„Was haben Sie wirklich gesehen und gehört?“
Das Urteil ~ D 1997
Directed By: Oliver Hirschbiegel
Siegfried Rabinowicz (Klaus Löwitsch), ein jüdischstämmiger New Yorker Buchantiquar, soll als Hauptbelastungszeuge in einem Mordprozess in Hamburg aussagen. Während eines spätabendlichen Zwischenstopps in München überrumpelt ihn eine ominöse Service-Mitarbeiterin (Anya Hoffmann) Rabinowicz mit einem höchst unerwarteten Angebot: Wenn er bereit ist, nicht die Anschlussmaschine, sondern erst die übernächste zu nehmen, erhält er nicht nur ein Erste-Klasse-Ticket und einen Aufenthalt in der VIP-Lounge, sondern zudem eine aus dem Vorkriegsdeutschland stammende Haggada, ein hebräisches Gebetbüchlein, eine für den Holocaust-Überlebenden unsagbar kostbare Reliquie. Rabinowicz akzeptiert spontan und beginnt erst danach über den Grund für das doch sehr seltsame Ereignis nachzugrübeln, als ein Zeitung lesender Fremder (Matthias Habich) ihn anspricht. Aus der zögerlichen Bekanntschaft entwickelt sich eine angeregte Diskussion den Rabinowicz zum Gericht nötigenden Mordfall betreffend…
Ich hatte Glück und durfte Oliver Hirschbiegels vom Bezahlsender Premiere und dem NDR coproduziertes TV-Kammerspiel bei der Free-TV-Erstausstrahlung im Oktober 1998 sehen. „Das Urteil“ hatte mich schon damals mittelschwer begeistert und daran hat sich bis heute nichts geändert. Hirschbiegels auf reinen Dialog rekurrierendes Echtzeit-Drama ist ein kleines Meisterstück extrem verdichteter Kriminalfiktion, das seine Inspirationswurzeln ebenso bei Hitchcock findet wie bei Lumets Klassiker „12 Angry Men“.
Hirschbiegel demonstriert darin noch vor seiner ersten Kinoarbeit, was Filmkunst von einer in diesem Falle durchaus naheliegenden Theaterinszenierung abhebt: Seine suggestive Regie, getragen von von einem sanften, von ihm selbst stammenden Klarinetten-Score, vollzieht er beinahe unmerklich und gerade dadurch geriert sie sich so exzellent. Natürlich tragen dabei die beiden Schauspiel-Giganten Löwitsch und Habich in ihren jeweils meisterhaften Auftritten die Hauptverantwortung für das durchgängige Gelingen des Stoffs.
Moral, Schuld, Sühne wirft das blendende Buch von Paul Hengge in die Waagschale und über die Erfahrungen Rabinowiczs, der in Auschwitz war und dort alles bis auf sein nacktes Leben verloren hat, darunter auch die Bereitschaft, jemals wieder lieben zu können, entwickeln sich all diese Facetten zu einem hochkomplexen und dabei um keine überflüssige Zeile überreicherten Reflexion über objektive und subjektive Wahrheit und letzten Endes auch um aufrichtige Vergebung und wie wichtig sie sein kann, um das eigene Leben lebenswert zu gestalten. Dass „Das Urteil“ es in diesem Zusammenhang selbst noch bis zum Schluss immer wieder schafft, gemeinsam mit seinen beiden Protagonisten auch den sich längst in Sicherheit wiegenden Betrachter in kognitiver Hinsicht zu überrumpeln und auch dessen zuverlässig gewähnte Wahrnehmung auf den Kopf zu stellen, ist dabei nur ein Nebenverdienst dieses brillanten Stücks Fernsehgeschichte.
9/10