THE FLORIDA PROJECT

„I can always tell when adults are about to cry.“

The Florida Project ~ USA 2017
Directed By: Sean Baker

Der Sommer hält Einzug in Kissimmee, Florida, was bedeutet, dass jetzt noch mehr Touristenströme in den hiesigen Disney-World-Park pilgern. Für die sechsjährige Moonee (Brooklynn Kimberly Prince), die mit ihrer Mom Halley (Bria Vinaite) im angrenzenden „Magic-Castle“-Motel wohnt, ändert sich dadurch allerdings wenig. Moonees Alltag und der ihrer Freunde Scooty (Christopher Rivera) und Dicky (Aiden Malik) bewegt sich weiter in den gewohnten Bahnen, die daraus bestehen, lustige Abenteuer zu erleben, kleine und große Streiche zu spielen und ihren semierwachsenen Bezugspersonen, die unterhalb des Existenziminimums vegetieren, die Liebe zu erhalten.

Sean Bakers erschütterndes Kindersoziogramm inmitten einer jedweder Vorhersehbarkeit entsagenden Mutter-/Tochter-Geschichte bewegt gerade deshalb zutiefst, weil es von wenigen, notwendigen Ausnahmen abgesehen, seine dediziert infantile Perspektive wahrt und sich der eigentlich naheliegenden, bleiernen Tragik einer allzu analytischen Vivisektion der dazugehörigen Prekariatsexistenz strikt verweigert. Für Moonees noch kurze Jahre ist das Leben nicht schlecht. Die warme Sonne Floridas scheint, sie kann die meiste Zeit des Tages tun und lassen wozu sie Lust hat und die pastellgetünchten Wände des Magic Castle und der anderen umliegenden Motels fassen die bonbonfarbene Scheinrealität in ein äußerlich wohlig anmutendes Alternativamerika. Dass Moonees Mama, im Prinzip selbst noch ein Kind, ihr somit sehr viel mehr große Schwester als Mutter ist und nichts gelernt hat mit der Ausnahme, sich irgendwie durch die nächsten zwölf bis vierundzwanzig Stunden zu lavieren – geschenkt. Es gibt immerhin ständig Fast Food oder Eiscreme, irgendwie erschnorrt, erbettelt, durch Kleinkriminalität oder Prostitution finanziert. Die naheliegenden Sümpfe oder die Zeitzeugen des letzten Börsencrashs in Form leerstehender Immobilien ergeben großartige Abenteuerspielplätze, die die Imagination in wesentlich komplexerer Form anheizen als die benachbarten und doch unerreichbaren Fahrgeschäfte und Touriattraktionen aus Blech und Plastik. Und die müßig scheinenden Sorgen der Erwachsenenwelt? Die werden immerhin semipermeabel abgeschirmt; unter anderem vom Motelmanager Bobby (Willem Dafoe), eigentlich sehr viel mehr Sozialarbeiter als Hausmeister. Irgendwann sind dann jedoch auch Bobbys Ressourcen erschöpft, der Traum von Mutter und Tochter gegen den Rest der Welt ist ausgeträumt und die Flucht nach vorn, nämlich die vor den bösen MitarbeiterInnen vom Jugendamt, wird eine kurze werden. Warum zuvor so viel Merkwürdiges passiert ist; warum etwa Halley anderen gegenüber so oft zwischen Bettelei und Wut changiert, warum Moonee manchmal mit lauter Musik im Kopfhörer in der Wanne sitzen muss, warum Bobby einen komischen, älteren Kauz (Giovanni Rodriguez) vom Motelgelände verjagt, oder warum ihre Mom sich so gnadenlos mit deren bester Freundin Ashley (Mela Murder) verkracht und sie danach nicht mehr mit Ashleys Sohn Scooty spielen darf – das alles wird Moonee vielleicht erst Jahre später verstehen. Bis dahin bleibt ihr die Gnade der vergänglichen Wahrnehmung der frühen Kindheit.

10/10

DYING OF THE LIGHT / DARK

„The truly dangerous people are the ones who follow orders.“

Dying Of The Light / Dark ~ USA/BAH 2014/2017
Directed By: Paul Schrader

Seit der CIA-Agent Evan Lake (Nicolas Cage) vor zweiundzwanzig Jahren von dem Islamistenführer Muhammad Banir (Alexander Karim) einem Folterverhör unterzogen wurde, ist er von dem Gedanken besessen, seine alte Nemesis dingfest zu machen. Nach dem Zugriff der Agency galt Banir offiziell als tot, Lake jedoch ist überzeugt davon, dass er sich noch irgendwo unter anderem Namen versteckt hält. Als Lake erfährt, dass er unter FTD leidet, einer besonders aggresiven Form von Demenz, setzt er alles daran, seine letzte persönliche Mission noch durchführen zu können, wird aber umgehend in den Ruhestand versetzt. Lakes Kollege Milton Schultz (Anton Yelchin) erhält derweil brandaktuelle Informationen, die über Umwege zu dem sich in Mombasa versteckt haltenden Banir führen: Offenbar leidet auch dieser an einer tödlichen Krankheit namens Thalassämie, für die er ein spezielles Medikament benötigt, das er aus Bukarest bezieht. Lake und Schultz reisen nach Rumänien und finden heraus, dass ein Doktor Cornel (Serban Calea) Banirs medizinische Versorgung übernommen hat. Lake nimmt Cornels Identität an und stellt sich Banir in Kenia.

Geht es um „Dying Of The Light“, ist dessen unrühmliche Herstellungs- und Veröffentlichungsgeschichte unumgänglich. Der beinahe fertige Film, der ursprünglich von Nicolas Winding Refn mit Harrison Ford und Channing Tatum hatte inszeniert werden sollen, wurde Regisseur Schrader während der Postproduktionsphase aus den Händen gerissen, umgeschnitten, mit neuer Musik sowie einem veränderten color grading versehen mit dem Ziel, die sperrige Fallstudie des Protagonisten für ein größeres Publikum kommensurabel und somit kommerziell attraktiver zu gestalten. Schrader, Cage, Yelchin, Refn und etwas später auch dp Gabriel Kosuth distanzierten sich daraufhin öffentlich von dem Film infolge der Art und Weise, wie ihr künstlerisches Engagement mit Füßen getreten wurde, sie durch einen Knebelvertrag zur Kommentarenthaltung gezwungen und ihnen dennoch die Möglichkeit verwehrt wurde, ihre Namen aus dem Projekt zurückzuziehen. Das Thema ließ Schraders künstlerische Inegrität freilich nicht los und er erstellte drei Jahre später nochmals eine reeditierte Fassung mit dem Titel „Dark“, eine Art fragmentarisch anmutende Rumpf- oder Torsovariation seines ursprünglich geplanten Films. Für die Arbeit daran befleißigte er sich einiger aus der Produktionsphase stammender Workprint-DVDs, da ihm das originäre Digitalmaterial nicht zur Verfügung stand. „Dark“, ursprünglich ausschließlich zur Vor-Ort-Betrachtung in drei amerikanischen Filmarchiven vorbehalten, allerdings längst via semilegale Kanäle beschaffbar, ist fast zwanzig Minuten kürzer als „Dying Of The Light“ und von wesentlich herausfordernder Gestalt, was sowohl seine Form als auch seine inhaltliche conclusio anbetrifft. Den allgemein verfügbaren Produzentenschnitt empfinde ich dabei keineswegs als jenes Volldebakel, zu dem er immer wieder gern deklariert wird. Gewiss, Schraders Signatur ist darin kaum mehr identifizierbar. Der Film lebt beinahe ausschließlich von der sukzessiven Verspiegelbildlichung der Antagonisten Lake – Banir und wirkt ansonsten wie ein in jeder Hinsicht glattgebügelter, risikoloser Agententhriller, der sich vermutlich nicht eklatant von dem Rest von Cages zu dieser Zeit inflationär herausgehauenem DTV-Œuvre abheben dürfte. Anders verhält es sich mit „Dark“, bei dem sich Schrader und sein Cutter Benjamin Rodriguez Jr. unter spürbar avantgardistischer Ägide austobten. In diversen Szenen signifikant kürzer, völlig anders montiert, dabei vollgepfropft mit Farbverfremdungen, Bild-im-Bild-Zooms und vor allem einem an „2001: A Space Odyssey“ gemahnenden, psychedelischen Farbrausch zum Ende, manifestiert sich in diesem Projekt wohl vor allem der – durchaus gelungene – Versuch einer Satisfaktion, eine Veranschaulichung dessen, was grundsätzlich möglich gewesen wäre. Das finale Duell zwischen Lake und Banir, das „Dying Of The Light“ noch ausformuliert (in Form eines aktionsreich inszenierten Terroranschlags auf das Hotel von Lake und Schultz, einem anschließenden, mit der Tötung Banirs endendem Zweikampf sowie Lakes Freitod auf der Straße), wandelt sich in „Dark“ in die vor gleißenden Farb- und Formspektren berstende Reise in ein perzeptives Nirwana, das offenbar Lakes endgültigen geistigen Zerfall im Angesicht seiner kurz vor ihrem Ziel stehenden Reise veranschaulicht. Unter welchen Umständen Lakes Grabstein auf den Arlington-Friedhof kommt, bleibt dann hier wie dort ein Mysterium.
Im Nachhinein empfand ich es als überaus gewinnend, beide Varianten unmittelbar hintereinander sehen zu können, da sich darin eine noch immer halbwegs analytische Vergleichsmöglichkeit feilbietet und sich sowohl Differenzen als auch Gemeinsamkeiten recht zielgenau in Relation setzen lassen.
Zur erhellenden und tiefergehenden Weiterbeschäftigung mit dem Thema möchte ich potenziellen Interessenten noch ein Essay von Lukas Foerster für den Filmdienst, der sich auf höchst lohnenswerte Weise mit Schraders Spätwerk im Allgemeinen, über weite Strecken jedoch primär mit dem Phänomen „Dying Of The Light“/“Dark“ befasst, ans Herz legen sowie einen Beitrag zum Regisseur, den Dominik Graf 2018 im Schatten des Baseler „Bildrausch-Festivals“ für die F.A.Z. (kostenlose Registrierung erforderlich) veröffentlicht hat.

VUELVEN

Zitat entfällt.

Vuelven (Tigers Are Not Afraid) ~ MEX 2017
Directed By: Issá López

Die kleine Estrella (Paola Lara) lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter (Viviana Amaya) in einem der Stadtbezirke von Mexico City. Als es eines Vormittags eine der üblichen Schießereien zwischen den rivalisierenden Narcos gibt, endet die Schule früher. Doch Estrellas Mutter ist nicht zu Hause und sie wird auch nie mehr kommen. Die Wohnung bleibt verlassen und das Mädchen ist von nun an auf sich gestellt. Jedoch scheint der Geist von Estrellas toter Mutter sie fortan überallhin zu verfolgen. In vier obdachlos lebenden Jungen, Shine (Juan Ramón López), Tucsi (Hanssel Casillas), Pop (Rodrigo Cortes) und Morro (Nery Arredondo), die ähnliche Schicksale wie Estrella durchleben, findet Estrella zunächst zögerliche Freunde. Für ihre jeweiligen Verluste machen die Kinder die Huascas verantwortlich, ein von mehreren Brüdern geleitetes Menschenhändler-Syndikat, dessen Kopf Caco (Ianis Guerrero) der Schlimmste von ihnen sein soll. Um den mittlerweile ebenfalls gekidnappten Morro zu befreien und sich der Mitgliedschaft in der Jungenbande als würdig zu erweisen, soll Estrella Caco in seinem Haus erschießen – mit dessen eigener Pistole, die Shine ihm ein paar Nächte zuvor mitsamt seinem Handy gestohlen hat. Estrella findet Caco bereits ermordet vor, kann Morro jedoch nebst ein paar anderen Kindern herausholen. Durch die Aktion ziehen die Kinder nunmehr erst Recht die Aufmerksamkeit der Huascas auf sich, denn auf dem gestohlenen Handy findet sich ein Video, das den in der Politik aufstrebenden Chino (Tenoch Huerta) beim Foltermord an einer Frau zeigt – wie sich herausstellt, Estrellas Mutter…

Durch ihre Aufnahme in das Portfolio des US-Horror-Streaming-Anbieters Shudder konnte Issá López mit bescheidenen Mitteln hergestellte Indie-Produktion „Vuleven“ zwar noch nicht die ihr gebührende, globale Aufmerksamkeit erzielen, sich jedoch zumindest einen kleineren Bekanntheitsgrad auch im anglophonen Raum erschließen. Das traurige, höchst sozialrelevante Thema spurlos verschwindender und/oder auf sich selbst gestellter Kinder in Mexiko diente der üblicherweise im bekömmlicheren Komödienfach tätigen López nach eigenem Bekunden dabei als Aufhänger, um auch persönliche Traumata aufarbeiten zu können. Dass etwa ihr Landsmann Guillermo del Toro „Vuelven“ besonders schätzt (dies wird in einem von ihm mit der Regisseurin geführten Podiumsinterview beim TIFF deutlich, das auf der unbedingt empfehlenswerten US-Blu-ray-Veröffentlichung enthalten ist), verwundert dabei kaum – auch in seinen Filmen „El Espinazo Del Diablo“ und „El Laberinto Del Fauna“ ging es um die Konfrontation kindlicher Seelenwelten mit dem überaus realen Horror erwachsener Gewalt und wie sie diese mittels Realitätsfluchten unbewusst zu bewältigen versuchen. Mit der Gewissheit darüber, dass sie ihre Mutter nie wiedersehen und sich fortan niemand aus der Welt der Schutzbefohlenen mehr um sie kümmern wird, nimmt Estrella Kontakt mit dem Übersinnlichen auf; bald ist es nicht nur ihre Mutter, sondern auch die vielen anderen ungesühnten Opfer von Cacos Entführungen und Chinos Perversionen, die sie als Medium anflehen: „Bring ihn zu uns!“ Estrella vertraut auf die Macht von Wünschen und Märchen, ist jedoch am Ende, nachdem zunächst der kleine Morro und schließlich auch Shine zu Opfern der omnipräsenten Gewalt geworden sind, gezwungen, ihr Kindsein und ihre moralische Unschuld für immer aufzugeben und selbst zu einer Hauptakteurin im ewigen Zirkel des Tötens zu werden.
Issá López nutzt als Narrativ für ihr hochdramatisches Stück klugerweise die reine Kinderperspektive und schildert die Ereignisse durch die Augen von Estrella sowie des sensiblen Shine, die mit ihren etwa zehn Lebensjahren noch die Abstraktionsfähigkeit besitzen, das Ungeheuerliche, dem sie ausgeliefert sind, in Form von Mutproben und Abenteuerspielen zu abstrahieren. Doch sie sind und bleiben Kinder und somit der brachialen, erwachsenen Gewalt, die sie ihrer Menschlichkeit entledigt und zu lästigem Ungeziefer degradiert, weitestgehend schutzlos ausgeliefert. López scheut sich nicht, diese Tatsache kompromisslos zu bebildern und erreicht damit trotz Estrellas poetisch visualisierten Übergängen in parallele Wahrnehmungsdimensionen mit Sühne fordernden Geistern und lebendig werdenden Stofftieren einen überaus harten, tragischen Realismus. Es ist schon ungerecht: Wo nur ein Jahr nach der Entstehung von López‘ Coming-of-Age-Manifest die Feuilletons der Welt und sogar die Academy breitgefächert über Alfonso Cuarons gewiss meisterhaften „Roma“ sprachen, wurde und wird ersterer geflissentlich ignoriert. Dabei hätte er zweifellos denselben Aufmerksamkeitsgrad verdient.

9/10

THE CURRENT WAR

„Your garden would be twice as big – wouldn’t it, Tom?“

The Current War (Edison – Ein Leben voller Licht) ~ USA/UK/RUS 2017
Directed By: Alfonso Gomez-Rejon

Der Osten der USA in den 1880ern. Zwischen den beiden ehrgeizigen Erfindern Thomas Edison (Benedict Cumberbatch) und George Westinghouse (Michael Shannon) entbrennt ein Konflikt um die Vormachtsstellung bei der landesweiten Stromversorgung. Während der Visionär Edison dafür die risiko- weil spannungsärmere Variante des Gleichstroms favorisiert, verlagert sich der geschäftstüchtigere Westinghouse auf das Angebot mit Wechselstrom, ebeso wie der genialische Eigenbrötler Nikola Tesla (Nicholas Hoult), der zunächst für Edison und später für Westinghouse arbeitet. Unter persönlichen und beruflichen Verlusten, allerlei Ränkespielen und Tiefschüssen hält ihr persönlicher und beruflicher Konflikt an bis zur 93er-Weltausstellung in Chicago, deren Präsentationsangebot schlussendlich den jeweiligen Sieg für einen der beiden Kontrahenten bedeuten wird.

„The Current War“ [Das Teilnomen „current“ bezieht sich auf die anglophonen Bezeichnungen für Gleich- (Direct Current) bzw. Wechselstrom (Alternating Current)] schützt eine wilde Produktionsgeschichte vor: Nach einer sich schier endlos ziehenden Scriptentwicklungsphase nebst zwischenzeitlichem blacklisting und diversen Verschiebungen der Produktionshoheit landete das Projekt schließlich bei Miramax. Die Premiere wurde für das im September 2017 stattfindende Toronto-Filmfestival avisiert, sah dann jedoch einen noch nicht zur Gänze fertiggestellten, mäßig aufgenommenen Precut. Regisseur Gomez-Rejon plante, seinen Film bis zum eigentlichen Kinostart zwei Monate später in die endgültige Form zu bringen, was jedoch durch den sich unterdessen Bahn brechenden Weinstein-Skandal zunächst unmöglich wurde. Die nunmehr weltweit zu sehende, verfügbare Fassung mit erweiterten wie auch getrimmten Sequenzen sowie einem neuen Score firmiert als Gomez-Rejons „Director’s Cut“ und konnte die von der Toronto-Version zunächst teilentsetzten Kritiker wohl zumindest halbwegs wieder beschwichtigen. Ich selbst habe, zumindest glaube ich das, wohl irgendwann einmal etwas von der turbulenten Entstehung von „The Current War“ gelesen bzw. mitbekommen, bis zur üblichen, just erfolgten Nachbeschäftigung mit dem Film spielte diese Tatsache jedoch (glücklicherweise) keine Rolle. Das Ganze vermochte ich also unbelastet zu genießen und fand – ohnehin als erklärter Freund von historisch angelegten Biopics – ein ebenso gelungenes wie atmosphärisches Werk vor, dessen deutsche/r Titel und Vermarktung (von deren Faktizität ich irrigerweise ausging) allerdings wie so oft völlig danebenliegen. Tatsächlich geht es nämlich nicht respektive beiläufig um die erwartete Verklärung eines von Amerikas liebsten Geschichtskindern, sondern tatsächlich um die von Edison und dem annähernd gleichrangig behandelten Westinghouse umkämpfte Vormachtsstellung als führender Energielieferant, in deren Verlauf zudem der faszinierend-enigmatische Tesla eine gewichtige Rolle einnimmt. Gomez-Rejons dritte Kino-Regie wartet mit einer unbändigen Faszination für ihre tragenden Figuren [wozu gewiss auch die sehr schön aufgefächerten Nebencharaktere wie Edisons früh verstorbene Frau Mary (Tuppence Middleton), sein Adlatus Samuel Insull (Tom Holland), Wesinghouses Kreativkopf Franklin Pope (Stanley Townsend) oder der Bankier J. P. Morgan (Matthew Macfadyen) zählen] und ihr Zeitkolorit auf und bewahrt sich dabei höchstselbst eine Art von Exzentrik, die sich beidem wunderbar angleicht. Als ausgesprochener Laie – stets ein wesentlicher Vorzug wirklich empathisch involvierender period pieces – erhält man treffliche Einblicke in Zeit, Denken, Wirken und Personal, sieht sich teils mit aufrichtiger Tragik, teils mit grimmigem Humor konfrontiert und, was natürlich am schönsten ist, findet sich von der konstant hohen Qualität von Inszenierung, Form und Spiel stets bei der Stange gehalten.

8/10

THE KILLING OF A SACRED DEER

„I don’t know if what is happening is fair, but it’s the only thing I can think of that’s close to justice.“

The Killing Of A Sacred Deer ~ IE/UK/USA 2017
Directed By: Yorgos Lanthimos

Der renommierte Herzchirurg Steven Murphy (Colin Farrell) erfreut sich einer materiell erfüllten Existenz an der Seite von Gattin Anna (Nicole Kidman) und zwei wohlgeratenen Kindern, Kim (Raffey Cassidy) und Bob (Sunny Suljic). Doch er trägt auch ein dunkles Geheimnis mit sich herum. Vor einiger Zeit hat er infolge unkontollierten Alkoholgenusses den Tod eines Patienten auf dem OP-Tisch verschuldet. Um sich ein reines Gewissen zu erkaufen, verbringt er nun regelmäßig Zeit mit Martin (Barry Keoghan), dem sechzehnjährigen Sohn des Toten, und lässt ihm teure Geschenke zukommen. Doch dies gleicht den Verlust des Jungen nicht aus. Nachdem Steven gewissermaßen das „Angebot“ ausschlägt, auf familiärer Ebene zum „regulären“ Ersatzvater Martins zu avancieren, wendet sich das Schicksal – offenbar auf rätselhafte Weise von Martin beeinflusst – gegen ihn und seine Familie. Nacheinander erkranken beide seiner Kinder an Lähmungserscheinungen, verweigern die Nahrungsaufnahme und erwarten, so kündigt Martin es an, einen baldigen Tod. Auch auf Anna steht jenes Los bevor. Sämtliche Versuche Stevens, diese Wendung der Ereignisse auf jede nur denkbare Weise abzuwenden, scheitern. Es gibt nur einen Ausweg – er muss höchstpersönlich eine/n seiner Liebe/n töten, um die anderen beiden zu retten.

Yorgos Lanthimos‘ zweiter Film in englischer Sprache und mit internationaler Besetzung gleicht sich nahtlos der bis dato kultivierten, besonderen, etwas verschroben wirkenden Agenda des Regisseurs an. Die inhaltliche Urheberschaft schreibt sich abermals ihm selbst und seinem ihm seit „Kynodontas“ kongenial zur Seite stehenden Coautoren Efthymis Filippou zu. Gemeinsam ersann das Duo diesmal eine wiederum bitterbös-komische Horrorparabel um Schuld, Sühne und die Schaffung naturgesetzmäßigen Ausgleichs. Die eine, schuldhaft herbeigeführte Lücke im irdisch-humanen Gefüge, so die unbarmherzig ausgespielte Weise von „The Killing Of A Sacred Deer“, könne nur durch die Schaffung einer ebenso schmerzhaften Lücke ausgeglichen werden. Dies sollte eher metaphorisch oder philosophisch denn politisch verstanden werden. Die Art von „Gerechtigkeit“, die Steven Murphy selbst herbeiführen muss, gründet denn auch nicht auf einer ordinären, weltlichen Vergeltungsmaßnahme, sondern auf metaphysischer Determination. Mit der Eröffnung Martins, dass Stevens Familie nach und nach ohne jedwede Interventionsoptionen dahinsiechen wird, verlässt Lanthimos‘ Film endgültig den bereits zubor beträchtlich wackelnden Boden der Rationalität und avanciert zu einem phantastischen Mysterienspiel, das ausschließlich durch seinen vorausgeplanten Ausgang enden kann, darf und wird. Wer ein wenig mit Lanthimos‘ bisherigem Werk vertraut ist, ahnt zudem recht bald, dass er weder dem Bangen seines Protagonisten noch dem des Publikums Gnade walten lassen wird. Parallel zu Steven Murphys von verzweifeltem Strampeln wider das Schicksal eskortierten Konfrontation mit seiner unabwendbaren Schuld lässt „The Killing Of a Sacred Deer“ (dessen Titel ist der bisher sonderbarste und chiffrierteste eines Lanthimos-Films ist) dem Rezipienten Zeit, sich über die ethische Rechtmäßigkeit des sich vor ihm Entrollenden den Kopf zu zerbrechen – eine diesbezüglich eindeutige Entscheidung versagt sich unter Umständen. Dass Lanthimos und Filippou bei aller herzzereißenden Düsternis nie ihrem galligem Humor entsagen und immer wieder groteske Schmunzler und sogar hysterische Lacher in ihre – natürlich – formvollendet inszenierte Geschichte hineinballern wie mit einer weit streuenden Schrotflinte gehört zum guten Ton ihrer Arbeit.

8/10

GOOD TIME

„You’re cold? Let’s get to Virginia, man!“

Good Time ~ USA 2017
Directed By: Benny Safdie/Josh Safdie

Der ewig klamme Herumtreiber Connie Nikas (Robert Pattinson) will seinem geistig behinderten Bruder Nick (Benny Safdie) ein Leben abseits von Heimen und Therapeuten ermöglichen. Also entwickelt Connie kurzerhand den Plan, gemeinsam mit Nick eine Bank zu überfallen. Der mit heißer Nadel gestrickte Coup geht schief; Nick landet im Gefängnis, während Connie entkommen kann. Nun gilt es für ihn, die nötige Kaution aufzutreiben oder seinen Bruder notfalls selbst zu befreien. Die folgende, bizarre Odyssee durch die New Yorker Nacht bringt Connie mehr oder weniger zufällig mit allerlei seltsamen Zeitgenossen zusammen, darunter mit dem Kleinpusher Ray (Buddy Duress), der um ein LSD-Versteck im Freizeitpark „Adventureland“ weiß…

Ob es für meine persönliche Bewertung von „Good Time“ förderlich ist, dass ich zuvor dessen Nachfolger „Uncut Gems“ gesehen habe und im Prinzip eigentlich erst über diesen überhaupt auf die Safdies aufmerksam geworden bin, wage ich zu bezweifeln, denn jenes absolut formvollendete Thrillerdrama mit Adam Sandler variiert seinen Vorgänger nicht nur motivisch. Beide Filme zentrieren sich um einen rücksichtslos agierenden Protagonisten, der um die Durchsetzung eigener Träume und Wünsche Willen Kausalitätsketten in Gang setzt, die seine Mitmenschen, respektive zumindest die, die naiv genug sind, ihn zu unterstützen, ins kleine oder große Verderberben stürzt. Das Ganze vollzieht sich jeweils in einem sehr hohen Erzähltempo, unter Verwendung halsbrecherischer Script-Volten, vermittels einer wilden Photographie und Montage, sowie unter Einbeziehung eines ganzen Kaleidoskops schräger Nebencharaktere. (Das nächtliche) New York avanciert dabei zum urbanen, planen Stellvertrer der Reise durch das psychische und geistigen Labyrinth der Leitfigur. Auch „Good Time“ greift somit bereits vorhandene Erzählmuster auf; so erinnert er zumindest streckenweise etwa zwangsläufig an Scorseses „After Hours“ und infolge dessen an den klassischen film noir. Anders als später Sandler als semilegaler Traumverkäufer Howard Ratner vermag es der (nichtsdestotrotz hervorragend spielende) Robert Pattinson jedoch nicht, die Em- und Sympathie des Rezipienten zu evozieren. Während Ratner ja seine gesamte Existenz in die Waagschale wirft und sich damit den Status eines tragikomischen Antihelden erarbeitet, lassen einen die von vornherein irrationalen Motive Connie Nikas‘ relativ gleichgültig zurück. Man sieht seinem irrlichternden Trip durch die Eingeweide der Stadt und ihrer Institutionen zwar interessiert zu, mag sich aber nie wirklich auf seine Seite schlagen und insofern auch nicht nachhaltig mit seinem Schicksal zu hadern. Am Ende kommt es für die meisten Beteiligten so, wie es kommen muss; nichts existenziell wirklich Gravierendes geschieht. Während „Uncut Gems“ eine konsequente Fallgeschichte erzählt, nimmt „Good Time“ somit eher den Status einer wilden Momentaufnahme ein. Wie oben suggeriert, kann „Good Time“ unter dem massiven Eindruck von „Uncut Gems“ im Zuge einer achronologischen Betrachtung allso nur verlieren. Das macht ihn keinesfalls zu einem künstlerischen Fehlschlag, andererseits wird die rückwärts gewandte Ordinalbetrachtung ihm vermutlich nicht gerecht.

7/10

THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI

„All this anger, man, it just begets greater anger.“

Three Billboards Outside Ebbing, Missouri ~ USA/UK 2017
Directed By: Martin McDonagh

Eines Tages kommt Mildred Hayes (Frances McDormand) auf die Idee, die drei großen Werbeleinwände an einer Landstraße unweit ihres Hauses für einen ungewöhnlichen Zweck zu mieten: Mildreds Tochter Angela (Kathryn Newton) wurde sieben Monate zuvor just unter einer jener Leinwände vergewaltigt und ermordet. Die hiesige Polizei unter Chief Willoughby (Woody Harrelson) hat bislang keinerlei Indizien, die zu dem Täter führen – also formuliert Mildred eine bittere, diesbezügliche Anklage gegen den Chief und lässt sie auf die Leinwände plakatieren. Damit beschwört Mildred allerdings zugleich eine Menge Unbill herauf – ihre Aktion wird zum Politikum, das die meisten Leute der Gegend, allen voran Willoughbys Untergebener Officer James Dixon (Sam Rockwell), harsch gegen sie aufbringt.

Vor knapp zwei Jahren redete alle Welt über Martin McDonaghs dritten Film, wobei die meisten ihm sehr positiv zugewandt waren. Wie das in meinem Fall häufiger vorkommt, hatte ich infolge des unausweichlichen Hypes rasch keine Lust mehr, „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ anzusehen und schob ihn bis dato auf die lange Bank.
Nun also die Nachrüstung. Zugute legen muss man dem Werk wohl zuallererst, dass es nicht den Fehler begeht, seine binnen der ersten Erzählminuten installierten, figuralen Klischees stoisch durchzuexerzieren. Im Gegenteil scheint es McDonagh vielmehr darum zu gehen, primär etablierte und tradierte Charakterisierungen sowie die dazugehörigen Publikumsantizipationen zu unterminieren und entsprechende Konventionen zu sprengen. Aus dem designierten, einsamen Kampf einer verzweifelten Frau und Mutter gegen den Filz der sie umgebenden, allgegenwärtigen Provinzialität, wie man sie als mitteleuropäischer Zuschauer aus den allermeisten Filmen über Südstaatenkaffs hinlänglich kennt, erwächst nach und nach das mit unerwartbaren Wendungen gespickte Porträt zweier einsamer Menschen, die weitaus mehr gemeinsam haben, als sie wahrhaben wollen. Was sich sukzessiv, einer klassisch-westernanalogen Intimfeindschaft gleich, zu einem Privatkrieg jener beiden Individuen hochzuschaukeln verspricht, hebelt McDonagh durch den Kniff einer geschickten narrativen Zäsur aus: Der unheilbar an Krebs erkrankte Chief wählt den Freitod – und hinterlässt nicht nur seiner Witwe (Abbie Cornish) einen Abschiedsbrief, sondern auch Mildred und Dixon. Besonders letzteren bewegen Willoughbys unerwartet bestärkende Worte in Kombination mit einem durch Mildred verursachten Brandanschlag zum Umdenken. Mit Dixons Läuterung, die ihn vom versoffenen, stupiden Kleinstadtrassisten mit Mutterkomplex, von einem rundum hassenswerten Arschloch also, zu einem reflektierten, denkenden Menschen werden lässt, legt McDonagh eine recht wahghalsige inhaltliche Wendung vor, die später sogar in der zuvor undenkbaren Annäherung zwischen Dixon und Mildred führt, ohne, dass ihre ab diesem Zeitpunkt gemeinsame Geschichte konsequent zu Ende geführt würde. Diese Fantasie bleibt dann dem Zuschauer überlassen. Vorformuliertes ignoriert McDonagh jedoch auch in anderer, struktureller Hinsicht. Ein wesentlicher Faktor der Geschichte ist Mildreds Suche nach Erlösung, die sich oberflächlich ganz einfach einstellen könnte: in der Aufspürung und Bestrafung des Mörders ihrer Tochter nämlich. Doch auch diesbezüglich zeigt der Film eine lange Nase. Auf den sich zuspitzenden, üblicherweise gangbaren Thrill(er) werden jedenfalls eine Menge Leute umsonst gewartet haben.

8/10

O ANIMAL CORDIAL

Zitat entfällt.

O Animal Cordial (The Friendly Beast) ~ BR 2017
Directed By: Gabriela Amaral

Das gehobene Restaurant „La Barca“ des Gastronomen Inácio (Murilo Benício), kurz vorm allabendlichen Schließen: Ein angetrunkenes, wohlbetuchtes Pärchen (Camila Morgado, Jiddu Pinheiro) will zu dieser späten Stunde unbedingt noch ein üppiges Mahl zu sich nehmen, ganz zum Unwillen des feierabendbedürftigen Küchenpersonals, allen voran des enervierten, bisexuellen Chefkochs Djair (Irandhir Santos). Neben dem Paar nimmt soeben noch ein älterer Herr (Ernani Moraes) seinen letzten Drink. Da versuchen zwei schlecht vorbereitete Straßenganoven (Ariclenes Barroso, Eduardo Gomes), den Laden zu überfallen und die Kasse zu leeren. Sie rechnen jedoch nicht mit Inácio, dem eine Sicherung durchbrennt, und der, mit der Unterstützung seiner ihm ergebenen Wirtin Sara (Luciana Paes), den Spieß kurzerhand umdreht…

Ein intensiver, augenzwinkernder Terrorfilm aus Brasilien – nicht unbedingt das, was dem gemeinen Mitteleuropäer zur regelmäßigen cinephilen Goutierung a priori zur Verfügung steht. Umso erfreulicher, dass Ausnahmen die Regel bestätigen.
„O Animal Cordial“ („Das herzliche Tier“) markiert das wilde, triebaffine Langfilmdebüt der somit überaus vielversprechenden Regisseurin Gabriela Amaral. Für ihren deftigen Feature-Einstieg nahm sie sich, unter strikter inhaltlicher und inszenatorischer Beschränkung auf die Räume des Restaurants als singulären, hermetischen Spielort, gleich zwei miteinander verwobene, messerscharf ausgearbeitete Psychogramme vor – das des getriebenen Restaurantchefs Inácio und das seiner Oberkellnerin Sara, wobei insbesondere letzterer Amarals vordringliche Aufmerksamkeit gehört, von Frau zu Frau, sozusagen. In einer explosiven Nacht erleben die beiden sämtliche Höhen und Tiefen einer fatalistischen, toxischen Beziehung von A bis Z, das heißt, von Anfang bis Ende. Für Inácio nehmen die privaten Krisen in jüngster Zeit offenbar Überhand; schwelende Konflikte mit seiner Belegschaft, die Angst vor Kritikerbesuchen, Trubel mit der ihn telefonisch drangsalierenden Gattin – ansonsten gibt es keinerlei wirklich fassbare Erklärung für seine kurze, eskalative Reise in den anarchischen Atavismus. Der von vornherein kopflose, vergleichsweise pubertäre Überfall der beiden Kleingauner fungiert als finaler in einer vermutlich längeren Reihe psychischer Trigger, um ihn vom Sockel der Sozialisiertheit zu stoßen und in den kommenden Stunden ebenso lustvoll wie ausgiebig diverse zivilisatorische Tabus bis hin zum Kannibalismus genießen zu lassen. Dabei scheint von vornherein offensichtlich, dass jene barbarische, eben zum Scheitern verurteilte Reise durch die Nacht ebenso rasch beendet sein wird, wie sie beginnt. Sara, deren verzweifelter Ausbruch aus einer devoten Form patriarchalisch dominierter Weiblichkeit mit ebensolch fieberhafter Konsequenz abläuft, muss am Ende derweil erkennen, dass es ihr keinesfalls vergönnt ist, als Inácios vollwertiges feminines Pendant zu bestehen, obgleich es zwischenzeitlich kurz danach aussieht. Der zum maßlosen Morder gewordene Biedermann folgt schließlich doch nurmehr seinem chauvinistischen Naturell, die zwischenzeitlich gesponnen Pläne von einer gemeinsamen Existenz sind nicht mehr denn spannungslockernde Seifenblasen. Und die übrigen Beteiligten? Die sind kaum mehr denn Randfiguren, um Hass und Aggression zu kanalisieren und durchleiden umso furchtbarere Enden. Nur einer darf das buchstäbliche Schlachtfeld aufrecht und erhobenen Hauptes verlassen: Der um seine schönen, langen Haare erleichterte, aber nichtsdestotrotz durchweg stolz und integer gebliebene Djair. Allein für diese heroische Wahl gebührt „O Animal Cordial“ höchster Respekt.

8/10

BOMB CITY

„They’ve gone too far, man.“

Bomb City ~ USA 2017
Directed By: Jameson Brooks

Amarillo, Texas, 1997: Nach einem Trip an die Ostküste kehrt Punk Brian (Dave Davis) in seine Heimatstadt und zu seiner Familie zurück. Die Subkultur und seine alten Kumpels empfangen ihn mit offenen Armen, doch ein friedliches Auskommen ist Brian nicht vergönnt: die Jocks des lokalen High-School-Football-Teams, allen voran der latent aggressive Cody Cates (Luke Shelton) akzeptieren das unangepasste Auftreten und die Verweigerungshaltung der Punks nicht. Damit erfreuen sie sich immerhin der Sympathie der Polizei, die die beiden Cliquen mit höchst unterschiedlichen Handschuhen anfasst. Immer wieder kommt es zu sich intensivierenden Scharmützeln zwischen den jungen Leuten, bis Cody eine Sicherung reißt und die Katastrophe da ist.

Der Mord an Brian Deneke, einem neunzehnjährigen, ursprünglich aus Wichita stammenden Punk, bewegte und bewegt nicht nur die globale Szene der bunten Mohawks und abgewetzten Lederklamotten. Er ist ein bleibendes Beispiel dafür, mit welcher Bigotterie in den USA Minoritäten jedweder Kuleur behandelt und auch bestraft werden. Am 12. Dezember 1997 wurde Brian Deneke von dem zwei Jahre jüngeren Nachwuchs-Football-Star Dustin Camp nach einer Auseinandersetzung zwischen seinen und Brians Freunden gezielt überfahren. Vor, während und nach der Tat stieß Camp triumphierende Sprüche betreffs seiner Aktion aus, die mit ihm im Wagen sitzende Freunde gerichtlich bezeugten und die seine absichtsvolle Handlungsweise nachwiesen.
Jameson Brooks spinnt seine Geschichte um dieses erschütternde Ereignis und widmet sich dabei auch der nachfolgenden Gerichtsverhandlung und den sich daraus ergebenden Folgen für Dustin Camp, indem er die zu Brians Ermordung führenden Ereignisse in Rückblenden nacherzählt. Rasch wird eines offensichtlich: Camps Verteidigung bestand vor allem in der Strategie, Brian trotz seiner Ermordung nachträglich noch sozial zu diskreditieren, ihn aus Gründen der möglichen späteren Urteilsaufweichung unmöglich zu machen. Dieser Plan ging gründlich auf – Camp wurde wegen „Totschlags im Affekt“ zu einer lächerlich niedrigen Geldbuße und einer Bewährungsstrafe verurteilt. 2001 verstieß er infolge von Alkoholkonsum als Minderjähriger gegen die Auflagen, wurde inhatiert und wiederum verfrüht aus der Haft entlassen.
Brooks‘ Hauptverdienst besteht, neben den Tatsachen, das spannende Portrait einer sich in widerborstigem Umfeld behauptenden Jugend-Subkultur geliefert und die ohnehin allzu spärlich besetzte Gattung der punk movies um einen eminenten Beitrag bereichert zu haben, darin, Brian Denekes Geschichte zwanzig Jahre nach ihrem traurigen Ende nicht dem Vergessen anheim fallen zu lassen, sondern sie in dieser besonders haltbaren Kunstform für künftige Generationen konserviert zu haben. Chapeau! dafür.

8/10

DEN 12. MANN

„Mir geht niemand durch die Lappen.“

Den 12. Mann (The 12th Man – Kampf ums Überleben) ~ NO 2017
Directed By: Harald Zwart

Norwegen, März 1943. Im Zuge der „Operation Martin Red“, die die gezielten Sprengungen mehrerer militärisch bedeutsamer Ziele der deutschen Besatzer umfasst, landen zwölf in England zu Saboteuren ausgebildete, einheimische Widerstandskämpfer der „Company Linge“ in der Nähe von Tromsø, wo sie bereits von Gestapo und SS in Empfang und in Haft genommen werden. Nur einem von ihnen, Jan Baalsrud (Thomas Gullestad), gelingt die Flucht in den vereisten Fjord. Die übrigen werden gefoltert und exekutiert. Baalsruds einzige Chance besteht darin, die Grenze zum neutralen Schweden zu erreichen. Eine zweimonatige Odyssee, die ihn an die äußersten Grenzen der psychischen und physischen Belastbarkeit treiben wird, liegt vor ihm.

Die entbehrungsreiche Flucht Jan Baalsruds, den die Geschichtsschreibung längst zu einem der skandinavischen Helden der Résistance erklärt hat, basiert auf authentischen Geschehnissen, die Harald Zwarts Film unter der Prämisse, dass „die folgenden Ereignisse, so unglaublich sie auch scheinen mögen, sich so zugetragen haben“ nachzeichnet. Wenngleich Baalsrud immer wieder die unterstützende Hilfe der Einheimischen in Anspruch nehmen kann, hängt der Löwenanteil seines Überlebens dennoch von der eigenen Willenskraft und Zähigkeit ab, die ihn diverse Leiden überstehen lassen. Immer wieder entkommt Baalsrud der SS, in vorderster Front seinem (ebenfalls norwegischen) verbissenen Hauptverfolger Kurt Stage (Jonathan Rhys Meyers) nur ganz knapp oder infolge oftmals obskurer Zufälle, die manchmal auch aus dem bloßen Hochmut des stolzen Nazis heraus erwachsen. Dennoch gleicht Baalsruds Pfad einer Passionsgeschichte: Er gerät in eine (von seiner Verfolgern ausgelöste) Lawine, muss Knochenbrüche, Erfrierungen, Schneeblindheit, Fieber und Wundbrand ertragen und ist schließlich gezwungen, sich selbst die Zehen zu amputieren um nicht seine Beine zu verlieren. Nicht nur die den Okkupanten fast durchweg feindlich gesinnte Zivilbevölkerung unterstützt ihn, sondern, kurz vor dem Ziel noch eine Gruppe Samen und sogar ein kluges Rentier.
Zwart zieht, was ihm wohl auch mehrfach zur Kritik gereichte, diese spektakuläre Geschichte als Überlebensabenteuer auf, vor dem der historische Hintergrund oftmals sich zur im Prinzip austauschbaren Beliebigkeit degradiert findet. Die Nazis werden durchweg als jene unmenschlichen Klischeebestien gezeichnet, die ja in der (genre-)spielfilmischen Parallel-Geschichtsschreibung seit eh und je greift und sind vor allem als größenteils diffuse, äußere Bedrohung im Hintergrund präsent, so dass „Den 12. Mann“ häufig mehr als Actionfilm denn als akkurate historische Aufarbeitungslektion zu rezipieren ist.
Auch wenn nun Zwarts Film gewiss nicht frei von Schwächen unds Unebenheiten ist, gibt es doch an mancherlei Tatsachen, so meine ich, wenig zu rütteln: „Den 12. Mann“ besorgt den Abriss des zunehmend persönlich gefärbten Hergangs einer ganz individuellen Widerstandsaktion und hat trotz seiner ausgedehnten Spielzeit überhaupt nicht die Aufgabe, fanatischen SS-Offizieren ein differenziertes Persönlichkeitsbild zu verschaffen – warum auch? Es geht nicht um verschissene Nazis, sondern um den Widerständler Jan Baalsrud und um die ohnehin im Falle jedes einzelnen kleinen oder großen Rebellen gegen das Deutsche Reich unabdingbar wichtige Tatsache, seine spezifische Geschichte populärer zu machen und ihm, obschon mit den evidenten Mitteln des Unterhaltungsmediums, ein verdientes Denkmal zu setzen. Diese Mission erfüllt „Den 12. Mann“ hinreichend zuverlässig.

7/10