SAVAGE SALVATION

„Welcome to the family, Shelby John.“

Savage Salvation (Pfad der Vergeltung) ~ USA 2022
Directed By: Randall Emmett

Kriegsveteran Shelby John (Jack Huston) und seine Freundin Ruby Red (Willa Fitzgerald) sind Heroinjunkies. Ihren Stoff beziehen sie von dem rücksichtslosen Straßendealer Elvis (Swen Temmel), der recht ungehalten reagiert, als das Paar durchblicken lässt, nach einem kalten Entzug clean geworden zu sein und auf den Pfad der Tugend zurückkehren zu wollen. Shelby hat Ruby mittlerweile sogar einen Heiratsantrag gemacht und sie möchte sich darüberhinaus zur Feier der Entwöhnung baptistisch taufen lassen. Doch dazu kommt es nicht mehr; Elvis bringt Ruby auf dumme Gedanken, woraufhin diese sich den goldenen Schuss setzt. Für den wutschäumenden Shelby – ganz zum Unwillen von Sheriff Church (Robert De Niro) – Grund genug, seine kombattanten Fertigkeiten zu reaktivieren und sich mit deren Einsatz bis zum unerwarteten Kopf der hiesigen Drogenmafia vorzuarbeiten…

Als wahres Cringefest entpuppte sich dieser offenbar von der Baptistenkirche gesponsorte, erzreaktionäre Film aus dem Bodensatz einer spezifischen medialen Trübnis, in der ich künftig erst gar nicht weiter stochern möchte. Natürlich lockten die Namen De Niro und Malkovich, bis vor rund zwei Dekaden zwei der zuverlässigsten und besten Schauspieler im anglophonen Raum, von denen man nie und nimmer gedacht hätte, dass sie ihr Brot dereinst so sauer würden verdienen müssen. Es dürfte ihnen, wie ja offenbar recht vielen betagteren Darstellern, die ihr Altersauskommen in käsigem Genreschmodder für den DTV-Markt gefunden haben, mittlerweile recht mies gehen, um ihre Kunst für Müll wie „Savage Salvation“ korrumpieren lassen zu müssen. Der Regisseur Randall Emmett entpuppt sich nach kurzer Recherche als bedauernswerter Produzent zahlloser Bruce-Willis-Vehikel, den der dem Vernehmen nach recht lädierte Akteur einzig und allein durch Mini-Auftritte seinen Stempel aufdrückte und die recht unansehnlich sein sollen. Für seine zweite eigene Inszenierung standen Emmett dann zumindest drei renommierte Namen zur Verfügung, doch was helfen die im Angesicht einer dezidiert biblisch-konservativ konnotierten Rachegeschichte, die letztlich nur für regelmäßige Kirchgänger und Sonntagsspaziergänger genießbar sein kann?
„Savage Salvation“ bedient ausnahmslos jedes zur Verfügung stehende dulle figurale Klischee; der PTBS-versehrte Veteran und seine schöne Maid ziehen sich gegenseitig am Schopf aus dem Sumpf der Drogenhölle, nur um dann doch wieder zu Opfern der unnachgiebigen Pusher zu werden, jene natürlich vornehmlich unkaukasischer Ethnie zugehörig. Dem trauernden Verlustierer bleibt nurmehr blutige Vigilanz, irgendwann sogar mit dem zähneknirschenden Segen des treusorgenden Sheriffs, der den eigenen Sohnemann einst ebenfalls ans Rauschgift verlor. Am auch noch die allerletzten Sympathien kapernden Ende lässt sich dann auch Shelby John nach getanem Werk kopfüber in den Fluss tunken – ein Schäfchen mehr für Gottes wackre, weiße amerikanische Reihen. Dass dabei selbst die versprenkelt eingestreuten Actionszenen lahm und unbeholfen daherkommen – geschenkt. Ernsthaft: schon lange nicht mehr so im Strahl gekotzt.

2/10

THE FRIGHTENERS

„Death ain’t no way to make a living!“

The Frighteners ~ NZ/USA 1996
Directed By: Peter Jackson

Seit einem Autonunfall vor einigen Jahren nebst persönlicher Nahtoderfahrung, bei dem auch seine Ehefrau Debra (Angela Bloomfield) starb, hat der Ex-Architekt Frank Bannister (Michael J. Fox) die vormalige Profession aufgegeben und arbeitet seither, stets kurz vor der Pleite stehend, als Geisteraustreiber. Möglich machen im dies seine tatsächlich hinzugewonnene Fähigkeit, Kontakt mit verstorbenen Seelen im Zwischenreich aufzunehmen sowie drei befreundete Zwischengänger: der in den Siebzigern verblichene, straßenweise Hustler Cyrus (Chi McBride), der bereits seit rund vierzig Jahren tote Student Stuart (Jim Fyfe) und ein aus dem Alten Westen stammender, schießfreudiger Richter (John Astin). Das derangierte Trio sucht zum Schein die Häuser unbedarfter Bürger heim, die dann in ihrer Not Bannister, den die meisten Ortsansässigen für einen spinnerten Scharlatan haltan, herbeirufen, um sich von ihm helfen zu lassen. Jüngst sorgt dieser dafür, das spießige Eigenheim des Ehepaars Lynskey „reinigen“ zu dürfen, nachdem Frank zuvor unfällig deren Vorgarten umgepflügt hat. Gesagt, getan, doch kurz darauf stirbt Ray Linskey (Peter Dobson) an einem Herzanfall. Nur einer von einer ganzen Reihe fast identisch gelagerter Todesfälle, die Bannister bald unter handfesten Verdacht stellen. In Wahrheit steckt jedoch eine ganz andere, jenseitige Entität hinter der Mordserie. Nunmehr ist es an Frank und Rays Witwe Lucy (Trini Alvarado), den wahren Killer dingfest zu machen. Kein leichtes Unterfangen, zumal auch der wirre FBI-Agent Dammers (Jeffrey Combs) ihnen diverse Steine in den Weg rollt…

Man muss sich kaum kognitiv ins Zeug legen, um „The Frighteners“, Peter Jacksons erste, von Robert Zemeckis protegierte Studioproduktion (Universal) nach einem Trio ebenfalls in Neuseeland entstandener, rasch zu anarchischen Underground-Lieblingen aufgestiegener Indie-Liebhaberstücke sowie einem feuilletontauglichen Coming-of-Age-Drama, als teures, familienkompatibles und inhaltlich verkomplexiertes, respektive andere motivische Schwerpunkte setzendes Remake seines eigenen Drittfilms „Braindead“ auszumachen. Ein junger Mann, einsam, traumatisiert und in seinem kleinen sozialen Mikrokosmos als Sonderling geltend, erlebt seine dräuende Alltagsmorbidität bald zu zusehends unkontrollierbarem Eigenleben erwacht. Der unfreiwillige Flirt mit Tod und modriger Vergänglichkeit bestimmt bald seine gesamte Existenz, bringt bei aller Turbulenz auch eine wahrhaft mörderische, monströse Bedrohung hervor und kann erst durch die heilende Kraft der Liebe von Erlösung und Neuanfang abgelöst werden. Soweit eine grobe Zusammenfassung beider Inhalte. Selbst einzelne Nebencharaktere erleben ihre Analogisierung oder zumindest eine Art „Remix“. Während „Braindead“ allerdings noch gezielt das Konzept des Splatterfilms dermaßen ad absurdum führte, dass jenes sich zugleich mit seinem eigenen, postmodernen Finalpunkt konfrontiert sah, rudert „The Frighteners“ zumindest in Bezug auf seine ästhetische Entfesselung wieder zurück. Oder anders gesagt: er substituiert die manuell beförderten und entleerten Gallonen von Kunstblut und -eingeweiden durch aufwändige, von Jacksons eigener, damals erst drei Jahre junger Firma „WETA Digital“ erstellte Computeffekte. Diese galten zeitgenössisch schon aufgrund ihres inflationären Einsatzes als ziemlich sensationell, was sich heuer eher beiläufig zur Kenntnis nehmen lässt. Das bei Jackson übliche vintage flair der Erzählung beschädigen sie jedenfalls glücklicherweise nicht, sondern hofieren den etwas stoffeligen Charme des comicesken, an die „Tales From The Crypt“-Comics angelehnten Plots, der zwanzig, dreißig Jahre zuvor gewiss auch einem William Castle kreative Höhenflüge entlockt hätte. Das dehnt sich zuweilen etwas und mag nicht immer auf den narrativen Überhang verzichten – eine originelle Arbeit aber ist „The Frighteners“ allemal und bestimmt dient er sich auch trefflich dazu an, Jacksons damals noch wesentlich prägnanter okurrierende Qualitäten als auteur zu identifizieren.

7/10

FOREVER MINE

„You will never be loved the way you are now. You have have never been and you will never be.“

Forever Mine ~ USA/CA/UK 1999
Directed By: Paul Schrader

Im Sommer 1973 arbeitet der Student Alan Riply (Joseph Fiennes) in einem mondänen Strandhotel als „cabana boy“. Hier verliebt er sich auf den ersten Blick in Ella (Gretchen Mol), die Gattin des wohlhabenden Geschäftsmannes und Urlaubsgasts Mark Brice (Ray Liotta), die Alan fortan umgarnt. Bald erwidert Ella seine Gefühle und die beiden verleben eine nur wenige Tage währende Kurzromanze, bevor Ella und ihr Mann nach New York zurückkehren. Alan weigert sich jedoch, das geliebte Wesen einfach aufzugeben, reist ihr kurzerhand hinterher und beginnt vor Ort eine Ausbildung zum Bankkaufmann. Als die streng katholische Ella Mark ihre Affäre beichtet, setzt dieser alles daran, Alan „unschädlich“ zu machen. Zunächst hängt er ihm eine Verurteilung wegen Drogenbesitzes an, doch Alan lässt sich selbst im Gefängnis nicht ausbooten und schreibt Ella einen Liebesbrief nach dem anderen, bis der immer eifersüchtigere Mark keinen anderen Ausweg sieht, als den Nebenbuhler um die Ecke bringen zu lassen. Alan überlebt jedoch schwer verletzt und sinnt auf Rache. Vierzehn Jahre später ist es soweit: Unter neuer Identität als Rechtsberater Manuel Esquema kehrt er zu den Brices zurück und mischt die Karten neu…

„Forever Mine“, eine Liebeserklärung an die Liebe, zählt zu den eher selten erwähnten Werken in Schraders Œuvre, dabei handelt es sich nach meinem Dafürhalten um einen seiner schönsten Filme. Voller Reminiszenzen und Avancen an Wegbegleiter und Kulturgenossen steckt seine zwölfte Kinoregie, eine sehr revisionistisch gefärbte Noir-Romanze in Breitwand, wie sie – zumindest auf rein inhaltlicher Ebene – auch ebensogut in den vierziger oder fünfziger Jahren hätte entstehen mögen. So rekurriert Schraders Inspirationspool neben dem geradeheraus zitierten, berühmten Flaubert-Roman „Madame Bovary“ unter anderem auf Robert Floreys wunderbaren „The Face Behind The Mask“, Elmore Leonard und das Kino von Brian De Palma (für den Schrader 1976 das Script zu „Obsession“ verfasst hatte und dessen Hauskomponist Angelo Badalamenti in „Forever Mine“ durchaus ähnliche Harmonien erklingen lässt). Die für Schraders Verhältnisse ungewöhnlich herzlich und herzergreifend erzählte Liebesgeschichte scheut keinerlei Kitschrisiken, wobei der auteur die entsprechenden Momente freilich stark zu transzendieren weiß – auch „Forever Mine“ offeriert trotz seines völlig typologisch eingesetzten Ensembles und der mit weichgezeichneten Rückblenden versetzten Oberflächenpolitur eine vornehmlich düstere, nicht selten melancholische Atmosphäre, wobei Missgunst, Gefahr und Brutalität vornehmlich von dem gehörnten Ehemann ausgehen, der zu arrogant ist, um klein beizugeben und seine immer weiter forttreibenden Felle schwimmen zu lassen. Allein durch sein rücksichtsloses Intervenieren wird irgendwann auch Alan Riply gezungen, kriminell zu werden und sämtliche ursprünglich avisierten Lebensentwürfe über den Haufen zu werfen.
Freilich lassen sich auch hier die ewigen Schrader-Topoi Calvinismus, (Über-)Lebenskampf, Schuld, Sühne und Erlösung ausmachen; diesmal jedoch in einer dem reinen Streben nach verdienter Zweisamkeit untergeordneten Auslotung, was „Forever Mine“ sehr gut tut. Ich muss zugeben, dass ich gerade jetzt in einer höchst empfänglichen Stimmung für derlei Schmonziges bin, warum „Forever Mine“ auch unerwartet massiv bei mir einschlagen konnte.
Schön!

9/10

THE CANYONS

„It’ll be alright. It’ll be okay.“

The Canyons ~ USA 2013
Directed By: Paul Schrader

Christian (James Deen) produziert im sonnigen Hollywood kostengünstige Horrorfilme und genießt sein von materiellem Luxus erfülltes Dasein, das er allerdings fast ausschließlich einem väterlich finanzierten Treuhandfonds verdankt. Als libidinöser Soziopath kostet er es redlich aus, seine Freundin Tara (Lindsay Lohan) sexuell zu dominieren und zu via Datingseiten organisierten Swingertreffen zu nötigen. Tara liebt jedoch insgeheim noch ihren Freund Ryan (Nolan Gerard Funk), einen wenig talentierten und noch schlechter beschäftigten Nachwuchsschauspieler, der seine Teilzeitengagements als Kellner oder Model einzig seinem guten Aussehen verdankt und Tara seinerseits ebenfalls zurück will. Ryan ist wiederum mit Christians Agentin Gina (Amanda Brooks) liiert, die von den heimlichen Gelüsten ihres Partners nichts ahnt. Als der zutiefst eifersüchtige Christian Tara nachspionieren lässt und herausfindet, dass sie sich wieder mit Ryan, der dank Gina just einen Part in Christian neuestem Projekt ergattern konnte, trifft, entspinnt er eine hinterhältige Intrige gegen den Nebenbuhler. Ryan versucht sich zu wehren, macht damit jedoch alles nur noch schlimmer.

„The Canyons“ ist weniger als markante Regiearbeit bemerkenswert denn als Drehbuchdebüt von Bret Easton Ellis, der sein Script ähnlich wie viele seiner Romane als eine Art kalifornischer New-Age-Farce anlegte. Die aufreizend simpel konstruierte, campige Story kreist um Sex und dessen physisch schöne, innerlich jedoch ausgehöhlt wirkende Protagonisten, die sich beinahe ausschließlich darüber definieren, was sie im Bett von wem bekommen können und welche Abhängigkeitsverhältnisse sich daraus ergeben. Der günstig hergestellte Film wurde teils aus einer Crowdfunding-Kampagne heraus budgetiert und wurde von Schrader auch diesbezüglich als Symbolbild eines in Trümmern liegenden Hollywood-Empire bezeichnet, inszeniert von einem abgeschriebenen auteur mit einem Pornostar (Deen) in der einen Hauptrolle, einem letzthin vornehmlich durch Alkoholskandale aufgefallenen Ex-Kinderstar in der anderen und erzählt in Form einer paradoxerweise selbstbekokst-faszinierten und zugleich angewiderten Beziehungstriangel. Jene verleiht sich – auch das typischer Ellis-Stoff – im letzten Drittel die Mimesis eines Thrillermysteriums nebst blutiger Mordgeschichte, die Christian gewissermaßen endgültig zur annähernd metaphysischen Karikatur eines Hollywood-Antichristen stilisiert, mit dessen bedrohlicher Präsenz die angsterfüllte Tara stets zu rechnen haben wird.
„The Canyons“ verzichtet bewusst auf jedwede positiv konnotierte, personelle Identifikationsbasis und zentriert stattdessen den jeweiligen Opportunismus seiner drei auf ihre ganz individuelle Weise ungenießbaren Hauptfiguren und das sich immer gravierender manifestierende Machtgefälle zwischen ihnen. Jene Vorgehensweise trug „The Canyons“ wenig Sympathien ein, wobei es ohnehin gilt, ihn primär als zum Leben erweckte Ellis-Phantasie zu rezipieren, die ihren dramaturgischen Kitt statt durch den prägnanten Wortduktus des Literaten eben durch die audiovisuelle Illustration des Regisseurs erhält. Diese eklektische Mischung dürfte ihr Übriges dazu beigetragen haben, dem Film seit jeher lediglich äußerst geringen Zuspruch teilwerden zu lassen.

6/10

THE LITTLE GIRL WHO LIVES DOWN THE LANE

„What about school?“ – „School is having people tell you what life is and never finding out by yourself.“

The Little Girl Who Lives Down The Lane (Das Mädchen am Ende der Straße) ~ CAN/F 1976
Directed By: Nicolas Gessner

Die dreizehnjährige Rynn Jacobs (Jodie Foster) lebt erst seit kurzem in einem kleinen, einsam gelegenenen Haus an der neuenglischen Küste. Das pittoreske Heim hat ihr Vater, ein Berufsautor, der mit Rynn zuvor jahrelang in England lebte, gemietet. Es dauert nicht lang, bis die Leute der dazugehörigen, kleinen Stadt auf Rynn aufmerksam werden, darunter die biestige Vermieterin Mrs. Hallet (Alexis Smith), deren hinlänglich als pädophil berüchtigter Sohn Frank (Martin Sheen) oder der Streifenpolizist Miglioriti (Mort Shuman) So besucht das überaus kluge, selbstbewusste Mädchen etwa keine Schule und lässt sich kaum in der Öffentlichkeit sehen. Ihr Vater macht sich sogar noch rarer; entweder will er bei seiner Arbeit nicht gestört werden oder ist auf Reisen, wie Rynn jedem, der nach ihm fragt, versichert. Mit dem Außenseiter Mario (Scott Jacoby) hat sie immerhin bald einen Freund, dem sie aufrichtig Liebe und Vertrauen entgegenbringen kann. Doch die Erwachsenen lassen Rynn nicht in Ruhe…

Nicolas Gessners auf einem Bühnenstück und später dazu verfassten Roman von Laird Koenig basierendes Drama erweist sich als ebenso spannend erzähltes wie vielschichtig dimensioniertes Kino, das dem Publikum ein gerüttelt Maß an diskursiver und auch philosophischer Eigenarbeit abverlangt. So erfährt man erst nach etwa der Hälfte der Spielzeit, welche Umstände Rynn wirklich in ihre gegenwärtige Lage getrieben haben: Der Vater hat sich, gezeichnet durch schwere Krankheit und dem Tode nah, im Atlantik ertränkt; die in England zurückgelassene Mutter, offenbar eine garstige, vereinnahmende Frau, fand Lynn später vor Ort und wurde dann von dem Mädchen mit dem ausdrücklichen Segen des Vaters vergiftet und ihre Leiche im Keller des Hauses versteckt. Um das Ansinnen des Vaters betreffs der Entwicklung seiner Tochter aufrecht erhalten zu können, muss das Mädchen ergo zur Mörderin werden – mehrfach, wie sich nach und nach erweisen wird.
Unser autoritär geprägtes, Jugendlichen keinerlei Mündigkeit zugestehendes Gesellschaftssystem lässt es schlichterdings nicht zu, dass ein Mädchen wie Rynn ihr eigenes, autonom gestaltetes Leben führen darf. „How old do you have to be before people start treating you like a person?“ fragt sie einmal und bringt damit die gesamte Crux ihrer individuellen Situation zum Ausduck. Entgegen aller ethischen Verträge und unter dem posthumen Appell des Vaters verteidigt sie ihre Selbstständigkeit bis aufs Blut und zumindest zunächst auch hinreichend geschickt, um unter dem Radar des beschirmten Rechtsauges damit durchkommen zu können. Die hexenartige Mrs. Hallet fällt einem Unfall in Rynns Haus zum Opfer -; die Umstände verlangen von dem Mädchen, dass sie die Leiche verschwinden lässt. Dazu – und nicht nur dazu – lässt ihr der etwas ältere teen outcast Mario seine unvoreingenommene Hilfe zukommen; er hilft ihr, Spuren zu verwischen und ihre Illusion vom noch lebenden Vater aufrecht zu erhalten. Wie Rynn ist Mario ein Sonderling. Gezeichnet durch eine spät ausgebrochene Kinderlähmung hinkt er und wenn die anderen Jugendlichen der Gegend sich beim Football vergnügen, gibt er Zaubervorstellungen auf Kindergeburtstagen. Rynn und Mario verstehen sich, verlieben sich und schlafen miteinander, eine weitere Unpässlichkeit wider jedwedes soziale Normativ. Das pure Böse schlägt jedoch abermals zu – in der Person von Mrs. Hallets Sprössling Frank, einem kleinen Mädchen nachstehenden Tunichtgut und Sadisten von wiederum überaus intelligentem, aber ebenso offen diabolischem Wesen. Aus einer Laune heraus quält er Rynns Hamster zu Tode, bedroht und erpresst das Mädchen später, ihm, während Mario im Krankenhaus liegt, hörig zu sein. Wiederum ist Rynn zur gewalttätigen Entledigung eines erwachsenen Störfaktors gezwungen und während sie dem tödlich vergifteten Frank Hallet beinahe reglos beim Sterben zusieht, laufen bereits die end credits. Koenig und Gessner entlassen uns mit diesem einerseits durchaus befriedigenden, schicksalsträchtigen Selbstjustizakt in ein konsequentes Dilemma – wenngleich Rynns Chancen, auch diesen Mord (oder besser: Todesfall?) zu vertuschen, höchst gering ausfallen, wünscht man ihr insgeheim, dass alles gut gehen möge, dass ihr Mario wieder gesund wird und das Paar auf eine gemeinsame, stabile Zukunft bauen kann. Andererseits ist diese Zukunftsprojektion wohl so romantisch wie naiv. Obwohl wir sie als kluge, eloquente Kindfrau erleben, wird Rynn langfristig keinen Chancen haben, sich sozial zu etablieren und einem (durchaus verdient) ungestörten Leben nachgehen zu können. Die Vergangenheit wird ihr immer wieder auflauern und ein Lebensstil, wie ihr Vater und sie selbst ihn für sich wünschen, dürfte langfristig unmöglich sein, aus vielerlei offensichtlichen Gründen. Ob Rynn mit ihrem freiheitlichen Selbstverständnis nun nicht reif ist für unsere Gesellschaft oder vice versa, mit dieser Entscheidung darf man sich schlussendlich tragen.
Vor allem jener bestimmte Verzicht auf jede Form moralinsaurer Tendenziösität macht „The Little Girl Who Lives Down The Lane“ nachträglich zu einem kleinen Meisterwerk.

9/10

L’ENFANT

Zitat entfällt.

L’Enfant ~ BE/F 2005
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne

Stolz präsentiert die achtzehnjährige Sonia (Déborah François), just von der Entbindungsstation kommend, Bruno (Jérémie Renier) ihren gemeinsamen, neugeborenen Sohn Jimmy. Das Paar steht weitgehend vor dem materiellen Nichts; Bruno, der mit seinen vierundzwanzig Jahren gerade einmal den emotionalen Reifegrad vielleicht eines Grundschulkindes besitzt, schlägt sich mit Diebstählen und Hehlereien durch den Tag. Seine und Sonias gemeinsame Sozialwohnung hat er kurzerhand für ein paar Tage untervermietet, um ein paar Euros zu verdienen. Mit seinem neuen Status als Vater eines Babys kann Bruno daher folgerichtig in keinster Weise umgehen. Spontan beschließt er, Jimmy an eine Gruppe illegaler Adoptionsvermittler zu verkaufen. Als er Sonia dies wie selbstverständlich eröffnet, bricht sie zusammen und muss ins Krankenhaus. Obwohl es dem völlig uneinsichtigen Bruno gelingt, Jimmy wieder zurückzuholen, will Sonia fortan nichts mehr mit ihm zu tun haben. Hinzu kommt, dass die Gangster unter Gewaltandrohung eine weitere hohe Geldsumme von ihm als „Aufwandsentschädigung“ verlangen. Ein eilends organisierter Raubüberfall, bei dem Bruno sich von seinem noch wesentlich jüngeren Helfershelfer Steve (Jérémie Segard) helfen lässt, geht ebenfalls schief…

…oder von einem, der sich sukzessive immer tiefer in die Scheiße reitet. Das im Gangsterfilm häufig bediente Narrativ des kleinkriminellen Glücksritters, der deutlich mehr abbeißt als er schlucken kann, diente den Dardennes als inhaltlicher Motor für ihren nächsten Film, freilich wiederum eine Studie in Armut, Unreife und Hoffnungslosigkeit. Für die Interpretation ihrer Hauptfigur griffen die Belgier auf Jérémie Renier zurück, der als Igor bereits in „La Promesse“ einige empfindliche Lebenslektionen zu lernen und sich am Ende seiner moralischen Verantwortung zu stellen hatte. Bruno als ein älteres alter ego Igors zu bezeichnen, liegt mit ein wenig Phantasie insofern im Bereich des Optionalen. Der im Prinzip nicht unsympathische junge Mann wird vor existenzielle Herausforderungen gestellt, die er aus verschiedenen Gründen nicht zu meistern imstande ist und begegnet diesen nicht nur mit Hilflosigkeit, sondern mit einem ultimativen Sündenfall: er verscherbelt seinen neugeborenen Sohn für ein paar Kröten und erwartet zudem von der Kindesmutter, dass sie diese ungeheure Entscheidung im Nachhinein mitträgt. Sie könnten ja „ein Neues machen“, führt er zu seiner argumentativen Rechtfertigung ins Feld. Für Bruno, der sich schon allzu lange auf geborgter Sühnefreiheit ausruht, der Anfang vom Ende der moralischen Verlotterung. Wie ein Junkie oder Alkoholiker muss er erst so tief fallen, dass es tiefer nicht mehr geht, mit dem Rücken zur Wand stehen ohne jedwede Fluchtmöglichkeit. Erst diese Position lässt ihn aufwachen und verehrt ihm zugleich eine letzte Chance, die Dinge irgendwann zum Besseren zu wenden.
Hoffnungslosigkeit ist die Sache der Dardennes bei allem sprachlos Machenden, das ihre Figuren regelmäßig zu durchleben und -leiben haben, nicht. Jede und jeder erhält bei ihnen eine zweite Chance, bevor sie ein weiteres Mal mitten aus der letzten Szene heraus in den Abspann gehen. In „L’Enfant“, dessen Titel wiederum trefflichts doppeldeutig gewählt ist, gestalten sie diese finalen Momente so zärtlich, taktil und berührungsintensiv wie noch nie zuvor und überlassen dadurch zugleich weniger der inneren Fortschreibungsimagination als bislang gewohnt. Dass ihnen wiederum mehr Budget zur Verfügung stand, schlägt sich in kaum merklichen Details nieder: mehr Bewegungsabläufe gibt es zu sehen (Bruno ist fast unaufhörlich unterwegs), dazu sogar eine motorisierte Verfolgungsjagd als Actionsequenz. Dass sie sich an standardisiertere Kinomechanismen heranwagen, schwächt die Kraft des dardenne’schen Kosmos jedoch zum Glück keineswegs.

9/10

LET ME IN

„Can’t we just keep things the way they are?“

Let Me In ~ UK/USA ~ 2010
Directed By: Matt Reeves

Der zwölfjährige Owen (Kodi Smit-McPhee) hat alles andere als ein einfaches Leben. In einer freudlosen Mehrfamilienhaussiedlung in Los Alamos bei einer alleinerziehenden, dem Alkohol frönenden Mutter (Cara Buono) wohnend, muss der zarte Junge darüberhinaus in der Schule tagtäglich das quälende bullying des Schlägers Kenny (Dylan Minette) und seiner beiden Adlatusowie (Jimmy Jax Pinchak, Nicolai Dorian) ertragen. Als ein älterer Herr (Richard Jenkins) und die gleichaltrige Abby (Chloë Grace Moretz) neben ihm einziehen, hellt sich Owens spröder Alltag zumindest ein bisschen auf: Mit Abby, die viel Verständnis für ihn und seine Situation aufbringt, freundet er sich rasch an und beginnt auch zögerlich, hinter das Geheimnis des Mädchens zu kommen – dieses ist nämlich gar kein Mädchen, zumindest nicht im traditionellen Wortsinn…

Neuadaptionen und Remakes sind ja ebenso klassisches Kinotreibgut wie Sequels und Reboots. Ein klein wenig mehr Fragwürdigkeit mag sich in die Diskussion um das Für und Wider von ersteren einschleichen, wenn sie so zeitnah zum „Original“ entstehen wie „Let Me In“ nach Tomas Alfredsons „Låt Den Rätte Komma In“. Während der schwedische Regisseur, dem Recycling vorhandenen Materials nebenbei selbst keineswegs abgeneigt, wohl relativ erbost war über die Zweitverfilmung für den anglophonen Markt, zeigte sich dem Vernehmen nach zumindest John Ajvide Lindqvist, der Autor der Romanvorlage, zufrieden mit ihr.
Dem spricht grundsätzlich nichts zuwider, auch „Let Me In“ (die zweite namhafte Produktion des just wiedererweckten, englischen Traditionsstudios Hammer nach dem schönen „Wake Wood“), der auf Reeves‘ Found-Footage-Monsterepos „Cloverfield“ folgte, reüssiert als sehenswerter Gattungsbeitrag. Der Film greift die meisten Kerntropen, die auch „Låt Den Rätte Komma In“ auszeichnen, auf und schafft zudem eine kaum minder morbid-romantische Atmosphäre, die die beiden KinderdarstellerInnen vorzüglich auskleiden. Gewiss, die Zugeständnisse an die nunmehr wesentlich größere Rezipientenschaft sind unübersehbar; so gibt es hierin deutlich kinetischer inszenierte Sequenzen in Bezug auf die Attacken von Abby und vor allem die ihres namenlosen Renfield-Lakaien. Das Vampirmotiv scheint mir hinsichtlich seiner diversen filmischen und literarischen Wurzeln deutlich traditionsverbundener verhandelt, alles wirkt größer, teurer, mainstreamiger. Zudem reitet „Let Me In“, dafür sprechen die romantisierende Verwendung von Popkulturartefakten wie der Arcade oder der flotten Songkompilation, den mittlerweile ziemlich abgehalfterten Achtziger-Retro-Zossen in sehr viel nostalgieaffinerer Weise als „Låt Den Rätte Komma In“, in dem, zumal vor dem Hintergrund der unterkühlten Secret-Service-Songs, Zeit und Zeitkolorit noch eher wie schmucklose Gefängnisse ihrer TeilhaberInnen wirken. Den größtmöglichen Stolperstein entfernte man jedoch kurzerhand, in dem die Frage nach der Geschlechtsidentität des kindlichen Vampirs sich nicht länger akut stellen muss; obschon Abby mehrfach betont, dass sie „kein Mädchen“ sei, darf doch sicher davon ausgegangen werden, dass sie mal eines war (und kein kastrierter Junge, wie es der Roman eindeutig und die Erstverfilmung zumindest naheliegend formulieren). Die mehr und mehr florierende Romanze zwischen Owen und Abby gestaltet sich also, ganz im Sinne der rezeptorischen Massenkompatibilität, heteroclean und ohne „störende“ queere Implikationen. Abgesehen von diesen kleinen Reförmchen, die man als Verrat am Grundgerüst der Geschichte auslegen könnte oder auch nicht, gibt „Let Me In“ allerdings einen durchaus schönen Vampirfilm ab und ein Kleinod seines Subgenres. Bloß originell, das ist er leider weniger.

7/10

POLICE

Zitat entfällt.

Police (Der Bulle von Paris) ~ F 1985
Directed By: Maurice Pialat

Während er gegen einen aus tunesischen Migranten bestehenden Dealerring ermittelt, lernt der Pariser Polizist Mangin (Gérard Depardieu) Noria (Sophie Marceau), die Freundin eines der Verdächtigen, des in U.-Haft wandernden Simon Sinan (Jonathan Leïna) kennen. Die junge, opportunistische Frau spielt ihr ganz eigenes Spiel und knüpft Kontakte und Liebesbeziehungen, wie sie ihr gerade zupass kommen, sei es zu Simons windigem Anwalt Lambert (Richard Anconina) oder eben zu Mangin, dem es auf Biegen und Brechen nicht gelingen mag, eine neue Frau fürs Leben zu finden. Als Noria dem Gangsterclan eine Tasche prallgefüllt mit Bargeld und Kokain stiehlt, begibt sie sich in tödliche Gefahr.

Das Script zu „Police“ stammt in Kooperationsarbeit von der Ausnahmefilmerin Catherine Breillat und gibt sich so offensiv sperrig und unzugänglich, wie man es von ihren eigenen Regiearbeiten gewohnt ist. Garantiert keine der zentralen Hauptfiguren dient sich zur Publikumsidentifikation an – Mangin, den wir die meiste Erzählzeit durch das verworrene Beziehungsdickicht begleiten, wirkt etwa wie der reinkarnierte Protagonistenarchetyp aller hardboiled-Polizeigeschichten der Welt. Ein Zyniker durch und durch, bullig und eigenbrötlerisch, bisweilen zu spontaner Gewalt neigend, nach Liebe und Zärtlichkeit gierend und doch unfähig, selbige zurückzugeben. Auch er lässt sich, wohl gezwungenermaßen, durch die Stadt treiben wie eines ihrer übrigen millionen von Zahnrädchen, weiß als beständiger Kämpfer gegen Windmühlen, dass selbst seine Position als sogenannter Gesetzeshüter kein Fünkchen von Besserung gewährleistet und wird, vielleicht aus einer irrationalen Bequemlichkeit heraus, ewig so weitermachen wie bisher. Insofern unterscheidet sich die wesentlich jüngere Noria [allein innerhalb des Filmgeschehens die dritte Frau, mit der er versucht, Beziehungsbande zu knüpfen nach der Hure Lydie (Sandrine Bonnaire) und der Nachwuchskommissarin Marie (Pascale Rocard)], was ihre bereits vorgealterte Lebensweisheit und ihre amoralische Abgeklärtheit anbelangt, am Ende überraschend wenig von Mangin – auch sie nimmt die Abzweigungen, die ihr jeder neue Tag bietet, mit der steten Contenance der Vertrauensverweigerung. So mäandern die beiden durch einen im Prinzip völlig beliebigen Kriminalplot, eine urbane Allerweltsgeschichte, in der es nichtmal Tote gibt, wenngleich zumindest entsprechende Versuche stattfinden. Doch selbst die stets an der Grenze zur Parodie entlangschrammenden Tunesier wirken mit ihrem überkommenen muslimischen Ethos als relativ unbeholfene, beinahe inkompetente Kriminelle, die erst lernen müssen, mit dem befremdlich-entmoralisierten Habitus der nordwestlichen Großstädter klarzukommen. Eine scheinbar unerhebliche Nebenepisode verdeutlicht, wie beiläufig und realitätsverwurzelt „Police“ im Kern eigentlich ist: Ein junger Schläger, dem Mangin während eines Verhörs kurzerhand die Nase bricht, taucht gegen Ende des Films wieder auf und lädt ihn zu einem Schnaps ein. Man erwartet bereits, dass jetzt etwas Tragisches passieren muss, eine späte Rache vielleicht, ein Heckenschuss aus der Nacht, – doch: nichts. „Police“ endet so, wie er begonnen hat: mittendrin.

8/10

TCHAO PANTIN

Zitat entfällt.

Tchao Pantin (Am Rande der Nacht) ~ F 1983
Directed By: Claude Berri

Lambert (Coluche) beackert die Nachtschicht an einer kleinen Total-Tankstelle in Paris. Seine einsamen Stunden verbringt er mit Saufen und Spiegeleierbraten. Eines Nachts lernt er den jungen Youssef Bensoussan (Richard Anconina) kennen, der in der Nachbarschaft wohnt und in Bars Rauschgift für den arabischen Pusher Rachid (Mahmoud Zemmouri) vertickt. Lambert und Youssef freunden sich an, derweil der Junge versucht, bei der Punkergöre Lola (Agnès Soral) zu landen. Als Youssefs geheimes Drogendepot geplündert wird und er mit einer hohen Summe bei Rachid in der Kreide steht, nimmt sich dessen Gorilla Mahmoud (Mohamed Ben Smaïl) den Jungen vor, der daraufhin in Lamberts Armen stirbt. Dieser begibt sich auf einen privaten Rachefeldzug, derweil Lola ihm nicht mehr von der Seite weichen mag.

Selten war Paris im Film schmutziger, verwaschener und hoffnungsloser als in Berris zugleich doch so romantischem neo noir. Kaum ein Sonnenstrahl scheint jemals den verregneten, grauen Putz der maroden Häuserfronten zu passieren, die urbane Welt von Belleville wirkt wie ein Präludium zur Apokalypse. Inmitten dieses desolaten Betondschungels führt uns Berri ganz allmählich und bedachtsam an seine drei nicht minder prekären Helden heran, allesamt entwurzelte outcasts, die dem Tod näher als dem Leben stehen. Erst im späteren Verlauf der Geschichte offenbaren sich die Gründe für Lamberts väterliche Sympathie für Youssef: Einst Inspecteur bei der Polizei hatte er seinen eigenen Sohn an das Heroin verloren, danach den Dienst quittiert und wurde von der Frau verlassen. Seither treibt er als einsames, stilles Nachtphantom zwischen Tankstelle, Kneipe und Wohnung. In Youssef, der eigentlich doch vieles repräsentiert, was Lamberts reaktionärem Bild junger Großstädter seine Antipathie verleiht (er verdient seine paar Kröten als krimineller Tagelöhner und Kleinstdealer, raucht selbst Joints und ist zu allem Überfluss arabischer Herkunft), schließt er den Jungen als Ersatzsohn ins Herz, nur um ihn gleich darauf wieder zu verlieren. Nach dieser abermaligen Existenzzäsur wird Lambert nicht abermals resignieren, sondern ganz auf eigene Faust zur Waffe greifen und schließt dabei gleich noch mit seinem eigenen Leben ab, weiß er doch aus hinlänglicher Erfahrung, dass irgendwo weiter oben in der Gangsterhierarchie jemand sein Spiel nicht mitspielen wird. Die Polizei, repräsentiert durch den lethargischen Flic Bauer (Philippe Léotard), lässt Lamberts Selbstjustiz nicht nur heimlich gewähren, sondern gibt ihm noch einen entscheidenden Tipp und die deutlich jüngere Lola ihrerseits verliebt sich in den traurigen, unattraktiv scheinenden Hampelmann (dt. für „pantin“) Lambert und schenkt ihm ein paar erfüllte letzte Stunden, bevor die entfesselte Gewaltspirale auch ihn mit sich reißt.
Berri ist mit „Tchao Pantin“ ein wunderschöner Genrefilm am Bruch zu den gentrifizierten, chiquen, von Aerobic und Yuppies bevölkerten (vielleicht auch ein wenig entseelten) Folgeachtzigern gelungen, einfach und konzentriert in seiner Charakterzeichnung und doch so mitreißend und packend. Die Page-Adaption sieht sich zudem als Polar in der Tradition der Vorgängerdekade, bar jedweden Humors und konsequent fatalistisch, derweil Belmondo die Gattung immer weiter zur großpublikumsaffizierenden Stuntshow umformte. Sensationell natürlich insbesondere das viel zu früh verstorbene, menschliche Gesamtkunstwerk Coluche, der sich mit dieser ausnahmsweise (dafür aber richtig) ernsten Performance noch drei Jahre vor seinem Tod ein besonders formidables schauspielerisches Monument zu setzen vermochte.

9/10

37°2 LE MATIN

Zitat entfällt.

37°2 Le Matin (Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen) ~ F 1986
Directed By: Jean-Jacques Beineix

Die wilde Liebesgeschichte von Zorg (Jean-Hugues Anglade) und der wesentlich jüngeren Betty (Béatrice Dalle), die am sommerlich-heißen Mittelmeerstrand von Gruissan beginnt, Zwischenstation in Paris macht und in Marvejols tragisch endet.

Film und Buch (Philippe Dijan) beeinflussten ihren rasanten Aufstieg inmitten der achtziger Jahre reziprok; der Roman, in dem ein großer Teil der jugendlichen, mitteleuropäischen Leserschaft sich und ihr Lebensgefühl wiederzuerkennen glaubte, stand kaum abgekühlt in den Regalen, als Beineix bereits die Adaption vorlegte. Diese fand sich von der produzierenden Gaumont zum Start hin um ein gutes Drittel gekürzt, konnte, im Gegensatz zu Beineix‘ ein ähnliche Schicksal durchleidendem Zweitwerk und Vorgängerfilm „La Lune Dans La Caniveau“, jedoch später noch gerettet und wieder in seine gut dreistündige Integralfassung gebracht werden.
„37°2 Le Matin“ erzählt also die fatal(istisch)e Liebesgeschichte eines Bohémien-Pärchens, die schließlich unter der unaufgeschlüsselten Persönlichkeitsstörung der exaltierten Betty zerbrechen wird. „Die Welt ist zu klein für sie“, sagt Zorg einmal, um sich und seinem Kumpel Eddy (Gérard Damon) Bettys bizarre Ausraster transparent zu machen, und dies gilt vor allem auch im Umkehrschluss. Dabei gibt es soviel, was die beiden zusammenschweißt – sie haben erfüllenden, exzessiven Sex, lieben beide das planlose Leben in den Tag hinein, treffen oftmals irrational anmutende Entscheidungen und begeistern sich für dieselben Menschen und WegbegleiterInnen. Während Zorg jedoch seine negativeren Lebenserfahrungen im Schreiben und zynischen Gelegenheitsphilosophieren zu kanalisieren pflegt, fehlt der Kindfrau Betty eine etsprechende Gabe. Emotional herausfordernden Situation begegnet sie mit offener Gegenwehr, vor deren explosiver Veräußerung das jeweilige Gegenüber dann nurmehr kapitulieren kann. Diese Situationen sorgen für Konflikte und Konfrontationen mit dem Gesetz, die der besonnene Zorg dann zumindest zunächst jeweils auf mehr oder minder diplomatische Weise auflösen kann. Dabei gerät er im Laufe der Zeit auch selbst auf paradoxe Abwege – einmal überfällt er, als Frau verkleidet, eine Spedition und kauft Betty von der Beute ein Stückchen Land im Gévaudan. Als Betty jedoch die zerstörerische Erfahrung einer Scheinschwangerschaft machen muss, nimmt ihre latente Selbstverachtung irreparable Formen an – sie schneidet sich in Zorgs Abwesenheit selbst ein Auge heraus und landet, fixiert, sediert und katatonisch in der Psychiatrie. Für Zorg, der just endlich einen Verleger für sein Manuskript gefunden hat, ist damit klar, dass Bettys Feuer ein für allemal erloschen sein wird; die vitale, libertine Frau ist unwiederbringlich verloren. In einem Gnadenakt der Sterbehilfe verkleidet er sich abermals als sein feminines alter ego und erstickt Betty, genau wie einst der Indianer Bromden den lobotomisierten R.P. McMurphy, mit einem Kissen. Nunmehr wieder allein, verleiht ihm erst die Last der Einsamkeit die Flügel zum Schreiben zurück.
Inhaltliche Substanzlosigkeit wurde dem ausgesprochenen Sommerfilm „37°2 Le Matin“ angelastet, der sich darüberhinaus als typischer Vertreter des Cinéma du look auf bloße Oberflächenreize verlasse und kaum mehr denn eine Projektionsfläche für die bonbonfarbenen Impressionen seines Regisseurs sei. Dieser Vorwurf greift bei genauerem Hinsehen und insbesondere in Anbetracht des director’s cut natürlich überhaupt nicht (mehr). Der Film erzählt aufrichtig, leidenschaftlich und eng an seinen Hauptfiguren entlang die Episoden einer befristet erfüllten Partnerschaft, gesäumt von Lust, Leben und Lachen, bis hin zu ihrem Ende. Dessen recht spektakulärer Verlauf darf als Auswuchs literarischer Fabulierkunst gelten und macht erst all das zuvor Entblätterte umso nachvollziehbarer. Ist man bereit, Zorgs Perspektive einzunehmen und sich mit ihm durch sein von unvorhersehbaren Meilensteinen durchzogenes Künstlerleben treiben zu lassen, wird man sich – vielleicht ein wenig, vielleicht ein bisschen mehr – auch in die kaum einem modellhaften Schönheitsideal gerecht werdende, aber in all ihrer berserkerhaften Unschuld doch hocherotische Betty verlieben und Zorg um jede Minuten mit ihr, zumindest um jede glückliche, und derer waren die meisten, beneiden.

8/10