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Deux Jours, Une Nuit (Zwei Tage, eine Nacht) ~ BE/F/I 2014
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne
Die Prüfungen reißen nicht ab für die junge Familienmutter Sandra Bya (Marion Cotillard). Noch nicht wirklich von einer mittelschweren Depression genesen, verliert sie augenscheinlich ihre Einstellung als Arbeiterin in einer Firma für Solarzelleninstallation. Der Grund dafür ist wiederum so bodenlos wie perfid: Die sechzehn MitarbeiterInnen aus ihrer Abteilung wurden, ohne Sandra davon zu informieren, vor eine Wahl gestellt: entweder jede/r von ihnen kassiert eine Prämie von eintausend Euro oder Sandra darf ihren Job behalten. Die erste Abstimmung gehr deutlich zu Sandras Ungunsten aus – eine mittlere Katastrophe sowohl für ihren psychischen Gesundheitszustand als auch für die klamme Haushaltskasse der Byas. Sandras taffe Kollegin Juliette (Catherine Salée) initiiert jedoch eine weitere Abstimmung, da einige KollegInnen wohl von Vorarbeiter Jean-Marc (Olivier Gourmet) in ihrer Entscheidung beeinflusst wurden. Sandra hat nun ein überaus entbehrungsreiches Wochenende lang Zeit, ihre MitarbeiterInnen aufzusuchen und zu überzeugen, für sie statt für die Prämie zu voten.
„Deux Jours, Une Nuit“ führt die Dardennes tiefer als zuvor auf das Terrain ehern sozialengagierter, linker Filmemacher wie etwa Ken Loach. So unnachgiebig wie noch nie observieren die Brüder hierin die bleiern verankerte Inhumanität hinter kapitalistischen Funktionsweisen und wie dabei zwischenmenschliche Beziehungen und Einzelschicksale nicht nur komplett ausgeblendet, sondern als Kollateralschäden bewusst einkalkuliert werden: der Neoliberalismus als durchgängig misanthropischer Albdruck. Analog dazu ergibt sich eine ungeheure Vielschichtigkeit, die „Deux Jours, Une Nuit“, gerade in jüngerer Zeit, zu einem der wichtigsten und dabei meisterlichsten Filme seiner Provenienz macht. Die depressive, von Marion Cotillard (nach Cécile de France eine weitere „prärenommierte“ Hauptdarstellerin) exzellent gespielte Sandra kann nicht mehr und muss doch. Am liebsten würde sie nurmehr die beiden Kinder versorgen und den Rest des Tages im Bett bleiben. Doch ihre umtriebige Kollegin Juliette und ihr Mann Manu (Fabrizio Rongione) lassen nicht locker: Ganze dreizehn von sechzehn KollegInnen – soviele haben für Sandras Entlassung und ihre persönliche Prämie gestimmt – gilt es, binnen zweier Tage persönlich aufzusuchen und mit ihrer Entscheidung zu konfrontieren. Sandra schämt sich zutiefst, kommt sich vor wie eine rückgratlose Bettlerin und Schnorrerin bar jeden Stolzes und doch stößt sie im Verlauf jener entbehrungsreichen 36 Stunden immer wieder auf Reaktionen, die die eklatante Richtigkeit ihres Handelns nicht nur bestätigen, sondern sogar unterstreichen. Nicht jede/r begegnet Sandras immer wieder aufs Neue durchexerzierter Ansprache mit Verständnis oder gar Mitgefühl, hier und da rufen ihre Besuche sogar offene Aggression hervor. Einige jedoch gehen auf ihren Appell ein, oder bedanken sich sogar für die Chance eines zweiten Votings, da sie beim ersten vorschnell oder durch Suggestion entschieden haben und ihre Wahl nunmehr bereuen. Für eine Kollegin, Anne (Christelle Cornil), eröffnet sich sogar erst durch Sandras Insistieren die Möglichkeit, sich endlich von ihrem aggressiven Mann (Donovan Deroulez) loszusagen.
Wie alle diese Persönlichkeitsfacetten im Zuge einer (im Vergleich zu den früheren Filmen der Dardennes) sommerlich-lichtdurchfluteten tour de force, die die beständig auf Xanax befindliche Sandra seziert werden, darin liegt eine gleichermaßen fordernde wie mitreißende Spannkraft. Immer wieder durchbrochen von kleinen Momenten des Triumphs und der Hoffnung (eine Lieblingsszene zeigt Sandra, Manu und Anne wie sie in einem der wenigen enthusiastischen, dafür umso freudvolleren Augenblicke das im Autoradio spielende „Gloria“ von Them mitgröhlen) gipfelt Sandras Odyssee schließlich in einem Moment des totalen Sieges moralischer Integrität über die Vernichtungsmechanismen der Geldmaschinerie. Sandra mag ihren Job eingebüßt haben, sich selbst aber hat sie zurückgewonnen.
Vielleicht der schönste Dardenne-Film.
10/10