POUR LA PEAU D’UN FLIC

Zitat entfällt.

Pour La Peau D’Un Flic (Rette deine Haut, Killer) ~ F 1981
Directed By: Alain Delon

Der Pariser Ex-Flic und jetzige Privatschnüffler Choucas (Alain Delon) erhält von der aufgebrachten Madame Piogot (Annick Alane) den Auftrag, ihre verschwundene Tochter, die blinde Marthe (Arielle Sémenoff), ausfindig zu machen. Nicht genug damit, dass sich fast parallel dazu der Polizist Coccioli (Daniel Ceccaldi) einschaltet und Choucas versichert, die Behörden hätten in der Sache bereits alles Menschenmögliche in die Wege geleitet, wird Madame Pigot kurz darauf bei einem geplanten Treffen mit Choucas in aller Öffentlichkeit erschossen. Choucas bemerkt bald, dass er es mit äußerst gefährlichen Gegnern zu tun hat, die ihm ans Leder wollen und zu diesem Zwecke unter anderem seine charmante Sekretärin Charlotte (Anne Parillaud) kidnappen. Doch Choucas kennt selbst keinerlei Skrupel, wenn es darum geht, sich zur Wehr zu setzen…

In seinem ersten (von insgesamt zweieinhalb) Regieversuchen kultiviert Delon parallel zu den kommerziell orientierten Filmen seines Kollegen Belmondo jener Ära seine Leinwand-Persona für die achtziger Jahre. Von der schweigsamen coolness früherer Genrefilmrollen, eventueller Angreifbarkeit oder den seine Figuren manchmal umgebenden Mysterien bleibt in „Pour La Peau D’Un Flic“ nicht mehr viel. Delons p.i. Choucas ist ein mit allen Wassern gewaschener Tausendsassa. Mit Mitte 40 bereits leicht angegraut, auf alle Autoritäten spuckend, frech wie Rotz, sexistisch, selbsträsonistisch und ohne Umschweife zur 45er greifend, verteilt er ebenso reichhaltig Blei wie er selbst kassiert. Die noch nichtmal halb so alte Sekretärin (eine zeigefreudige Anne Parillaud als unsterblicher Fan amerikanischer Filmklassiker) ist ihm natürlich längst verfallen – umso flotter hat sie diesen Ausbund an Maskulinität in den Federn und lässt sich vom eigenen Mann, offenbar ein Penner vor dem Herrn, scheiden. Eine Vergewaltigung steckt sie spurlos und mit einem lockeren Spruch weg; das Mädel ist nicht minder taff als ihr Boss. Mit Choucas‘ älterem Partner Haymann (Michael Auclair), ebenfalls Kriminaler a.d., als dritten im Bunde ergibt das ein schlagkräftiges, lustiges Trio mit einer Menge Blei im Anschlag. Es wirkt schon ein wenig kaltschnäuzig, wie Delon als psychologisch praktisch völlig unnuancierter Choucas seine Gegner von der Platte putzt, aber so war das damals eben noch. Spaß macht der mit eingermaßen zurückhaltender Brandt-Synchro versetzte, verwickelt erzählte „Pour La Peau D’Un Flic“ jedenfalls in großem Stil und auch wenn einige stilistische Fingerübungen Delons hier und da Fragezeichen hinterlassen, ist das Ganze doch schon eine veritable Hausnummer, zumal als Abbild seiner Zeit.

7/10

LA FILLE INCONNUE

Zitat entfällt.

La Fille Inconnue (Das unbekannte Mädchen) ~ BE/F 2016
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne

Just während die Nachwuchsinternistin Jenny Davin (Adèle Haenel) dabei ist, ihren Praktikanten Julien (Olivier Bonnaud) zu rüffeln, klingelt es an der Praxistür. Die Sprechstunde ist jedoch längst vorüber, die Tür bleibt geschlossen. Am nächsten Morgen steht die Polizei vor der Tür – die späte, unidentifizierbare Besucherin wurde unweit der Arztpraxis tot an der Maas aufgefunden. Möglicherweise handelte es sich um ein Gewaltverbrechen. Für Jenny ist offensichtlich, dass die junge Frau noch leben könnte, hätte sie am Vorabend anders reagiert. Auf eigene Faust beginnt sie, Recherchen anzustellen – weniger, um den möglichen Kriminalfall zu lösen als um herauszubekommen, um wen es sich bei der Toten eigentlich handelt. Nach und nach gelingt es ihr, Licht ins Dunkel zu bringen.

Eine weitere Städtetour mit den Dardennes durch Seraing, die uns diesmal an die Seite einer jungen, aufopferungsvollen Jungärztin stellen und dabei, wie schon mehrfach zuvor, einen gezielt doppeldeutigen Titel für ihre Geschichte installieren. Das unbekannte Mädchen, das ist nicht nur die illegal eingewanderte, junge Zwangsprostituierte, deren Herkunft Jenny am Ende entschlüsseln wird, sondern auch sie selbst. Mit Jennys investigativer Odyssee werden wir zugleich Zeugen ihres eigenen Alltags, der einzig und allein im Zeichen ihres Berufs steht. Jenny, die in Abwesenheit ihres alternden, sich soeben zur Ruhe setzenden Mentors Dr. Habran (Yves Larec) dessen Praxis und PatientInnen betreut, befindet sich vor einem gewaltigen Sprung auf der Karriereleiter: Ihre neue Anstellung im Kennedy-Zentrum für PrivatpatientInnen hat sie bereits sicher; ein Namensschild ziert dort schon ihr Büro. Dabei ist sie selbst alleinstehend, einsam und ausschließlich für ihre oftmals aus einfachen sozialen Verhältnissen stammenden Schützlinge da. Dennoch erfüllt sie ihr Beruf zur Gänze, eine Mischung aus eherner Menschenliebe und inniger Empathie kräftigt sie und scheint Berufskrankeitsbilder wie Burnout in weite Ferne rücken zu lassen. Zudem ist Jenny aufgrund ihrer stets zutreffenden Anamnesen gewohnt, aktiv und zielsicher helfen zu können. Umso belastender für sie die Situation um jenes tote, namenlose Mädchen, die sie andererseits tiefer in eine Patientenfamilie hineinführt und sie andererseits selbst mit einer eminenten Lebensentscheidung konfrontiert.
Natürlich gelingt den Dardennes mit ihrem bewusstem Stil erneut ein herausragendes Stück Film, das traditionell gewohnte Topoi wie illegale Migration und Verantwortungsübernahme im Angesicht von Richtig und Falsch verhandelt. Dennoch ist – wiederum – manches anders: Erstmals überschreitet die Erzählzeit die magische 100-Minuten-Grenze, die Liebäugelei mit dem Kriminalfilmgenre sorgt für den einen oder anderen nicht immer folgerichtig erscheinenden Scriptmoment. Eine durchweg integre Heldin in strahlender Rüstung, wie sie Jenny Davin abgibt, hatten wir bisher noch nie und dann gibt es sogar Momente (unfreiwilliger?) Komik wie einen missglückten Suizidversuch gegen Ende. Kritischere ZeitgenossInnen legten all das als lässliche Schwächen oder gar Faux-pas aus; ich finde nicht, dass „La Fille Inconnue“ dadurch wesentlich beschädigt wird. Es ist und bleibt trotz allem ein schöner, warmherziger Beitrag zu einem beinahe makellosen Œuvre.

8/10

THE LITTLE GIRL WHO LIVES DOWN THE LANE

„What about school?“ – „School is having people tell you what life is and never finding out by yourself.“

The Little Girl Who Lives Down The Lane (Das Mädchen am Ende der Straße) ~ CAN/F 1976
Directed By: Nicolas Gessner

Die dreizehnjährige Rynn Jacobs (Jodie Foster) lebt erst seit kurzem in einem kleinen, einsam gelegenenen Haus an der neuenglischen Küste. Das pittoreske Heim hat ihr Vater, ein Berufsautor, der mit Rynn zuvor jahrelang in England lebte, gemietet. Es dauert nicht lang, bis die Leute der dazugehörigen, kleinen Stadt auf Rynn aufmerksam werden, darunter die biestige Vermieterin Mrs. Hallet (Alexis Smith), deren hinlänglich als pädophil berüchtigter Sohn Frank (Martin Sheen) oder der Streifenpolizist Miglioriti (Mort Shuman) So besucht das überaus kluge, selbstbewusste Mädchen etwa keine Schule und lässt sich kaum in der Öffentlichkeit sehen. Ihr Vater macht sich sogar noch rarer; entweder will er bei seiner Arbeit nicht gestört werden oder ist auf Reisen, wie Rynn jedem, der nach ihm fragt, versichert. Mit dem Außenseiter Mario (Scott Jacoby) hat sie immerhin bald einen Freund, dem sie aufrichtig Liebe und Vertrauen entgegenbringen kann. Doch die Erwachsenen lassen Rynn nicht in Ruhe…

Nicolas Gessners auf einem Bühnenstück und später dazu verfassten Roman von Laird Koenig basierendes Drama erweist sich als ebenso spannend erzähltes wie vielschichtig dimensioniertes Kino, das dem Publikum ein gerüttelt Maß an diskursiver und auch philosophischer Eigenarbeit abverlangt. So erfährt man erst nach etwa der Hälfte der Spielzeit, welche Umstände Rynn wirklich in ihre gegenwärtige Lage getrieben haben: Der Vater hat sich, gezeichnet durch schwere Krankheit und dem Tode nah, im Atlantik ertränkt; die in England zurückgelassene Mutter, offenbar eine garstige, vereinnahmende Frau, fand Lynn später vor Ort und wurde dann von dem Mädchen mit dem ausdrücklichen Segen des Vaters vergiftet und ihre Leiche im Keller des Hauses versteckt. Um das Ansinnen des Vaters betreffs der Entwicklung seiner Tochter aufrecht erhalten zu können, muss das Mädchen ergo zur Mörderin werden – mehrfach, wie sich nach und nach erweisen wird.
Unser autoritär geprägtes, Jugendlichen keinerlei Mündigkeit zugestehendes Gesellschaftssystem lässt es schlichterdings nicht zu, dass ein Mädchen wie Rynn ihr eigenes, autonom gestaltetes Leben führen darf. „How old do you have to be before people start treating you like a person?“ fragt sie einmal und bringt damit die gesamte Crux ihrer individuellen Situation zum Ausduck. Entgegen aller ethischen Verträge und unter dem posthumen Appell des Vaters verteidigt sie ihre Selbstständigkeit bis aufs Blut und zumindest zunächst auch hinreichend geschickt, um unter dem Radar des beschirmten Rechtsauges damit durchkommen zu können. Die hexenartige Mrs. Hallet fällt einem Unfall in Rynns Haus zum Opfer -; die Umstände verlangen von dem Mädchen, dass sie die Leiche verschwinden lässt. Dazu – und nicht nur dazu – lässt ihr der etwas ältere teen outcast Mario seine unvoreingenommene Hilfe zukommen; er hilft ihr, Spuren zu verwischen und ihre Illusion vom noch lebenden Vater aufrecht zu erhalten. Wie Rynn ist Mario ein Sonderling. Gezeichnet durch eine spät ausgebrochene Kinderlähmung hinkt er und wenn die anderen Jugendlichen der Gegend sich beim Football vergnügen, gibt er Zaubervorstellungen auf Kindergeburtstagen. Rynn und Mario verstehen sich, verlieben sich und schlafen miteinander, eine weitere Unpässlichkeit wider jedwedes soziale Normativ. Das pure Böse schlägt jedoch abermals zu – in der Person von Mrs. Hallets Sprössling Frank, einem kleinen Mädchen nachstehenden Tunichtgut und Sadisten von wiederum überaus intelligentem, aber ebenso offen diabolischem Wesen. Aus einer Laune heraus quält er Rynns Hamster zu Tode, bedroht und erpresst das Mädchen später, ihm, während Mario im Krankenhaus liegt, hörig zu sein. Wiederum ist Rynn zur gewalttätigen Entledigung eines erwachsenen Störfaktors gezwungen und während sie dem tödlich vergifteten Frank Hallet beinahe reglos beim Sterben zusieht, laufen bereits die end credits. Koenig und Gessner entlassen uns mit diesem einerseits durchaus befriedigenden, schicksalsträchtigen Selbstjustizakt in ein konsequentes Dilemma – wenngleich Rynns Chancen, auch diesen Mord (oder besser: Todesfall?) zu vertuschen, höchst gering ausfallen, wünscht man ihr insgeheim, dass alles gut gehen möge, dass ihr Mario wieder gesund wird und das Paar auf eine gemeinsame, stabile Zukunft bauen kann. Andererseits ist diese Zukunftsprojektion wohl so romantisch wie naiv. Obwohl wir sie als kluge, eloquente Kindfrau erleben, wird Rynn langfristig keinen Chancen haben, sich sozial zu etablieren und einem (durchaus verdient) ungestörten Leben nachgehen zu können. Die Vergangenheit wird ihr immer wieder auflauern und ein Lebensstil, wie ihr Vater und sie selbst ihn für sich wünschen, dürfte langfristig unmöglich sein, aus vielerlei offensichtlichen Gründen. Ob Rynn mit ihrem freiheitlichen Selbstverständnis nun nicht reif ist für unsere Gesellschaft oder vice versa, mit dieser Entscheidung darf man sich schlussendlich tragen.
Vor allem jener bestimmte Verzicht auf jede Form moralinsaurer Tendenziösität macht „The Little Girl Who Lives Down The Lane“ nachträglich zu einem kleinen Meisterwerk.

9/10