sich bei „Bloodline“ um eine der besseren, mutigeren und beachtenswerteren Arbeiten der Blum-Schmiede, die mit einiger Großzügigkeit an dem, was das Massenpublikum augenscheinlich für akzeptabel halten dürfte, vorbeischippert.
Stattdessen schlägt Jacobsons Langfilmdebüt sehr viel wüster in die Kerbe „good old fashioned serial killer movie“, indem es bewusst Erinnerungen an die Klassiker des Subgenres weckt – sowohl in psychologischer wie in stilistisch-ästhetischer Hinsicht. Der (ödipal geprägte) Mutterkomplex fehlt da ebensowenig wie der frühzeitig entsorgte, gewalttätige Vater, dessen genetischer und habitueller Schatten unentwegt über dem Protagonisten schwebt. Jener sieht sich derweil den üblichen, gesellschaftlichen Hindernissen gegenüber; einem allzu neugierigen, leider viel zu gescheiten Polizeiermittler (Kevin Carroll), innermoralischem Dissens und schließlich der mangelnden Toleranz jener, denen er doch eigentlich helfen möchte, seinem blutigen Treiben gegenüber. Gewissermaßen neu ist die prägnante Konnexion mit dem Vigilanten-/Selbstjustizler-Film, denn Evan Jacobs tötet im Gegensatz zu vielen seiner filmischen Ahnen weder wahllos noch aus einem tiefenpsychologisch verankerten Reflex heraus. Seine Opfer snd wohlfeil ausgewählte Kinderschänder, Misshandler, Junkies, Nazis, Säufer, Sozialschmarotzer; aus Evans von seinem pathologischen Hang nach Verantwortungsbewusstsein und familiärer Harmonie heraus geprägter Agenda demnach Typen, die es nicht nur verdient haben, wegzukommen, sondern unweigerlich wegmüssen. Dass er selbst ein Produkt offener Gewalt ist, die er durchlebt, aber vor allem bezeugt hat, ist aus Evans Tunnelperspektive heraus unersichtlich für ihn, womit der Kreis sich zu Frauen-, Kinder-, Homosexuellenmördern am Ende doch wieder schließt.
Dass „Bloodline“ (ausgerechnet) Seann William Scott, der vor rund zwanzig Jahren das lustige Porno-Akronym „MILF“ kultivierte und kurz darauf das durch ebensolche praktizierte Prostatamelken salonfähig machte, in einer völlig untypischen Rolle featuret, tut beiden durchaus gut. Dass er zudem einerseits auch feine Ironie nicht ausspart und andererseits mit den üblichen, kleinen Dramaturgiezerrern arbeitet, die Evans Entdeckung infolge immer wieder auftretender faux-pas aufs Spiel stellen, darf man dem ansonsten gewiss gelungenen Erstlingswerk großmütig verzeihen.

7/10

RELIC

„Who are you?“

Relic ~ AUS/USA 2020
Directed By: Natalie Erika James

Edna (Robyn Nevin), die Mutter von Kay (Emily Mortimer) und die Großmutter von Sam (Bella Heathcote), verschwindet urplötzlich aus ihrem geräumigen Haus in der Nähe von Melbourne. Auch als Kay und Sam vor Ort erscheinen und nach der alten Dame, die schon seit einiger Zeit Anzeichen von Demenz zeigt, suchen, taucht sie zunächst nicht auf. Man rechnet bereits mit dem Schlimmsten, als Edna eines Morgens in der Küche steht als sei nichts gewesen. Ihre schmutzigen, baren Füße deuten darauf hin, dass sie im Freien umhergeirrt sein muss, obwohl sie jedem Gesprächsansatz über ihren zwischenzeitlichen Verbleib ausweicht. Die kommenden Tage sind geprägt von Zweifeln und Ängsten. Was soll mit Edna geschehen? Allein beiben kann sie offenkundig nicht; Kay ist hin- und hergerissen zwischen einer geriatrischen Unterbringung und der Option, ihre Mutter bei sich aufzunehmen. Sam erwägt, bei ihrer Großmutter einzuziehen und sie zu pflegen, was durch das zusehends irrationale Verhalten der Seniorin jedoch bald unvernünftig erscheint. Erst eine unheimliche Zuspitzung der Ereignisse hilft den jüngeren Generationen zu verstehen.

Dass nunmehr zwei der klügsten und schönsten Horrorfilme der letzten Jahre jungen australischen Regisseurinnen zu verdanken sind – neben „Relic“ spreche ich natürlich von Jennifer Kents „The Babadook“ empfinde ich als höchst erfrischend und fände es höchst erfreulich, wenn ihre Beispiele noch weiter Schule machten. Überhaupt treten Filmemacherinnen auf dem Genresektor ja auch auf globaler Ebene – man denke an Katrin Ebbe oder Veronika Franz – just aus dem Schattensektor ans finstere Licht, wo man sie früher mit der Lupe suchen musste – Kathryn Bigelows oder Jackie Kongs entsprechende Arbeiten liegen ja nunmehr bereits Dekaden zurück. Bitte noch viel mehr davon.
„Relic“ bietet sich als generationsverschobenes companion piece zu „The Babadook“ an: Im vorliegenden Fall obliegt es zwei Frauen jüngeren Jahrgangs, mit einer sich radikal verändernden, familiären Beziehungssituation auseinandersetzen und zurechtkommen zu müssen, die sich diesmal nicht auf den Nachwuchs, sondern auf das Alter fokussiert.
Dem Zuschauer machen sowohl Kent als auch James es da deutlich leichter als ihren Protagonistinnen – wir finden jeweils sogleich die aktuelle Lage vor, und damit den auf sinistre Weise prekarisierten, sich sogar noch stetig verschlimmernden Ist-Zustand. Für den Kreuzweg, der den allermeisten erwachsenen Kindern im Laufe ihrer späteren Biographie irgendwann bevorsteht, nämlich jenen, sich um die in buchstäblicher Auflösung befindlichen Eltern kümmern zu müssen, wählt Natalie Erika James eine besonders zum Ende des Films hin vortreffliche Bildsprache nebst einer durchaus streitbaren conclusio, die im innerdiegetischen Kontext allerdings absolut sinnstiftend daherkommt. Gewiss ist „Relic“ in der Ausprägung seiner verwandten Stilmittel fraglos ein lupenreiner Gattungsfilm; sein besonderes Verdienst – und damit wären wir auch gleich wieder bei Jennifer Kent – liegt jedoch darin, den Horror als humanistischen Stolperstein zu gebrauchen, den Horror von unüberwindbarem Miss- bzw. Unverständnis, den Horror unmöglicher Empathie, eine Form des intimen Grauens, die sich umso schrecklicher ausnimmt, wenn es um geliebte Menschen geht-, die eigene Familie zudem.
„Relic“ wählt keinesfalls einfache oder offensichtliche Wege betreffs seiner Agenda, die die rigorose Veranschaulichung dieser Art Lebenszäsur umrahmt. Seine Mittel sind vielmehr paraphrasiert, hochkomplex, klug und, am wichtigsten, sensibel, und somit auf berückende Weise vereinnahmend.

9/10

YOU SHOULD HAVE LEFT

„I tried to run, but for no purpose.“

You Should Have Left (Du hätest gehen sollen) ~ USA 2020
Directed By: David Koepp

Abgesehen von ihrem doch immensen Altersunterschied müssen die Ehepartner Susanna (Amanda Seyfried) und Theo Conroy (Kevin Bacon) mit noch ein paar anderen unausgesprochenen Divergenzen umgehen. Was sie zusammenschweißt, ist die bedingungslose Liebe zu Töchterchen Ella (Avery Tiiu Essex). Um wieder mehr zu sich selbst zu finden, mietet man kurzerhand eine moderne Villa in der walisischen Provinz an, die einem gewissen Stetler gehört. Vor Ort angekommen, plagen nicht nur dräuende Albträume die kleine Familie; auch das Haus selbst scheint ein höchst sonderbares Eigenleben zu führen. Als die schwelenden Konflikte zwischen Theo und Susanna schließlich aufbrechen, demonstriert endgültig auch Stetlers Haus ersterem, dass die eine oder andere teure Lebensrechnung noch offen ist…

Die Erwartungen waren nicht eben gering, als sich abzeichnete, dass das einstige winning team Koepp/Bacon rund zwanzig Jahre nach seinem schönen Geisterfilm „Echoes“ zu einem möglichen Revial ansetzte. Beinahe schon obligatorisch unter der omnipräsent scheinendenen Genreägide von Blumhouse griff Regisseur und Autor Koepp abermals, wie schon beim „Vorgänger“, dessen altehrwürdige Ideenschmiede Richard Matheson verantwortet hatte, auf eine bestehende literarische Vorlage zurück. Koepps Meriten als Veredler vorgefertigter Plots schienen mir bislang unbestritten, nun, da er, dem Vernehmen nach eher infolge reiner kreativer Koinzidenz, eine Novelle von Daniel Kehlmann umfrisierte, trübt sich die diesbezügliche Sicherheit ein wenig.
„You Should Have Left“ bedient sich auf den ersten Blick ähnlicher Topoi und Strukturen wie „Echoes“. Hier wie dort geht es um eine sukzessiv vom Auseinanderbrechen bedrohte Kleinfamilie, deren emotionale Sollbruchstellen primär von einem durch zunächst irrational erscheinende Manien besessenen Ehemann und Vater verursacht werden, wobei in beiden Fällen das Kind eher seine Perspektive bestärkt. Bei genauerer Betrachtung ergeben sich jedoch ebenso deutliche Differenzen. Während „Echoes“ eine Menge seiner spezifischen Zugkraft aus der Ansiedlung im kleinbürgerlichen Vorstadtmilieu bezieht, wechselt „You Should Have Left“ in die eher distanzbetonte Welt der upper class – sie eine Hollywood-Schauspielerin, er ein schwerreicher Banker. Ferner bedingt die teils vorgeprägte, teils selbstgewählte Isolation der Conroys eine unweigerliche Konzentration auf den familiären Mikrokosmos und somit deutliche Beschränkungen des sich bei „Echoes“ noch als besonders vital erweisenden (und letzten Endes ja sogar motivstiftenden), nachbarschaftlichen Interaktionismus. „You Should Have Left“ bewegt sich sehr viel dichter entlang verwandter kingscher Psychostudien wie „The Shining“, „The Dark Half“ oder „The Secret Window“ (den Koepp ja sogar selbst inszeniert hat) und verspielt damit zugleich ein gerütteltes Maß an notwendiger Innovation. Die faszinierendsten Einfälle, die sich vor allem auf die Unzuverlässigkeit physikalischer Gesetzmäßigkeiten stützen, erweisen sich tatsächlich mitnichten als solche, sondern belegen lediglich ein aufmerksames Studium von Gattungsbeiträgen aller Richtungen, deren Aufzählung ich mir an dieser Stelle ersparen möchte. Besser gut geklaut als schlecht erfunden wäre da noch die eheste Weise, um die paar zumindest leidlich unterhaltsamen Facetten des Films in ein halbwegs positives Licht zu rücken.
Typische Blumhouse-Kost aus dem leicht angehobenen Mittelsektor, als Quasi-Nachfolger von „Echoes“ jedoch – bedauerlicherweise – bass enttäuschend.

6/10