DEN USKYLDIGE

Zitat entfällt.

Den Uskyldige (The Innocents) ~ NO/FIN/S/DK/F/UK 2021
Directed By: Eskil Vogt

Die neunjährige Ida (Rakel Lenora Fløttum) zieht mit ihren Eltern (Ellen Dorrit Petersen, Morten Svartveit) und ihrer etwas älteren, schwer autistischen Schwester Anna (Alva Brynsmo Ramstad) in eine kleine Mehrfamilienhaus-Trabantensiedlung außerhalb der Stadt. Es sind Sommerferien und obwohl hier fast nur junge Familien mit Kindern leben, sind die meisten im Urlaub. Dennoch lernt die aus mehrerlei Gründen frustrierte Ida (sie ist eifersüchtig auf Anna, weil der Großteil der elterlichen Aufmerksamkeit zwangsläufig ihr gebührt und empfindet zudem die Umzugssituation als belastend) zwei Nachbarskinder kennen, beide Außenseiter, beide jeweils aus Familien mit Migrationshintergründen stammend und beide bei alleinerziehende Müttern lebend: Ben (Sam Ashraf) leidet unter der offenkundigen Überforderung sowie dem fast schon exponierten Desinteresse seiner Mutter (Lisa Tønne) an ihm und beherbergt hinter seinem traurig anmutenden Äußeren tiefliegende Aggressionen, Aisha (Mina Yasmin Bremseth Asheim), die jüngste im Bunde, hat Vitiligo, ist zutiefst empathisch und spürt die anhaltende Trauer ihrer Mutter (Kadra Yusuf), die wohl aus dem Verlust des Partners herrührt. Rasch entdeckt Ida, dass die beiden, offenbar nochmals verstärkt durch Annas Anwesenheit, besondere Begabungen haben – so können sie zueinander telepathische Verbindungen aufbauen. Ben verfügt zudem über telekinetische Kräfte und eine Art Fernhypnose, mit der er sich andere zeitweilig zuwillen machen kann. Durch den Kontakt mit Anna, in der ebenfalls solche Fähigkeiten schlummern, verstärken sich diese Anlagen nochmals. Bei Ben jedoch wächst analog zu seinem Können auch seine tiefe, innere Wut…

Auf scheinbar irrationale Weise veränderte, besessene oder einfach von Natur aus böse Kinder und Jugendliche bilden im Phantastischen Film bereits seit vielen Jahrzehnten ihr eigenes Subgenre heraus, das oftmals besonders interessante bis sehenswerte Beiträge hervorbringt und in den letzten Jahren wieder frequentierter bedient wurde. Mit dem Triumphzug des Superheldengenres erweitertet sich schließlich auch der diesbezügliche Motivpool nochmals entscheidend: Werke wie Josh Tranks „Chronicle“, David Yaroveskys „Brightburn“ oder Josh Boones sogar direkt bei Marvel entlehnte „The New Mutants“-Adaption etwa zeigten das entsprechende Potenzial im amerikanischen Bereich bereits deutlich auf. Die Skandinavier taten sich indes insoweit im Coming-of-Age-Sektor hervor, als dass sie das herannahende Erwachsenwerden als thematischen Überbau für eindeutig im Horror verwurzelte Metaphorik wählten. „Den Uskyldige“ wagt diesbezüglich gewissermaßen einen Brückenschlag und verwendet dafür sehr profitable Ansätze. So erzählt Vogt seine beunruhigende Geschichte ausschließlich aus der Perspektive der kindlichen ProtagonistInnen. Ihre ganz subjektive, steng limitierte Wahrnehmung des Äußeren, ihres sozialen Mikrokosmos und der paternalistischen Strukturen, denen sie untergeordnet sind, trägt die gesamte Diegese. Für die Kids (und somit auch das Setting des Films) besteht ihre Welt aus der kleinen Hochhaussiedlung, einem seltsam untiefen Anrainerwald, dem Spielplatz, der begrenzenden Landstraße. Dahinter ist erstmals nichts weiter von Bedeutung. Sein vordringliches, transgressives Moment entwickelt der Film innerhalb dieses scharf umrissenen Areals nun aus dem Mysterium, das die präpubertäre, kindliche Psyche (Ida, Ben und Aisha sind allesamt unter oder um die zehn Jahre alt – bei Freud entspräche das exakt der Latenzphase) für (uns) Erwachsene darstellt. Ein gegebenfalls noch nicht zur Gänze ausgeprägtes Moralgerüst, die Möglichkeit, Verantwortung abzulehnen oder an die Erwachsenen weiterzureichen, primär instinktiv getroffene und vollzogene Entscheidungen zählen ebenso dazu wie ein noch unterentwickeltes Verständnis für das Endgültige oder scheinbar sinistre Charakterzüge wie Sadismus und Boshaftigkeit, die dem infantilen Werden stets wesensinhärent sind. Auch diesbezüglich bewegt sich „Den Uskyldige“ nah an stark freudianischen Diskursen. Dadurch nun, dass die Kinder jene Fähigkeiten entwickeln, jedoch keineswegs das für deren Einsatz unabdingbare Verantwortungsbewusstsein, beginnt ihr Umfeld sich in bedrohlicher Weise sukzessive zu zersetzen. Dabei lässt Vogt sich nicht von etwaigen Erläuterungszwängen ausbremsen; woher die Kräfte ursächlich stammen, ja, sogar, ob sie wirklich existent sind oder nicht bloß einem eskapistischen Gruselmärchen (Rationalisierungsbstrebungen der sommerlichen Gewaltausbrüche wären ebenso möglich) der noch ortsfremden, sich vielleicht in Teilphantastereien flüchtenden Ida entspringen, wird zur bloßen Entscheidung rezeptionistischer Erwägungen. In jedem Fall gelang dem bislang nur wenig in Erscheinung getretenen Vogt mit „Den Uskyldige“ ein Sommermärchen der ganz anderen Art; sonnendurchflutet-zwielichtig, im Unterholz lauernd, gelegentlich offensiv und doch beseelt von einer ganz eigenen, finsteren Magie. Wie die Kindheit.

9/10