LET ME IN

„Can’t we just keep things the way they are?“

Let Me In ~ UK/USA ~ 2010
Directed By: Matt Reeves

Der zwölfjährige Owen (Kodi Smit-McPhee) hat alles andere als ein einfaches Leben. In einer freudlosen Mehrfamilienhaussiedlung in Los Alamos bei einer alleinerziehenden, dem Alkohol frönenden Mutter (Cara Buono) wohnend, muss der zarte Junge darüberhinaus in der Schule tagtäglich das quälende bullying des Schlägers Kenny (Dylan Minette) und seiner beiden Adlatusowie (Jimmy Jax Pinchak, Nicolai Dorian) ertragen. Als ein älterer Herr (Richard Jenkins) und die gleichaltrige Abby (Chloë Grace Moretz) neben ihm einziehen, hellt sich Owens spröder Alltag zumindest ein bisschen auf: Mit Abby, die viel Verständnis für ihn und seine Situation aufbringt, freundet er sich rasch an und beginnt auch zögerlich, hinter das Geheimnis des Mädchens zu kommen – dieses ist nämlich gar kein Mädchen, zumindest nicht im traditionellen Wortsinn…

Neuadaptionen und Remakes sind ja ebenso klassisches Kinotreibgut wie Sequels und Reboots. Ein klein wenig mehr Fragwürdigkeit mag sich in die Diskussion um das Für und Wider von ersteren einschleichen, wenn sie so zeitnah zum „Original“ entstehen wie „Let Me In“ nach Tomas Alfredsons „Låt Den Rätte Komma In“. Während der schwedische Regisseur, dem Recycling vorhandenen Materials nebenbei selbst keineswegs abgeneigt, wohl relativ erbost war über die Zweitverfilmung für den anglophonen Markt, zeigte sich dem Vernehmen nach zumindest John Ajvide Lindqvist, der Autor der Romanvorlage, zufrieden mit ihr.
Dem spricht grundsätzlich nichts zuwider, auch „Let Me In“ (die zweite namhafte Produktion des just wiedererweckten, englischen Traditionsstudios Hammer nach dem schönen „Wake Wood“), der auf Reeves‘ Found-Footage-Monsterepos „Cloverfield“ folgte, reüssiert als sehenswerter Gattungsbeitrag. Der Film greift die meisten Kerntropen, die auch „Låt Den Rätte Komma In“ auszeichnen, auf und schafft zudem eine kaum minder morbid-romantische Atmosphäre, die die beiden KinderdarstellerInnen vorzüglich auskleiden. Gewiss, die Zugeständnisse an die nunmehr wesentlich größere Rezipientenschaft sind unübersehbar; so gibt es hierin deutlich kinetischer inszenierte Sequenzen in Bezug auf die Attacken von Abby und vor allem die ihres namenlosen Renfield-Lakaien. Das Vampirmotiv scheint mir hinsichtlich seiner diversen filmischen und literarischen Wurzeln deutlich traditionsverbundener verhandelt, alles wirkt größer, teurer, mainstreamiger. Zudem reitet „Let Me In“, dafür sprechen die romantisierende Verwendung von Popkulturartefakten wie der Arcade oder der flotten Songkompilation, den mittlerweile ziemlich abgehalfterten Achtziger-Retro-Zossen in sehr viel nostalgieaffinerer Weise als „Låt Den Rätte Komma In“, in dem, zumal vor dem Hintergrund der unterkühlten Secret-Service-Songs, Zeit und Zeitkolorit noch eher wie schmucklose Gefängnisse ihrer TeilhaberInnen wirken. Den größtmöglichen Stolperstein entfernte man jedoch kurzerhand, in dem die Frage nach der Geschlechtsidentität des kindlichen Vampirs sich nicht länger akut stellen muss; obschon Abby mehrfach betont, dass sie „kein Mädchen“ sei, darf doch sicher davon ausgegangen werden, dass sie mal eines war (und kein kastrierter Junge, wie es der Roman eindeutig und die Erstverfilmung zumindest naheliegend formulieren). Die mehr und mehr florierende Romanze zwischen Owen und Abby gestaltet sich also, ganz im Sinne der rezeptorischen Massenkompatibilität, heteroclean und ohne „störende“ queere Implikationen. Abgesehen von diesen kleinen Reförmchen, die man als Verrat am Grundgerüst der Geschichte auslegen könnte oder auch nicht, gibt „Let Me In“ allerdings einen durchaus schönen Vampirfilm ab und ein Kleinod seines Subgenres. Bloß originell, das ist er leider weniger.

7/10

LE FILS

Zitat entfällt.

Le Fils (Der Sohn) ~ BE/F 2002
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne

Der Tischler Olivier (Olivier Gourmet) bildet straffällig gewordene Berufsschullehrlinge in seinem von ihm innig geliebten Fach aus. aus. Als eines Tages ein neuer Azubi namens Francis (Morgan Marinne) vor Ort auftaucht, versucht Olivier zunächst alles, den Jungen von sich fernzuhalten und lehnt sogar einen Platz in seinem Kurs für ihn ab. Schließlich entscheidet er sich dann doch, Francis unter seine Fittiche zu nehmen und bemüht sich zugleich, mehr über den schüchternen Burschen zu erfahren. Der Grund für das alles ist so erschreckend wie unheimlich – Francis hat vor einigen Jahren Oliviers kleinen Sohn getötet.

Wiederum in Seraing angesiedelt, diesmal jedoch mit einem versöhnlicheren, weitaus weniger ausgewaschenen Blick auf die grenznahe Wallonenstadt als in ihren beiden Vorgängerfilmen, erzählen die Dardennes eine bewegende Geschichte um die wohlfeilen Traditionstopoi Schuld, Sühne und Erlösung. Wie gewohnt sind die verwendeten Formalia so karg und buchstäblich dogmatisch wie nur irgend möglich und die sich nur sehr zögerlich ergebende Entschlüsselung der höchst komplexen Motivationslage ihres Protagonisten Olivier immens spannungsvoll. Der seit „La Promesse“ fest zur personellen Grundausstattung der Dardennes gehörende, allerweltsgesichtliche Olivier Gourmet trägt dabei ausnahmslos jede Szene und evoziert trotz scheinbar stoischer Mimik ein Maximum an Interesse an seiner Figur. Was mit diesem so selten eine äußere Regung zeigenden Olivier, wie sich immer wieder beweist, beinahe eine Art Magier in seinem Metier, eigentlich los ist, entbättert das Script nur ganz peu à peu: Einst mit der Tankstellenangestellten Magali (Isabella Soupart) verheiratet, offenbart diese ihm, dass sie demnächst eine neue Ehe anstrebe und außerdem schwanger sei. Den Grund für die vormalige Trennung des Paares und auch für Oliviers Unfähigkeit, nunmehr anders als in Zwei- bis Dreiwortsätzen mit Magali zu kommunizieren, erfährt man im weiteren Verlauf – die beiden haben ihren kleinen Sohn verloren und darüberhinaus auch sich. Oliviers ganzer Lebensinhalt besteht nunmehr in seiner Arbeit, im Zuge derer das Schicksal eine Kreisbewegung vollführt. Mit dem sechzehnjährigen Francis nämlich, der gerade fünf Jahre im geschlossenen Jugendstrafvollzug hinter sich hat, begegnet Olivier just dem Jungen, der sein Leben einst entscheidend verändert hat, jenem Jungen nämlich, der seinen Sohn und damit auch die innere Harmonie Oliviers auf dem Gewissen hat. Und dieses mochte sich nie wirklich erleichtern. Francis leidet unter Einsamkeit, Angstattacken und muss regelmäßig Sedativa einnehmen. Warum Olivier sich des Jugendlichen, der freilich nicht um die eigentliche Identität seines Lehrers weiß, fast unmerklich annimmt, bleibt offen. Will er sich möglicherweise in einem geplanten Akt der Selbstjustiz rächen oder geht es ihm doch um bloßes Verständnis? Ein gemeinsamer Besuch in einem entlegenen Holzverarbeitungsbetrieb wird die kryptische Beziehung des Paars schließlich kulminieren lassen, die Wahrheit auftischen und die meisten offenen Fragen beantworten. Insofern vollzieht „Le Fils“ gewissermaßen auch wieder einen geschlosseneren Abschluss als „Rosetta“, einen, der so heimlich herzerwärmend wie unspektakulär daherkommt, vor allem aber einen, der der Doppeldeutigkeit des Titels erst ihre wahre Immanenz verleiht.

8/10