Zitat entfällt.
Rosetta ~ BE/F 1999
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne
Rosetta (Émilie Duquenne) ist 18, arm, unzufrieden und wütend. Mit ihrer Mutter (Anne Yernaux), einer pathologischen Alkoholikerin, wohnt sie in einem Wohnwagen auf dem Campingplatz „Grand Canyon“ nahe Seraing bei Lüttich. Das bisschen Geld, über das die beiden Frauen verfügen, reicht kaum zum Überleben, zudem schämt sich Rosetta grenzenlos für ihre Zugehörigkeit zum Subprekariat. So betritt sie das Campinggelände nie durch den Haupteingang, sondern stets durch ein Loch im Zaun, wo sie, ein Alltagsritual, ihre Laufschuhe gegen versteckte Gummistiefel tauscht. Jeden Gelegenheitsjob verliert Rosetta im Handumdrehen wieder und niemand mag ihr trotz vehementer Nachfragen eine feste Einstellung geben. Als Rosetta den Waffelbäcker Riquet (Fabrizio Rongione) kennenlernt, ergibt sich ganz allmählich ein Perspektivwechsel für die widerborstige junge Frau.
Mehr noch als der Vorgänger „La Promesse“ wagt „Rosetta“ einen unbestechlichen und zudem wiederum gänzlich ungeschönten Blick in den Abgrund von Existenzminima inmitten westeuropäischer Wohlstandsnationen. Rosetta und ihre Mutter gehören zu den Ärmsten der Armen, es langt hinten und vorne nicht. Die dazugehörigen Begleiterscheinungen sind so akut wie alltäglich; Rosettas Mutter säuft und lässt sich für einen Schluck Schnaps auch umweglos sexuell ausbeuten, derweil Rosetta in typischer, kindesbedingter Koabhängigkeit Tag für Tag vergeblich versucht, die zusehends verwahrlosende Frau zur Entwöhnung zu bewegen. Indes wünscht sie selbst sich nichts sehnlicher als ein wenig Struktur, Selbstwertgefühl und Normalität; bloß keine Sozialschmarotzerin sein, sondern die eigene Schicksalsherrin – zumindest ein klein wenig. Doch ohne Schulabschluss oder Ausbildung bleibt kaum Alternative. Als sich der sich ebenfalls mehr schlecht als recht durchs Leben schlagende Riquet anfängt, für sie zu interessieren, antwortet sie nicht nur mit spontaner Ablehnung, sondern denunziert den jungen Mann, der heimlich selbstgebackene Waffeln unter der Hand verkauft, bei dessen Chef (Olivier Gourmet), um selbst den Stand übernehmen zu können. Womit sie nicht rechnet, ist Riquets Hartnäckigkeit. Der ist, bei aller verzweifelten Gegenwehr Rosettas, schließlich sogar zur Stelle, als sie verzweifelt zum Suizid schreiten will.
Just an dieser Stelle entlassen uns die Dardennes wieder ad hoc aus dem Geschehen; die Weitererzählung, wie auch immer sie ausfallen mag, ist allein dem Rezipientenkopf vorbehalten. Und noch ein wenig karger wirkt Rosettas mit denselben formalen Mitteln erzählte Geschichte im Vergleich zu der von Igor in „La Promesse“ – beides Coming-of-Age-Storys vor der grauen Stadtkulisse Seraings (erstere jedoch flankiert durch ein wesentlich greifbareres Narrativ), scheint der sich gegen eindeutig Falsches positionierende Igor zumindest noch die Wahl einer Weggabelung zu erhalten, derweil Rosetta überhaupt keinen Ausweg mehr sieht. Doch gibt es auch einen für sie, den sie allerdings unter größten Überwindungen erst annehmen lernen muss: sie wird geliebt. Und geliebt sein werden kann, zumal, wenn man aus blanker Selbstverständlichkeit gewohnt ist, sich 24/7 im Elend zu suhlen, überaus anstrengend sein.
8/10