DRUK

Zitat entfällt.

Druk (Der Rausch) ~ DK/S/NL 2020
Directed By: Thomas Vinterberg

Vier Gymnasiallehrer und Freunde stehen an Wendepunkten ihrer jeweiligen Biographien. Ihnen allen gemein ist eine existenzielle Unzufriedenheit, die sich aus ganz unterschiedlichen, spezifischen Gründen niederschlägt und auch ihr Berufsengagement negativ beeinflusst. Martin (Mads Mikkelsen) etwa ist verheiratet und hat zwei Kinder im Teenageralter. Sein Familienleben ist von langweiliger Routine und Leidenschaftslosigkeit geprägt, was sich auch anhand des abweisenden Verhaltens seiner Frau Anika (Marie Bonnevie) manifestiert. Nikolaj (Magnus Millang), der Jüngste des Quartetts, zeigt sich derweil mit seinen drei quäkenden Kleinkindern überfordert, während Junggeselle Peter (Lars Ranthe) noch auf der Suche nach einer stabilen Beziehung ist. Sportlehrer Tommy (Thomas Bo Larsen), der Älteste, wirkt ebenfalls einsam und zudem ausgebrannt und leer. Bei einem Geburtstagsessen lenkt Nikolaj das Gespräch auf eine These des Psychiaters Finn Skårderud, der zufolge der Mensch ein permanentes Alkoholdefizit von 0,5 Promille aufweist, was seine soziale und psychische Funktionalität stark einschränke. Gemeinsam beschließen die vier Freunde, ein streng kontrolliertes und dokumentiertes Experiment zu wagen: Der Effekt eines Daueralkoholspiegels von besagtem Promillesatz und dessen Effekt auf Berufs- und Privatleben soll erforscht werden…

Thomas Vinterbergs jüngster, vom Unfalltode seiner neunzehnjährigen Tochter Ida überschatteter Film erhielt gewaltigen Kritikerzuspruch. Als sorgältig inszenierte und von großartigem Spiel getragene, berührende Tragikomödie in wohlfeil etablierter skandinavischer Tradition weiß „Druk“ tatsächlich weitgehend zu überzeugen – als fiktionalisierte Studie um das hochsensible Thema des Alkoholge- und -missbrauchs scheitert er allerdings, und zwar nachgerade kläglich. Die Plotprämisse nimmt sich rückblickend bereits als erstaunlich naiver Rohrkrepierer aus: Vier gestandenen, dem Bildungsbürgertum zuzurechnenden Männern mittleren und fortgeschrittenen Alters, einer davon Abstinenzler, dürften die Sucht- (und nicht nur solche) Gefahren infolge fortwährend praktizierten Alkoholkonsums durchaus bewusst sein, dennoch initiieren sie ein „Experiment“, das eher einem Initiationsritus für Burschenschaften gleicht. Die stilisierte Trunksucht bedeutsamer historischer Charaktere findet sich allenthalben erwähnt und umkränzt; Grant, der die Konföderierten besiegte, Hemingway, der große Literat, Churchill, der dem erklärten Gesundheitsmenschen Hitler die Stirn bot.
Als bilde Alkohol den Schlüssel zum Tor der sukzessiven Genialitätsentfesselung beginnen auch Nikolaj, Peter, Tommy und Martin, nunmehr unentwegt angeschickert, sich und ihre Qualitäten neu zu entdecken. Doch die Schattenseiten der freilich nur scheinbar kontrollierten Vergiftung von Körper und Seele gewinnen die erwartbare Übermacht. Der alles überflügelnde Pegel steigt und mit ihm der unwiderstehliche Hang zur egomanen Entgleisung und zum Exzess. Nikolaj und Martin grätscht der drohende – und schließlich vollkommene – Verlust der Familie zwischen die gummierten Beine, der Suff lässt Peter zum überaus fragwürdigen Lebensberater eines seiner Schüler avancieren und treibt den depressiven Tommy in den Selbstmord. Katastrophe statt Katharsis. Mit Wodka spielt man nicht, schon gar nicht mit russischem. Glücklicherweise rettet die analoge, rechtzeitige Erkenntnis den Rest der Freunde und versichert dem wahlweise erstaunten und/ oder möglicherweise auch erleichterten Publikum zum versöhnlichen Schlussvorhang: ab und zu einen zu trinken geht klar, aber den Kater am nächsten Tag muss man aushalten können.
„Druk“ behandelt diese Offenbarung und den beschwerlichen Weg dorthin mit dem sensationalistischenen Gestus der Entdeckung des Penicillins. Alkoholgenuss ist nicht für jede/n, die psychische Disposition ist entscheidend und nicht jede/r verträgt eben gleich viel. So kosmisch, wie Vinterberg und sein Koautor Tobias Lindholm uns ihre kleine Examinierung zu verkaufen trachten, ist all das mitnichten, es sei denn für ein handverlesenes, wohlsituiertes Programmkinopublikum, das sich hier und da mal ein Gläschen Riesling zur Forelle gönnt.
Über Alkohol, das Trinken, Sucht, Drogen und deren direkte (oder indirekte) Affizierung von Lebenswegen gibt es viele, wunderbare Filme. Ironischerweise zählt der sich zu deutsch so vielversprechend selbstbetitelnde „Der Rausch“ leider nicht dazu.

5/10

PIG

„I’d like to speak to the chef.“

Pig ~ USA 2021
Directed By: Michael Sarnoski

Robin Feld (Nicolas Cage) lebt fast völlig autark als Eremit in einer Waldhütte in Oregon. Seine einzige Lebensgefährtin ist sein Trüffelschwein, das ihm lieb und teuer ist und dessen feine Nase ihm hilft, den Delikatessenhändler Amir (Alex Wolff) regelmäßig mit den kostbaren Pilzen zu beliefern. Eines Nachts wird Robin überfallen und das Schwein ihm gestohlen. Er macht sich auf die Suche nach dem Urheber der Aktion und muss sich in diesem Zuge zugleich diversen Facetten seiner Vergangenheit stellen.

Filme, respektive Rollen wie diese sind es, die Nicolas Cages Stern vorm Sinken bewahren. Und nicht nur das – sie sichern seinen Status als einer der sehenswertesten seiner Zunft. „Pig“ erweist sich als kluges, höchst eigenwilliges Drama um die bleierne Schwere existenziellen Verlusts auf der einen und den schmalen Grat zwischen wahrer Genialität und ambitionierter Mittelmäßigkeit auf der anderen Seite. Um einen etwas mühseligen (und eigentlich müßigen) Vergleich zu bemühen: „Pig“ erscheint ein wenig wie die distinguierte, intellektuelle Variante eines „John Wick“ – die grundierende Prämisse zumindest findet sich beinahe frappant analogisiert: Ein verwitweter Aussteiger und Profi seines Metiers lebt von den Erinnerungen an idyllische Zeiten und idealisiert sein Haustier als letzten Lebensanker. Als dieses ihm genommen wird, geht er auf einen einsamen Kreuzzug gegen den Verantwortlichen. So weit die Parallele. Während Wick jedoch seine Fertigkeiten als Superkiller reaktiviert, entpuppt sich Robin Feld als einstiger Starkoch der Haute-Cuisine-Szene des amerikanischen Nordwestens. Auch er hat einst seine Frau verloren, was ihn in seinem Falle dazu gebracht hat, seine unerbittliche Brillanz als Chefkoch ad acta zu legen und der Zivilisation schließlich als Waldschrat vorsätzlich den Rücken zu kehren. Erst ein gewalttätiger Weckruf bringt Feld dazu, sein ruhiges, materiell entbehrungsreiches, aber doch zufriedenes Leben als social outcast zu unterbrechen und sich um ausgleichende Gerechtigkeit zu bemühen. Allerdings ist es das „Wie“, das Robin Felds Rache den allermeisten anderen Vendetten überlegen macht: Er kocht dem Entführer seines Schweins ein Gericht, dessen Perfektion jenen zurückführt an die Klippen einer eigenen, schweren Lebensschuld und ihn gebrochen zurücklässt. Der Weg zu dieser feinsten aller Vergeltungen offeriert uns einen verlotterten, dreckigen, blutverkrusteten Protagonisten, dessen herben Körpergeruch man jenseits der Bilder wahrzunehmen glaubt, dessen Gaumengespür jedoch das denkbar unbestechlichste ist und bleibt. Ein trauriger und auf seine ganz spezielle Weise doch strahlender Held.

8/10

SHANG-CHI AND THE LEGEND OF THE TEN RINGS

„Welcome to the circus.“

Shang-Chi And The Legend Of The Ten Rings ~ USA/AUS 2021
Directed By: Destin Daniel Cretton

Wie seine jüngere Schwester Xialing (Meng’er Zhang) stammt Shang-Chi (Simu Liu) aus der märchenhaften Verbindung des uralten Eroberers und Meisters der Zehn Ringe, Xu Wenwu (Tony Leung), und der aus der magischen Zwischendimension Ta Lo stammenden Wächterin Li (Fala Chen). In San Franciscos Chinatown lebt Shang-Chi, seine Vergangenheit ignorierende, unter dem unverbindlichen Alias Shaun ein unspektakuläres Leben als Servicekraft – bis sich sein Vater auf brutale Weise zurück in seine Existenz mischt. Der trauernde Xu Wenwu glaubt, einen Hilferuf seiner bereits vor Jahren getöteten Li aus Ta Lo zu vernehmen. Dass sich dahinter tatsächlich ein weltenbedrohender Seelenfänger-Drache verbirgt, der mit Xu Wenwus Hilfe aus seinem Gefängnis entfliehen will, möchte dieser nicht wahrhaben. Es ist daher an Shang-Chi, seine beträchtlichen Fähigkeiten als Kung-Fu-Meister zu perfektionieren und seinem Vater gemeinsam mit seinen Verbündeten Einhalt zu gebieten, bevor der Seelenfresser den Weg in die Menschenwelt findet.

In der vierten MCU-Phase, die ja zu nicht unerheblichen Teilen auch von ihren bis dato durchweg gelungenen Serials zehrt und lebt, treten nunmehr auch weniger populäre HeldInnen in Aktion, darunter der 1973 debütierte „Master Of Kung Fu“ Shang-Chi. Dieser war, ähnlich wie zuvor Black Panther und Luke „Powerman“ Cage“ als Repräsentanten des new black consciousness, konzipiert als Comic-Antwort auf die vor allem durch Bruce Lee personifizierte Martial-Arts-Welle. Während damals noch diverse Verknüpfungen mit der Pulp-Figur Dr. Fu-Manchu, als dessen Sohn Shang-Chi vorgestellt wurde, in den Vordergrund gerückt wurden, hat der 25. MCU-Film derlei hausbackene Klischees nicht mehr nötig. Tatsächlich scheint man sich – soweit ich als diesbezüglicher Volllaie das beurteilen kann – um die eine oder andere ernstzunehmende Verbeugung vor der reichhaltigen chinesischen Mythologie bemüht zu haben und lässt dazu passend auch manch attraktives Wuxia-Element mit einfließen, freilich nicht, ohne die diversen obligatorischen Zwinkerer Richtung comicgeschultes Publikum zu vergessen. Ganz hübsch nehmen sich etwa die Reaktivierung des verschollen geglaubten Akteurs Trevor Slattery (Ben Kingsley) oder der überraschende Gastauftritt von Emil „Abomination“ Blonsky (Tim Roth) aus. Continuity wird weiterhin groß geschrieben im MCU, auch in der vermeintlichen Peripherie.
„Shang-Chi And The Legend Of The Ten Rings“ ist resümierend kein wirklich besonderer oder gar großartiger Film, er gefällt jedoch als farbenprächtiges und bildgewaltiges Fantasyspektakel, das auch Kindern Freude bereiten soll und dürfte. Ich persönlich hätte mir im Gegenzug vielleicht einen etwas erwachseneren, möglicherweise finstereren Ansatz gewünscht, aber man kann ja nicht alles haben.

7/10

I SAW WHAT YOU DID

„I saw what you did and I know who you are.“

I Saw What You Did (Es geschah um 8 Uhr 30) ~ USA 1965
Directed By: William Castle

Die zwei gelangweilten Provinzteenagerinnen Libby (Andi Garrett) und Kit (Sara Lane) treffen sich eines Abends bei Kit, deren Eltern (Leif Erickson, Patricia Breslin) bei einem Geschäftsfreund (Douglas Evans) zu Gast sind. Gemeinsam mit Kits kleiner Schwester Tess (Sharyl Locke) vertreibt man sich die Zeit mit Scherzanrufen bei willkürlich ausgesuchten „Opfern“ aus dem Telefonbuch. Die eingangs zitierte Formel wird dabei gebetsmühlenartig wiederholt – mit unterschiedlichsten Effekten. Nach einiger Zeit gerät das Prankster-Trio jedoch an den buchstäblich Falschen: Der wahnsinnige Steve Marak (John Ireland) hat nämlich just seine Frau (Joyce Meadows) ermordet, deren Leiche entsorgt und fühlt sich nun zu Unrecht ertappt. Während auch Maraks Nachbarin (Joan Crawford) in tödlicher Gefahr schwebt, versucht der Killer, die Identität der Anruferin herauszubekommen – mit Erfolg…

William Castles sieben Jahre zuvor mit „Macabre“ abgejizzter Gimmick-/Drive-In-Cinema-Stern begann bereits zu sinken, als „I Saw What You Did“ debütierte. Die Gründe dafür erscheinen in Anbetracht des Films als einigermaßen nachvollziehbar. Was basierend auf der inhaltlichen Grundprämisse einen hübschen Terror- oder Suspense-Stoff hätte abgeben mögen, arrangiert Castle infolge seines latenten Bedürfnisses, ein primär junges Publikum anzusprechen, nämlich zu einem relativ seichten Teeniekrimi um, der mit fluffigem Score (Van Alexander) und einem einer schwarzpädagogischen Warngeschichte für Kleinkinder entsprungenen Bösewicht hausiert. Die die Besetzungsspitze anführende Pepsi-Witwe Joan Crawford spielt in ihrem zweiten und letzten Castle-Engagement eine fast vollkommen redundante Nebenrolle als knitterige Nebenbuhlerin, die mit ihrer aufdringlichen Art den Messermörder John Ireland eine Spur zu intensiv reizt und ihn damit gleich mal zum Serienkiller werden lässt. Ansonsten legt „I Saw What You Did“ allzu viel Fokussierung auf die Abengestaltung der zwei unreifen Backfische und ihrem noch rotzigeren Schützling, was beinahe jede Spannungsavance zunichte macht. Ganz possierlich wird es dann immerhin noch zum Finale hin, wenn Ireland wegen eines dummen Zufalls doch noch seinem Blutdrang nachgibt und die beiden Schwestern attackiert.
Als mentale Frühform des späteren slasher movie – ein fehlgeleiteter Streich resultiert in tödlicher Gefahr – bekleidet der durchweg auf dem Universal Backlot gefilmte „I Saw What You Did“ immerhin einen kleinen filmhistorischen Status, ohne jedoch das Zeug zum veritablen Klassiker aufzuweisen. Castle light.

5/10

THE WORLD ACCORDING TO GARP

„You know, everybody dies. The thing is, to have a life before we die. It can be a real adventure having a life.“

The World According To Garp (Garp und wie er die Welt sah) ~ USA 1982
Directed By: George Roy Hill

Für die eigenwillige Krankenschwester Jenny Fields (Glenn Close) ist ihr inniger Kinderwunsch absolut nicht mit dem Gedanken an eine Partnerschaft kompatibel. Also „benutzt“ sie kurzerhand einen bewusstlosen, im Sterben liegenden Air-Force-Piloten als Samenspender. Nach seinem Vater benannt, lebt T.S. Garp (Robin Williams) kein allzu langes, aber dafür von allerlei Glücksmomenten und Schicksalswogen umtostes Leben, das vom Anfang bis zum Ende stets unter dem übermächtigen Einfluss seiner gewissermaßen omnipräsenten Mutter steht.

„The World According To Garp“, der vierte Roman des neuenglischen Erfolgsautors John Irving, galt, wie so viele andere relevante literarische Marksteine des zwanzigsten Jahrhunderts, zunächst als unverfilmbar. Was zuvor jedoch bereits für Vonneguts „Slaughterhouse Five“ galt, erwies sich auch im Falle „Garp“ als recht und billig – George Roy Hill fand sich demzufolge mit der Regie auch der Adaption dieses ebenso lebensweisen wie teilgrotesken literarischen Mammutwerks anvertraut, der ersten von bis heute fünf Irving-Verfilmungen. Den Büchern des beliebten Romanciers und Essayisten gemein sind diverse, mittlerweile berühmte Leitmotive – New Hampshire als ewiger, vordringlicher Handlungsschauplatz; biographische Bestandaufnahmen seiner zumeist in komplexen Ehen und Familien beheimateten Figuren, Bären als stetes Symbol für Individualität und Kraft und natürlich die obligatorischen Abstecher in Irvings geliebtes Wien. All dies zeichnet auch im vorliegenden Fall die famose Vorlage aus – umso erstaunlicher, wann, wie und mit welchen Mitteln Hill und sein Scriptautor Steve Tesich dieses anrührende, schöne Kinowerk kreierten. Im Nachhall New Hollywoods ist „The World According To Garp“ dann doch eher ein typischer Film für die achtziger Jahre geworden. Er umfasst einen erzählten Zeitraum von etwa 38 Jahren und berichtet darin mit durchaus epischem Anspruch die ereignisreiche, bisweilen bizarre, im Grunde jedoch von Liebe und Zuwendung geprägte Biographie seines Ttelhelden, dessen Existenz sich stets im übergroßen Schatten seiner Mutter abspielt. Jenny Fields entwickelt sich im Laufe ihrer Tage zu einer emanzipierten Vorreiterin für alle Frauen, die unter den Repressalien einer erklärt patriarchalischen Gesellschaft zu leiden haben – bewundert, geliebt, belächelt und verabscheut, bleibt sie ihren nicht immer gänzlich nachvollziehbaren Maximen stets treu. Als Junge und später Mann mit all seinen überaus menschlichen Bedürfnissen, deren libidinöse und thanatische Ausprägungen nicht selten in kleine und große Katastrophen münden, entwickelt sich Garp zwar zu einem vollwertigen Individuum, das irgendwann eine eigene Familie gründet, die Prägung seiner Mutter jedoch wesentlich internalisiert hat. Nebenfiguren wie die transsexuelle Ex-Footballspielerin Roberta Muldoon (John Lithgow) oder die als Kind vergewaltigte, verstummte Ellen James (Amanda Plummer) werden, nachdem Jenny Fields sich ihrer stiefmütterlich angenommen hat, auch für Garp zu wesentlichen Leitcharakteren. Doch wie jeder soziale Mikro- und Makrokosmos leidet auch der der Fields-Dynastie unter Missinterpretation, fehlgeleiteter Radikalität und der daraus resultierenden Gewalt, die sowohl Jenny als später auch Garp das Leben kosten werden. Irvings Brillanz liegt, ebenso wie die des Films, der jenes Bestreben nahtlos akkumuliert, darin, das Schicksal als permanente Kausalitätskette zu begreifen, als ewigen Kreislauf von Ursache und Effekt, von Klammern und Rahmen (musikalisch verbildlicht durch den Beatles-Klassiker „When I’m Sixty-Four“). Dem Film gelingt es mittels scheinbar behender Leichtigkeit und Lakonie, die daraus resultierende, narrative Komplexität zu transponieren und seine mitunter schwer verdaulichen Wendungen nie zugunsten falsch verstandener Larmoyanz zu denunzieren.

9/10

NO TIME TO DIE

„When her secret finds its way out – and it will – it’ll be the death of you.“

No Time To Die (Keine Zeit zu sterben) ~ UK/USA 2021
Directed By: Cary Joji Fukunaga

Nachdem er dem MI6 den Rücken gekehrt hat, um mit seiner Madeleine Swann (Léa Seydoux) glücklich zu werden, gilt es für den emotional gebeutelten James Bond (Daniel Craig), letzte offene Fäden zu vernähen. Dazu gehört auch der endgültige Abschied von seiner einstigen großen Liebe Vesper Lynd an deren Grabstätte. Doch dort fällt Bond beinahe einem Sprengstoffattentat zum Opfer, mit dem Madeleine zumindest in indirekter Verbindung zu stehen scheint. Kurzerhand setzt Bond sie in den Zug und verabschiedet sich endgültig von ihr, um danach auf Jamaika ins Exil zu gehen. Fünf Jahre später kommt es in London zu einem ernsten Zwischenfall: Der biologische Kampfstoff „Herakles“, der, aus Nanobots bestehend, gezielt mit der DNA seiner potenziellen Opfer programmiert werden kann, wird gestohlen und mit ihm dessen Entwickler Valdo Obruchev (David Dencik). Während M (Ralph Fiennes) längst eine neue 007 (Lashana Lynch) beschäftigt, lässt sich Bond von seinem alten CIA-Freund Felix Leiter (Jeffrey Wright) überreden, den Kopf hinter dem brisanten Diebstahl ausfindig zu machen. Dahinter steckt keinesfalls wie zunächst vermutet SPECTRE [dessen Kopf Blofeld (Christoph Waltz) selbst vom Sicherheitsgefängnis aus noch die Strippen zieht], sondern ein der Organisation ebenbürtiger Konkurrent, der größenwahnsinnige Lyutsifer Safin (Rami Malek)…

Nachdem Daniel Craig eigentlich beschlossen hatte, mit „Spectre“ seinen Bond-Schwanengesang zu begehen, ließ er sich gegen ein beträchtliches Entgelt doch noch zu einem weiteren, letzten Einsatz überreden; diesmal jedoch gewissermaßen mit eingeschriebener Anti-Rückkehr-Versicherung. Runde 58 Jahre nach dem ersten 007-Kino-Abenteuer „Dr. No“ wurden die Karten für den 25. offiziellen Film des Franchise abermals neu gemischt, bewusste Produktionsquerelen inbegriffen: Dass Craigs fünfteiliger Bond-Zyklus im Gegensatz zum vorherigen Konzept der Serie inhaltlich dicht zusammenhängen, was eine bis 2005 noch ungewohnte, dezidiertere (Film-)Typisierung des Superagenten gestattete, wäre hinlänglich bekannt, nunmehr geht es um eine noch privatere (und somit gleichermaßen noch intimere) Involvierung des Protagonisten in die ihn umtosenden Ereignisse. Eigentlich eklatantes Bond-Fremdvokabular wie „Wokeness“, „Familie“, „Vulnerabilität“ ploppt geradezu inflationär auf und findet sich verquirlt mit einer Vielzahl von Reminiszenzen an klassische Beiträge zur Reihe, die sich zu einem nicht immer allzu originellen Suchspiel für Aficionados und solche, die es werden wollen, verflechten. Viel Altes und viel Neues also, samt und sonders allerdings im probaten Rahmen und hinreichend dualistisch entgegenkommend, um weder eherne Kalte Krieger noch potenziellen Agentennachwuchs zu vergrätzen. Bond – oder wie auch immer sich sein zukünftiger Epigone nennen mag – findet sich auf sanfte Weise neuarrangiert und fitgemacht für die kommenden Dekaden. Dazu bedarf es andererseits freilich mancher Zäsur: M, distinguierter Gentleman hochenglischer Formvollendung, benutzt Vierbuchstaben-Wörter; Q (Ben Whishaw) entpuppt sich als homosexuell; 007s Nachfolgerin ist eine afrobritische Superfrau und der neue Endboss eher ein bemitleidenswerter, therapiebedürftiger Wirrkopf denn die bedrohliche, globale Nemesis von dereinst. Bond selbst wird, wenn schon nicht als Influencer, so doch in seiner bejahrten Maskulinität nachhaltig geschwächt – er bleibt weiterhin stockverliebt, demzufolge monogam und bekommt zu allem Überfluss eine bezaubernde, kleine Tochter (Lisa-Dorah Sonnet) – welcher erklärte Junggesellenmacho soll da einen klaren Kopf bewahren? Nicht zuletzt wird mit Felix Leiter, der einst selbst den heftigsten Anschlag auf seine Person überlebte, ein elementarer Charakter aus dem Spiel genommen, vom abschließenden Heldentod der Titelfigur einmal ganz abgesehen. Nichtsdestotrotz heißt es zum Abspannende wie eh und je „James Bond will return“, nicht jedoch die Figur, denn das ist diesmal wirklich unmöglich, sondern vielmehr das Konzept. Die Welt scheint noch nicht bereit, einer ihrer hartnäckigsten, vor allem aber gewinnträchtigsten Kino-Marken endgültig Adieu zu sagen.

7/10

SCHLAF

„Kennst du das, wenn du wach bist und der Traum ist noch da?“

Schlaf ~ D 2020
Directed By: Michael Venus

Marlene (Sandra Hüller), Stewardess und alleinerziehende Mutter der Teenagerin Mona (Gro Swantje Kohlhof), leidet unter schweren Albträumen, derer sie mittels akribischer Aufzeichnungen in einer mittlerweile umfangreichen Sammlung von Traumtagebüchern Herrin zu werden versucht. Eines Tages entdeckt sie eine Anzeige des Hotels „Sonnenhügel“ in dem Mittelgebirgsörtchen Stainbach. Marlene reist kurzentschlossen dort hin und verbringt eine Nacht in dem Gasthaus. Kurz darauf erfährt Mona, dass ihre Mutter mit einem katatonischen Stupor in ein nahegelegenes Krankenhaus eingeliefert wurde. Mona will den Grund für Marlenes Zustand in Erfahrung bringen und checkt ebenfalls im Sonnenhügel ein – wegen der nebensaisonalen Flaute und diverser Renovierungsarbeiten als einziger Gast. Schon bald suchen auch sie bizarre Albträume ein, deren höchst reale Wurzeln offenbar in der unrühmlichen Vergangenheit Stainbachs liegen..

Immerhin ist das deutsche Genrekino bemüht, sein Lager um interessante, national und auch international relevante Beiträge zu bereichern; bemühter jedenfalls als noch vor zehn, zwanzig oder gar dreißig Jahren. Dennoch empfand ich „Schlaf“, das Regiedebüt von Michael Venus, keineswegs als durchgängig überzeugend. Venus und sein Coautor Thomas Friedrich wollen allzu viel auf einmal; auf der bloßen Gattungsebene soll ihr Film Unbehagen und Spannung auslösen und zugleich als Vergangenheitsaufbereitung – es geht im Kern um die tiefen Spuren, die polnische Zwangsarbeiterinnen während der NS-Zeit hinterlassen haben und deren Niederschlag im Verhältnis zu gegenwärtigen Reichsbürgergruppierungen – fungieren. Wie ihre einst als Findelkind angenommene Mutter und ihre Großmutter Trude (Agata Buzek) zuvor verfügt auch Mona über eine Art „zweites Gesicht“, das sich via an die Bewusstseinsoberfläche tretenden Träumen manifestiert. Mona findet heraus, dass in Stainbach einst eine Sprengstofffabrik befand, in der Zwangsarbeiterinnen aus Polen beschäftigt wurden. Ihre Mutter Marlene erweist sich als das Resultat einer späteren, außerehelichen Liaison zwischen der ebenfalls abseits des Dorfes hausenden Trude und dem Ortspatriarchen Otto (August Schmölzer), zugleich Bewirtschafter des Sonnenhügel-Hotels. Nachdem Otto Trude ermordet hat, sucht ihr rachsüchtiger Geist nicht nur ihn und seine Mitwisser heim, sondern auch die Traumwelten ihrer überlebenden Leibesfrucht in erster und zweiter Generation. Der Sühnetribut ist jedoch erst zur Gänze gezollt, wenn auch Otto das Zeitliche gesegnet haben wird. Der Weg dorthin ist jedoch gepflastert mit allerlei Mysteriösem, dass Venus/ Friedrich in vorsätzlicher Unübersichtlichkeit verquirlen: Träume werden zu Trips und ein Ortstreffen unter Führer Otto und seinen willfährigen Vasallen verwandelt sich durch einen anarchischen K.O.-Tropfen-Streich seines Sohnes (Max Hubacher) in eine ekstatische, ein wenig an Noés „Climax“ erinnernde Chaosorgie. Überhaupt schimmern Venus‘ Vorbilder nicht selten überdeutlich durch die gekonnt arrangierte Oberfläche seines zwischen Traumhorror und Aufarbeitungsthriller oszillierenden Films, seien es Steiners „Sennentuntschi“ oder AKIZ‘ „Der Nachtmahr“. Für kommende Projekte wünscht man dem zum jetzigen Zeitpunkt gewiss noch vielversprechenden Filmemacher insofern mehr thematische Innovation sowie den Mut zu luziderer Konsequenz, gepaart mit der Absage an die etwas irrational scheinende Verpflichtung, der Historie wie auch immer geartete Rechnung tragen zu müssen.

5/10

EVE’S BAYOU

„To a certain type of woman, I am a hero.“

Eve’s Bayou ~ USA 1997
Directed By: Kasi Lemmons

In den 1960ern lebt die zehn Jahre junge Eve Batiste (Jurnee Smollett) mit ihren Eltern Louis (Samuel L. Jackson) und Roz (Lynn Whitfield), ihren beiden Geschwistern, dem jüngeren Bruder Poe (Jake Smollett) und der älteren Schwester Cisely (Meagan Good) sowie der Großmutter (Ethel Ayler) in einem von Creolen-Nachfahren besiedelten, sumpfnahen Ort in Louisiana. Auch Eves bereits dreifach verwitwete Tante Mozelle (Debbi Morgan), die übersinnliche Fähigkeiten hat, ist ein festes Mitglied des Hausstands. Den Batistes geht es in materieller Hinsicht gut; Louis gilt als ein anerkannter Landarzt in der Region und wird von der afroamerikanischen Community vor Ort sehr respektiert. Doch binnen der eigenen vier Wände bröckelt das Idyll beträchtlich, Louis ist nämlich auch ein unverbesserlicher Schürzenjäger und Gigolo, der nicht allein medizinische „Behandlungen“ an seinen Patientinnen vornimmt. Eines Abends ertappt Eve ihn in der Scheune mit seiner Geliebten (Lisa Nicole Carson) und beginnt von diesem Tage an, den zuvor vergötterten Vater in einem anderen Licht zu sehen. Als die pubertierende Cisely später von einem ungeheuerlichen, nächtlichen Erlebnis mit Louis berichtet und zu Verwandten abreist, beschließt Eve, dem Leben ihres Vaters mittels Voodoo-Magie ein Ende zu setzen und wendet sich an die Hexe Elzora (Diahann Carroll)…

Amerikanische southern gothic tales haben, wenn sie mit dem nötigen Maß an Regionalromantik und Charakterempathie erzählt sind, stets etwas zutiefst Magisches. Klassischerweise von renommierten weißen Dichtern wie Bierce, Faulkner oder Williams ersonnen, fristen derweil die vornehmlich oder gar ausschließlich von people of colour berichtenden Geschichten – Toni Morrisons „Beloved“ kommt einem sofort in den Sinn – nach wie vor ein unverdientes Nischendasein. Eine ebenso prächtige wie berückende Filmausnahme bildet dieses Regiedebüt der zuvor als Nebenrollenschauspielerin aufgefallenen Kasi Lemmons, das, zugleich von ihr geschrieben, als elementares Spätwerk der New-Black-Cinema-Welle erachtet werden muss. Als eine Art afroamerikanisches Gegenstück zu Harper Lees „To Kill A Mockingbird“ und gleichermaßen ein Heimatfilm, zentriert „Eve’s Bayou“ die rückblickend aus ihrer sich sukzessive entzaubernden Kindheit erzählende Protagonistin Eve Batiste, deren Name auf den von der lokalen community verehrten Gründervater der Ortschaft zurückgeht. Wie einst die kleine Scout Finch hat auch Eve im Zuge eines schicksalhaften Sommers einige bittere Lektionen zu lernen, die sie auf Ab- und Umwegen ins unschuldsberaubte Erwachsenendasein tragen werden. Hier sind diese allerdings allerhöchstens indirekt mit Vorurteilen und Rassismus verknüpft. Zwar leben die Batistes ein wenig nach dem Vorbild weißer Dynastien des vorvergangenen Jahrhunderts, indem sie ihren Wohlstand außenwirksam leben und genießen, weißhäutige Menschen kommen in ihrem Mikrokosmos jedoch nicht vor, zumindest nicht, soweit es Eves kindliche Wahrnehmung anbelangt. Eve pendelt zwischen Frauen, zwischen ihrer gehörnten Mutter, ihrer mysteriösen, als verschroben geltenden Tante, ihrer alles zerredenden Großmutter und ihrer Schwester. Während Eve in ihrem Vater bislang ein von ihr abgöttisch idealisiertes Mannsbild sah, zerbricht diese Projektionsfläche bald in tausend Scherben, eine Erkenntnis, die sie auf zerstörerische Weise langfristig mit Desorientierung und Gewissenschuld belasten wird. Denn seine gesellschaftliche Stellung ist Louis Batiste wie vielen erfolgreichen Männern längst zu Kopf gestiegen. Von der Hybris übermannt, erachtet er seine permanenten außerehelichen Fehltritte, darunter selbst die offen zur Schau getragene Affäre mit der Gattin seines besten Freundes (Roger Guenveur Smith), als die lässlichen Streiche eines unverbesserlichen Filous, derweil zu Hause die Seelen seiner Liebsten bersten.
Lemmons nutzt diese Grundkonstellation zur Erzählung einer zu Herzen gehenden Coming-of-Age-Geschichte, die in ihrer ausgesprochen entklischierten Ausprägung zig etablierte Hollywoodformeln mit Füßen tritt und somit beinahe wie ein Stück aus einer Parallelrealität wirkt. Jede Figur erhält ihre Zeit, flankiert von verschrobenen Wegbegleitern wie der Voodoo-Magierin Elzora oder Mozelles mysteriösem, jüngsten Galan Julian Grayraven (Vondie Curtis-Hall), die vor allem den latenten, sanften magischen Realismus des Geschehens verstärken. Ein wunderbarer Film, der, nunmehr vierundzwanzig Jahre alt, einen Samuel L. Jackson noch ohne den typologischen Ballast der späteren Ära offeriert und auch sonst kein bisschen betagt wirkt.

8/10