AMAZING GRACE

„Your life is a thread. It breaks, or it doesn’t break.“

Amazing Grace ~ UK/USA 2006
Directed By: Michael Apted

England, 1782. Der junge Parlamentarier William Wilberforce (Ioan Gruffudd) exponiert sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit öffentlich als leidenschaftlicher Gegner des Sklavenhandels. Auch sein bester Freund, der spätere Premierminister William Pitt (Benedict Cumberbatch), steht, obgleich politkarrieristisch wesentlich ambitionierter, auf Wilberforces Seite. Pitt ist es auch, der Wilberforce einem kleinen Zirkel von abolitionistischen Aktivisten vorstellt, darunter der Theologe Thomas Clarkson (Rufus Sewell) und der Ex-Sklave Olaudah Equiano (Youssou N’Dour). Zunächst erweisen sich Wilberforces Bemühungen im Unterhaus als zwecklos; allzu gewichtig ist der Widerstand der an der Sklaverei verdienenden Lobby. Viele Jahre des unermüdlichen Kampfes und der Überzeugungsarbeit stehen Wilberforce bevor, bis am 25. März 1807 ein Gesetz zum Verbot des Sklavenhandels im britischen Machtbereich mit großer Mehrheit durchgesetzt und erlassen wird. Nur drei Tage nach der endgültige Abschaffung der Sklaverei in Großbritannien stirbt Wilberforce am 29. Juli 1833.

Michael Apteds Biopic über einen der der maßgeblichen Abolitionisten in Europa verzichtet anders als viele historisch grundierte Filme über die Sklavereiganz bewusst darauf, die inhumanen Zustände vor Ort, also in Afrika, auf den Schiffen oder in den Kolonien zu bebildern und unterscheidet sich allein dadurch in beträchtlicher Weise von den diversen, oft deutlich populäreren Kino- und TV-Klassikern zum Thema. Wilberforce, ein Kind der Aufklärung und der damit einhergehenden, humanistischen Strömungen, bezieht seine Maximen höchstselbst nicht aus unmittelbaren Zeugnissen der global grassierenden Unmenschlichkeit, sondern aus dem, was ihm mündlich und schriftlich zugetragen wird. Als ein maßgeblicher Faktor ergibt sich die Bekanntschaft mit dem alternden Ex-Sklavenschiffskapitän John Newton (Albert Finney), der, innerlich geläutert und zum Christ geworden, erst Jahrzehnte der Buße und Einkehr benötigt, bevor er als mittlerweile Erblindeter seine Memoiren zu Diktat gibt.
Bis zur körperlichen Aufzehrung widmet sich Wilberforce seinem Ziel; er wird krank und süchtig nach Laudanum. Erst die Heirat mit der starken Barbara Spooner (Romola Garai) verleiht ihm die Kraft, weiter für die Abschaffung der Sklavenhandels einzutreten. Dabei gelingt es ihm, mehr und mehr auch prominente Stimmen wie den Lebemann Lord Fox (Michael Gambon) für seine Zwecke zu gewinnen.
„Amazing Grace“ wirkt in seiner gelassenen, akribischen und dennoch spannenden Art des Erzählens wie eine Fortführung der Welle biographischer Filme der dreißiger und vierziger Jahre aus Hollywood und England, von denen diverse etwa von William Dieterle inszeniert wurden. Diese pflegten ihre Titelcharaktere als getriebene und demzufolge oftmals auch anfällige Visionäre zu porträtieren, deren (geistige, technische oder materielle) Errungenschaften ihnen einen Platz im Pantheon großer Geister sicherten. Hier wie dort gab und gibt es eher wenig Platz für Kritik an den Protagonisten, derweil sie in besonderem Maße die Summe ihrer Fürsprecher, Unterstützer und natürlich Widersacher darstellen. Zu konstatieren, „Amazing Grace“ sei ein wenig aus der Zeit gefallen, wäre also sicherlich nicht ganz verfehlt. Für mich ist das neben vielen anderen jedoch eine seiner Hauptqualitäten.

8/10

THIRTEEN LIVES

„Can we go out now?“

Thirteen Lives (Dreizehn Leben) ~ UK 2022
Directed By: Ron Howard

Der Tham Luang–Khun Nam Nang Non-Waldpark, Thailand, 2018: Aus einer Hals über Kopf geborenen Abenteueridee begeben sich zwölf Kids eines lokalen Jugend-Fußballteams mitsamt ihrem Trainer in das örtliche Gebirgshöhlensystem. Der urplötzlich einsetzende Monsun sorgt dafür, dass die dreizehn jungen Männer in einer Kaverne eingeschlossen werden und nicht wieder herauskönnen. Bald darauf schlussfolgert die örtliche Polizei den Verbleibsort der mittlerweile vermisst gemeldeten Gruppe. Im Zuge einer groß angelegten, waghalsigen Rettungsaktion vor globalem Medienecho können sämtliche Verunglückten nach fünfzehn Tagen Gefangenschaft befreit werden.

Ähnlich wie seinen Künstlerkollegen und Berufsgenossen Clint Eastwood und noch andere arrivierte Filmemacher veranlassen Ron Howard allenthalben authentische Begebenheiten – Katastrophen, Rettungen, Helden, große und kleine Wunder – zu neuerlichen Kreativprozessen. „Thirteen Lives“ befasst sich (in dem Vernehmen nach höchst akkurater Weise) mit der spektakulären Rettung dreizehn in einer überfluteten Höhle in der thailändischen Chiang-Rai-Provinz eingeschlossener Unglücksopfer. Zwei erfahrene englische Taucher, Rick Stanton und John Volanthen, im Film gespielt von den publikumsvertrauten Gesichtern Viggo Mortensen und Colin Farrell, gelang es mithilfe weiterer Kollegen und unter denkbar schwierigsten Bedingungen und nach langer Vorbereitung, die gesamte Fußballmannschaft binnen drei Tagen herauszuholen. Die geschwächten Jungen mussten zunächst sediert und anästhesiert, hernach noch fixiert und ohne Bewusstsein von einem Begleittaucher durch die engen, völlig verschlammten Tauchgänge bis zum Ausgang transportiert werden. Zuständig für die korrekte Medikation war Stantons und Volanthens Bekannter Richard Harris (Joel Edgerton), selbst ein erfahrener Höhlentaucher und berufsmäßiger Anästhesist. Das gesamte Procedere erwies sich sowohl als verzweifeltes Vabanque-Spiel wie auch als Pionierleistung auf seinem Gebiet. Eine andere Möglichkeit, die Gefangenen noch rechtzeitig lebend zu bergen, hätte es de facto nicht gegeben; die Risiko- und Verlustoptionen mussten nüchtern und objektiv gegeneinander aufgewogen werden.
Daran, dass Howards Inszenierung und das von dem diesbezüglich erfahrenen Scriptautoren William Nicholson adaptierte, klaustrophobische Geschehen formaltechnisch einwandfrei umgesetzt werden würden, sollten angesichts der jeweiligen Meriten a priori kaum Zweifel bestehen. Entsprechend gewogen darf man dem durchweg sorgfältig gefertigten, spannenden Resultat gegenüberstehen, zumindest, wenn man ein Faible für dramaturgisiertes storytelling aufbringt. Diesbezüglich besteht „Thirteen Lives“ als profunder Gattungsbeitrag, der sich gerade so wichtig nimmt, wie es seinem Sujet gebührt. Dabei erweisen sich kleine Bedenklichkeitsschlenker wie die Kaprizierung auf den Klimawandel als Katastrophenbeschleuniger oder die latente Unterdrückung der (staatenlosen) Wa-Minderheit als relativ leicht verschmerzbare Nebenerscheinungen. In Anbetracht der Faktenumsetzung mit etablierten westlichen Stars wurden zudem teils antizipierbare, kritische Stimmen vernehmbar, die eine mögliche White-Savior-Glorifizierung als hollywood-obligate Rassismusinsinuierung vermuteten. Ob man diesen Verdächtigungen Recht zuspricht, scheint mir letzten Endes (einmal mehr) unerheblich, denn die vorhandenen Tatsachen sprechen unumstößlich für sich und dem Film dürfte ohnedies kaum an derlei Plumpheiten gelegen sein. Möge ein/e jede/r die heuer sowieso unvermeidliche Wokeness-Goldwaage für sich selbst austarieren.

8/10

ONDSKAN

Zitat entfällt.

Ondskan (Evil) ~ S/DK 2003
Directed By: Mikael Håfström

Stockholm in den späten Fünfzigern. Der intelligente Teenager Erik Ponti (Andreas Wilson) fällt immer wieder durch brutale Schlägereien und andere kriminelle Aktionen auf, allesamt wohl umwegige Reaktionen auf die körperlichen Misshandlungen durch seinen gewalttätigen Stiefvater (Johan Rabaeus). Als er schließlich polternd der Schule verwiesen wird, sieht Eriks Mutter (Marie Richardson) die letzte Chance für ihren Filius, einen Abschluss zu bekommen, in einem Internatsplatz. Nachdem sie diverses Mobiliar veräußert hat, meldet sie Erik an der Eliteschule Stjärnsberg an. Dort herrscht eine traditionsreiche Hackordnung, die darin besteht, dass die Primaner die jüngeren Schüler mittels allerlei selbstherrlicher Regeln herumkommandieren, drangsalieren und erniedrigen. Erik verweigert jedoch jedweden Gehorsam und macht sich so zum obersten Hassobjekt des Schülersprechers Silverhielm (Gustaf Skarsgård) und seines Adlatus Dahlen (Jesper Salén). Deren Unterdrückungsversuche, die bald dazu dienen sollen, ihn aus der Reserve zu locken und ihn somit fliegen zu lassen, prallen samt und sonders an Erik ab, insbesondere, nachdem dieser die Schulmeisterschaft im Schwimmen gewinnt. So entwickelt man diverse alternative Strategien, darunter die, Eriks sanften Zimmergenossen Pierre (Henrik Lundström) zu tyrannisieren…

Der bereits 1981 erstveröffentlichte, autobiographische Roman „Ondskan“ des schwedischen Journalisten und Erfolgsautors Jan Guillou zählt zu den meistgelesenen muttersprachlichen Büchern im Land und erhielt auch Einzug in den deutschen Schulliteraturkanon. Bis zur weitestgehend kongenialen Filmadaption dauerte es dennoch einige Jahre, wobei die Wartezeit sich als lohnend erwies: Mikael Håfströms „Ondskan“ präsentiert sich als vielschichtiges Coming-of-Age-Drama, dessen diskursive Essenz sich vor allem auf den Topos „Selbstbehauptung innerhalb eines restriktiv-repressiven Systems“ kapriziert. Erik Ponti, „der Neue“, oder „die Ratte“, wie er von den Primanern um den sadistischen Silverhielm bald höhnisch gerufen wird, steckt nämlich in einem schweren Identitätsdilemma. Als durchaus selbst gewaltaffiner, erfahrener Schläger, dem es ein leichtes wäre, auch den älteren Fatzkes von Stjärnsberg unvergessliche Lektionen zu erteilen, darf er um keinen Preis zurückschlagen, denn das würde ihn den kostspieligen Schulplatz sowie den Abschluss kosten und seiner Mutter das Herz brechen. Es bedarf also anderer Mittel und Wege, um sich durchzusetzen, ohne zum Ausgestoßenen zu werden. Eriks nun folgender Weg gestaltet sich entsprechend mühsam und entbehrungsreich. Die Strafexerzizien von Silverhielm und seinem Gefolge werden zunehmend exzessiv und perfid, analog zu Eriks gleichbleibend stoischer Renitenz ihnen gegenüber. Der Lehrkörper indes schaut, obschon es durchaus liberal und fair denkende Didaktiker darunter gibt, gezielt weg und vertraut ganz auf das pädagogische Prinzip der „Selbsterziehung“ unter den Eleven – schließlich „funktioniert“ selbiges schon seit Jahrzehnten.
Allerdings ergibt sich aus Eriks stetig weiter kultiviertem Heldenstatus (und damit auch Guillaus Selbstbeweihräucherung) zugleich ein latentes Problem innerhalb des Narrativs, verfolgt es trotz aller treffender Anklagepunkte in Richtung Faschismus, Filz und Dünkelhaftigkeit doch eine unverhohlen darwinistische Denkweise. Erik kann am Ende nämlich nur reüssieren, weil er genügend Stärke, Cleverness und vor allem Resistenz besitzt, um sich durchzusetzen. Ein intellektuell geprägtes Individuum wie sein Freund Pierre Tanguy, Befürworter von Gandhis weg des gewaltfreien Widerstands oder Strindbergs Arbeiten, scheitert an den Repressalien der Älteren. Zu weich, zu verkopft – kurzum: zu schwach ist er, um Ungerechtigkeit und Despotismus langfristig ertragen zu können. Erik derweil macht aus seinen offenkundigen Vorbildern Elvis, Brando, Dean schon äußerlich keinen Hehl und wird wie sie schlussendlich rebellisch und findig genug sein, um den Spieß umdrehen zu können.
Man mag das mehr oder weniger genießbar finden – „Ondskan“ ist infolge diverser untadeliger Qualitätsmerkmale von der Inszenierung bis hin zu den darstellerischen Leistungen insgesamt ein starker Film, der zumindest zeigt, wie wichtig es vor allem für Heranwachsende ist, eine stabile moralische Agenda zu entwickeln.

8/10

BENEDETTA

Zitat entfällt.

Benedetta ~ NL/BE/F 2021
Directed By: Paul Verhoeven

Pescia, ein Städtchen in der Toskana, im 17. Jahrhundert. Die seit Kindertagen im hiesigen Theatiner-Kloster beheimatete Nonne Benedetta (Virginie Efira) verliebt sich in die Novizin Bartolomea (Daphne Patakia), eine niederem Stand entstammende, ungebildete, aber emotional leidenschaftliche junge Frau, die ihre Aufnahme in den Orden lediglich einer abrupt abgerungenen Mitgift durch Benedettas wohlhabenden Vater (David Clavel) verdankt. Beinahe zeitgleich mit Bartolomeas Erscheinen beginnt Benedetta, Visionen von Jesus Christus (Jonathan Couzinié) zu empfangen, die sie scheinbar in zwischenzeitliche geistige Umnachtung versetzen, mit fremder Zunge sprechen und sogar die Stigmata aufweisen lassen. Das folgende, allseitige Aufsehen führt dazu, dass Benedetta kurzum zur neuen Äbtissin des Klosters ernannt wird und ihre immer akuter werdenden sexuellen Gelüste mit Bartolomea unbehelligt hinter verschlossenen Türen ausleben kann. Schwester Christina (Louise Chevillote) jedoch, die Tochter der vormaligen, langjährigen Äbtissin Felicita (Charlotte Rampling), bezichtigt Benedetta der Lüge und Hochstapelei, was schließlich in ihrem eigenen Freitod endet. Die rachsüchtige, in weltlichen Angelegenheiten keinesfalls unbedarfte Felicita wiederum zeigt Benedetta beim Nuntius (Lambert Wilson) in Florenz an, der diese wegen Ketzerei auf den Scheiterhaufen bringen will, während die Beulenpest wütet.

Ob er ein feministischer Filmemacher sei, wird Paul Verhoeven in einem auf der Blu-ray veröffentlichten Interview zur Entstehung von „Benedetta“ gefragt. Seine Antwort lautet, dass die weibliche Perspektive auf die Dinge des Lebens ihm schon immer deutlich nähergelegen habe als die maskuline und er daher, zumal in den jüngeren Jahren, stets Geschichten bevorzuge, die von und über Frauen erzählen. Ein langer Weg, seit „Basic Instinct“, der bereits in genau diese Sphären vordrang, jedoch allerorten für Aufschreie seitens der Frauenrechtsbewegung sorgte, führt zu dieser de facto keineswegs überraschenden Äußerung.
„Benedetta“ nun setzt sich mit gelassener Altersweisheit zwischen die Stühle. Als Vorträger eines Sujets, das Verhoevens Leitmotivik nicht nur stark entspricht, sondern dessen Inszenierung ihm im Nachhinein auch erwartungsgemäß eindeutig zuzuordnen ist, reißt der Film allerlei thematische Facetten an. So geht es primär um sexuellen Libertinismus innerhalb einer historischen Ära und eines sozialen Mikrokosmos, der genau diesen in all seiner machtvollen Verlogenheit vehement negiert und darum, welcher Mittel sich eine intelligente Zeitgenossin zu seiner trotzigen Durchsetzung bedient. Gewiss sind auch exploitative Elemente Verhoevens Mittel der Wahl – „seine“, respektive Benedettas Christus-Visionen strotzen förmlich vor lustvoll-campiger Visualisierung: weibliche Nacktheit, softe Lesbenerotik und Sequenzen, die in den Siebzigern bestimmt noch für das eine oder andere Skandälchen gut gewesen wären – darunter ein auditiv sattsam untermalter Latrinengang, ein paar Tropfen Muttermilch, die sich eine dralle, hochschwangere Konkubine des Nuntius gut gelaunt aus der Brust quetscht, eine zum halbseitigen Dildo umfunktionierte Marien-Statuette oder die unvermeidliche, hochnotpeinliche Befragung Bartolomeas unter Zuhilfenahme eines höchst unangenehm konstruierten „Spreizinstruments“. Das alles liest sich möglicherweise errötender als es letzten Endes seine Umsetzung findet – den Spaß, den Verhoeven bei der Mise-en-scène just solcher Augenblicke empfindet, ist seit „Turks Fruit“ ungebrochen. Gewiss liebäugelt der ewig augenzwinkernde, charmante Veteran auch mit dem filmgeschichtlichen Subkomplex „Nunsploitation“ per se, also vorgeblich seriöser Kleruskritik für langbemantelte Bali-Besucher; wobei er sich, was die intellektuelle Ebene seines Narrativs anbelangt, gewiss dichter an Ken Russells „The Devils“ bewegt als etwa an Paolella (nebenbei erinnerten mich sogar die set pieces stellenweise an Russell). So mag man Benedetta durchaus als mentale Anverwandte des idealistischen Vorkämpfers Urbain Grandier bezeichnen – neben ihrer aufrichtigen Liebe zum ursprünglichen, lebensbejahenden Fundament des Christentums ließen sich jedenfalls beide ihre Geilheit nicht nehmen.

8/10

HOUSE OF GUCCI

„Quality is remembered long after price is forgotten.“

House Of Gucci ~ USA/CA 2021
Directed By: Ridley Scott

Mailand 1978: Auf einer Party lernt die dem gehobenen Arbeitermilieu entstammende Patrizia Reggiani (Lady Gaga) Maurizio Gucci (Adam Driver) kennen, den Jura studierenden Sohn des zur Hälfte an der berühmten Modemarke anteilhabenden Witwers Rodolfo Gucci (Jeremy Irons). Gegen den Willen seines Vaters heiratet Maurizio die Emporkömmlingin, die sich ihren Weg in die familiäre Schaltzentrale über Maurizios Onkel Aldo (Al Pacino) fräst, dessen eigener Sohn Paolo (Jared Leto) so ganz und gar nicht Aldos Vorstellungen eines fähigen Unternehmenserben entspricht. Patrizia beginnt, nach und nach ihre neue Machtposition auszuspielen und treibt schwere Keile in den familiären Zusammenhalt. Als sich Maurizio von Patrizia scheiden lässt, greift diese zu radikaler Gegenwehr…

Nachdem er sich mit „All The Money In The World“ bereits einer anderen sich aufreibenden Hochfinanz-Dynastie gewidmet hatte, nimmt Ridley Scott sich in „House Of Gucci“ der Geschichte um den Mord an Maurizio Gucci an, der am 27. März 1995 von einem zunächst unbekannten Attentäter erschossen wurde. Den daraus resultierenden, aus mehrerlei Gründen schönen „House Of Gucci“, inszeniert Scott mit leichter Hand und schwerer Ironie. Seine vier männlichen Guccis Maurizio und Rodolfo, vor allem aber Paolo und Aldo, gerieren sich als exzentrische Paradiesvögel zwischen pseudoaristokratischem Hochmut und exaltierter Pose, die das dazugehörige Darstellerquartett mittels hinreißenden Overactings darbietet. Als hätte man sich ganz bewusst abgesprochen, versuchen sich insbesondere Pacino und Leto unter ihrem irren Makeup in campiger Larmoyanz gegenseitig zu überflügeln, ein Duell, das der ungebrochen formidable New-Hollywood-Veteran freilich souverän für sich entscheidet. Die wahre interpretatorische Offenbarung ist jedoch Lady Gaga, die ich erstmals in dieser Position wahrnehmen durfte. Für die ungebildete, etwas bauernschlaue, aber über die Maßen selbstbewusste Intrigantin dürfte sie sich ein Beispiel an Joan Collins‘ legendärer „Dynasty“-Rolle der Alexis Carrington genommen haben, bekanntermaßen einer bedarfsweise zur Furie werdenden Hexe. Zwischen Leidenschaft und Boshaftigkeit oszillierend macht sie insbesondere dem beeinflussbaren Maurizio mittelbar das Leben schwer, indem sie ihn als ihr heimliches Machtinstrument missbraucht. Die überfällige Quittung lässt sie sich im Gegenzug allerdings nicht gefallen.
„House Of Gucci“ erinnert mich geradezu frappierend an die Schlag auf Schlag entstandenen, etwas in Vergessenheit geratenen, obschon starbesetzten Familienepen der Spätsiebziger wie Thompsons „The Greek Tycoon“, Youngs „Bloodline“ oder Richerts „Winter Kills“, die sich allesamt nicht scheuten, die alte Weise von sich selbst korrumpierender, intrafamiliärer Dekadenz in adäquat luxuriöse Breitbilder zu kleiden und dabei Storys zu erzählen, die sich dramaturgisch betrachtet zwar auf dem deterministischen Niveau eines Groschenromans bewegten, sich den Lebensrealitäten ihrer mal mehr, mal weniger heimlichen Vorbilder jedoch stets auf Haaresbreite annäherten. Exakt deren voluminösen Gestus greift Scott ganz unverhohlen wieder auf und schüttelt damit wie beiläufig großes Kino aus dem Ärmel. Analog zu seinen mitunter stoffeligen Ahnherren nimmt sich jedoch auch „House Of Gucci“ nicht ganz perfekt aus. Lässlicher- und mir unverständlicherweise hapert es an Details: Das Script missachtet etwa die authentische Chronologie (Reggiani und Gucci hatten sich bereits sechs Jahre zuvor verheiratet und waren nach New York gegangen) und die ansonsten durchaus gelungene Auswahl der Musikstücke purzelt ebenfalls schwer durcheinander. So löst etwa „Paid In Full“ von Eric B. & Rakim New Orders „Blue Monday“ als Hintergrundmusik ab bei einer 1983 stattfindenen Versace-Modenschau. Derlei Beispiele gibt es noch einige mehr, wobei etliche davon mir gewiss (noch) gar nicht aufgefallen sind. Andererseits ist Scott kein Scorsese und entbehrt auch dessen perfektionistische Detailvesessenheit, was auch gut so ist. Ja, „House Of Gucci“ bietet kaum verhohlenen, lustvollen Camp und ich finde es erfreulich, dass es das anno 2021 noch gibt.

8/10

ROB ROY

„Honor is a man’s gift to himself.“

Rob Roy ~ UK/USA 1995
Directed By: Michael Caton-Jones

Schottland, 1713. Während das altehrwürdige Clansystem allmählich zerfällt, spielt der als Rob Roy bekannte Hochland-Patriarch Robert Roy MacGregor (Liam Neeson) den Privatpolizisten für den Edelmann Marquess of Montrose (John Hurt). Nachdem er eiune gestohlene Rinderherde zurückbringen kann, erbittet MacGregor einen stolzen Kredit beim Marquess, um sich selbst einen Viehbestand zulegen und diesen hinterher wieder gewinnbringend veräußern zu können. Doch Montroses gieriger Verwalter Killearn (Brian Cox) und die exzentrische Hofschranze Archibald Cunningham (Tim Roth) durchkreuzen MacGregors Pläne, töten den Geldboten (Eric Stoltz) und kassieren die geliehene Summe selbst. Der über den Verlust ungehaltene Marquess nötigt MacGregor, den Herzog von Argyll (Andrew Keir) als Jakobiten zu verleumden, was dieser jedoch ablehnt und sich somit Montrose zum Intimfeind macht. MacGregor flüchtet in die Berge, derweil Cunningham dessen Frau Mary (Jessica Lange) vergewaltigt und seinen Besitz niederbrennt. Später kommt noch MacGregors aufsässiger, jüngerer Bruder (Brian McCardie) zu Tode. Erst die Intervenierung des Herzogs sorgt für MacGregors Freispruch und gibt ihm die Chance zur Rache an Cunningham.

Im unabdingbaren Vergleich mit Mel Gibsons oscarprämiertem, im selben Jahr entstandenem Mittelalter-Epos „Braveheart“ erwies sich die Publikumsaufmerksamkeit um die gut 4 Jahrhunderte später angesiedelte, ebenso prominent besetzte Mär um einen weiteren schottischen Geschichtshelden und Aufständischen als eher instabil. Tatsächlich geht Caton-Jones wesentlich weniger grell und flamboyant zu Werke; die von Gibson präservierte, in vielerlei Hinsicht mediävistische Heldenverehrung seines in Schlachtfeldblut watenden Titelhelden William Wallace weicht einem eher traditionell erzählten Abenteuerstoff, der in ähnlicher Auprägung auch zwanzig oder dreißig Jahre früher seinen Weg auf die Leinwand hätte finden mögen. Das Konzept „Musketen statt Breitschwertern“ geht in diesem Zusammenhang nur bedingt auf: mit Ausnahme des von Tim Roth vorzüglich-überkandidelt gespielten Adelsgünstlings und Bösewichts Cunningham, der mit seiner sadistischen, fiesen Charakteristik im Grundsatz ebenso vortrefflich in das Figurenensemble von „Braveheart“ gepasst hätte, bewegt sich alles in einem wohlbewährten Rahmen, der im Irgendwo zwischen cleaner Highland-Romantik und Robin-Hood-Varianz changiert. Freilich geriert das finale Klingenduell der beiden Antagonisten nicht von ungefähr zur unangefochtenen Klimax. Neeson war in dieser Karrierephase beinahe schon darauf abonniert, markige historische Persönlichkeiten dazubieten, seien es Oskar Schindler, Michael Collins oder Jean Valjean. Entsprechend routiniert fällt auch seine vorliegende Leistung aus, die im Großen und Ganzen ironischerweise als farbloseste von den für „Rob Roy“ wesentlichen bezeichnet werden kann. Carter Burwells Dudelsäcke dröhnen sich derweil mit Volldampf durch die knapp 140 zumindest bildgewaltigen Minuten, die alles in allem jedoch den kraftvollen Narzissmus sowie das brachial-verkitschte Selbstverständnis eines entfesselten Mel Gibson ermangeln.

7/10

THE WORLD ACCORDING TO GARP

„You know, everybody dies. The thing is, to have a life before we die. It can be a real adventure having a life.“

The World According To Garp (Garp und wie er die Welt sah) ~ USA 1982
Directed By: George Roy Hill

Für die eigenwillige Krankenschwester Jenny Fields (Glenn Close) ist ihr inniger Kinderwunsch absolut nicht mit dem Gedanken an eine Partnerschaft kompatibel. Also „benutzt“ sie kurzerhand einen bewusstlosen, im Sterben liegenden Air-Force-Piloten als Samenspender. Nach seinem Vater benannt, lebt T.S. Garp (Robin Williams) kein allzu langes, aber dafür von allerlei Glücksmomenten und Schicksalswogen umtostes Leben, das vom Anfang bis zum Ende stets unter dem übermächtigen Einfluss seiner gewissermaßen omnipräsenten Mutter steht.

„The World According To Garp“, der vierte Roman des neuenglischen Erfolgsautors John Irving, galt, wie so viele andere relevante literarische Marksteine des zwanzigsten Jahrhunderts, zunächst als unverfilmbar. Was zuvor jedoch bereits für Vonneguts „Slaughterhouse Five“ galt, erwies sich auch im Falle „Garp“ als recht und billig – George Roy Hill fand sich demzufolge mit der Regie auch der Adaption dieses ebenso lebensweisen wie teilgrotesken literarischen Mammutwerks anvertraut, der ersten von bis heute fünf Irving-Verfilmungen. Den Büchern des beliebten Romanciers und Essayisten gemein sind diverse, mittlerweile berühmte Leitmotive – New Hampshire als ewiger, vordringlicher Handlungsschauplatz; biographische Bestandaufnahmen seiner zumeist in komplexen Ehen und Familien beheimateten Figuren, Bären als stetes Symbol für Individualität und Kraft und natürlich die obligatorischen Abstecher in Irvings geliebtes Wien. All dies zeichnet auch im vorliegenden Fall die famose Vorlage aus – umso erstaunlicher, wann, wie und mit welchen Mitteln Hill und sein Scriptautor Steve Tesich dieses anrührende, schöne Kinowerk kreierten. Im Nachhall New Hollywoods ist „The World According To Garp“ dann doch eher ein typischer Film für die achtziger Jahre geworden. Er umfasst einen erzählten Zeitraum von etwa 38 Jahren und berichtet darin mit durchaus epischem Anspruch die ereignisreiche, bisweilen bizarre, im Grunde jedoch von Liebe und Zuwendung geprägte Biographie seines Ttelhelden, dessen Existenz sich stets im übergroßen Schatten seiner Mutter abspielt. Jenny Fields entwickelt sich im Laufe ihrer Tage zu einer emanzipierten Vorreiterin für alle Frauen, die unter den Repressalien einer erklärt patriarchalischen Gesellschaft zu leiden haben – bewundert, geliebt, belächelt und verabscheut, bleibt sie ihren nicht immer gänzlich nachvollziehbaren Maximen stets treu. Als Junge und später Mann mit all seinen überaus menschlichen Bedürfnissen, deren libidinöse und thanatische Ausprägungen nicht selten in kleine und große Katastrophen münden, entwickelt sich Garp zwar zu einem vollwertigen Individuum, das irgendwann eine eigene Familie gründet, die Prägung seiner Mutter jedoch wesentlich internalisiert hat. Nebenfiguren wie die transsexuelle Ex-Footballspielerin Roberta Muldoon (John Lithgow) oder die als Kind vergewaltigte, verstummte Ellen James (Amanda Plummer) werden, nachdem Jenny Fields sich ihrer stiefmütterlich angenommen hat, auch für Garp zu wesentlichen Leitcharakteren. Doch wie jeder soziale Mikro- und Makrokosmos leidet auch der der Fields-Dynastie unter Missinterpretation, fehlgeleiteter Radikalität und der daraus resultierenden Gewalt, die sowohl Jenny als später auch Garp das Leben kosten werden. Irvings Brillanz liegt, ebenso wie die des Films, der jenes Bestreben nahtlos akkumuliert, darin, das Schicksal als permanente Kausalitätskette zu begreifen, als ewigen Kreislauf von Ursache und Effekt, von Klammern und Rahmen (musikalisch verbildlicht durch den Beatles-Klassiker „When I’m Sixty-Four“). Dem Film gelingt es mittels scheinbar behender Leichtigkeit und Lakonie, die daraus resultierende, narrative Komplexität zu transponieren und seine mitunter schwer verdaulichen Wendungen nie zugunsten falsch verstandener Larmoyanz zu denunzieren.

9/10

A CIVIL ACTION

„The truth? I thought we were talking about a court of law.“

A Civil Action (Zivilprozess) ~ USA 1998
Directed By: Steven Zaillian

Der Rechtsanwalt Jan Schlichtmann (John Travolta) und seine drei Kompagnons Kevin Conway (Tony Shalhoub), James Gordon (William H. Macy) und Bill Crowley (Zeljko Ivanek) betreiben eine auf Schadensersatz spezialisierte Kanzlei in Boston. Von seinen zahlreichen Kritikern abschätzig „Krankenwagenjäger“ tituliert, vertrittt Schlichtmann seine Klienten pro bono und kassiert ausschließlich im Erfolgsfall, der in der wohlfeil kalkulierten Regel und in Form kostspieliger Vergleiche auch eintritt, zumal die Kanzlei vorrangig besonders öffentlichkeitswirksame Fälle übernimmt. Weniger interessant erscheint da eine Sammelklage von Eltern aus der Kleinstadt Woburn, die ihre Kinder allesamt durch Leukämie verloren haben. Dennoch reizt Schlichtmann der Fall und er nimmt das Mandat an; mittelbar beklagt wird eine ortsansässige Gerberei, die von zwei millionenschweren Großunternehmen mitfinanziert wird. Deren Betreiber John Riley (Dan Hedaya) soll über Jahre hinweg Giftmüll ins Erdreich abgeleitet haben, wodurch die örtliche Wasserversorgung kontaminiert wurde. Der durch rechtssichere wissenschaftliche Analysen entstehende finanzielle Aufwand treibt Schlichtmanns Kanzlei, die unter seiner immer idealistischer werdenden Regie diverse Vergleichsangebote der Gegenseite ablehnt, in den finanziellen Ruin.

Als hollywoodsches Courtroom-Qualitätskino erster Garnitur greift der doppeldeutig betitelte „A Civil Action“ einen authentischen Fall aus den Spätachtzigern auf. Die porträtierten Personen und Ereignisse entsprechen durchweg der Realität, sanfte dramaturgische Zugeständnisse inbegriffen. Zaillians Film geriert sich als das, was man als eine „sichere Nummer“ bezeichnen darf; ein Gerichtsdrama, das seinen kapitalismuskritischen „David gegen Goliath“-Habitus via formidabler Besetzung mit stolz geschwellter Brust ausstellt und weiterhin auf der Symathieskala punktet mit einem vormals öligen Justizschaumschläger als Protagonisten, der im Angesicht verzweifelter Kleinstädter seine Moral und Menschlichkeit entdeckt und jene neugewonnene Integrität um den Preis der eigenen materiellen Sicherheit bis zur letzten Konsequenz verteidigt. Travolta spielt diese Rolle in seiner Post-Comeback-Phase mit dem Glanz möglicher Academy-Weihen im Blick sehr viel zurückhaltender als üblicherweise in diesen Jahren, die den etwas aufgedunsenen Tänzer von einst zumeist in grell überspitzten Parts präsentierten. Das Resultat kann durchaus überzeugen, sieht sich in Anbetracht von Schauspieltitanen wie Robert Duvall jedoch gleichfalls unüberwindlichen Limitierungen gegenüber. Vor allem die Szenen, in den denen sich Travolta und sein Antagonist, ein heimlicher advocatus diaboli, der die Multis vertritt und nebenbei in Harvard lehrt, wie man als aufstrebender Rechtsbeistand Berufsethos gegen Erfolgsstreben aufwiegen sollte, machen dies deutlich. Duvall, exzellent wie eh und je, vollzieht scheinbar mit links, wofür Travolta sich sein ganzes Leben lang vorbereitet zu haben scheint – Film und Realität reziprozieren sich für einen kurzen Augenblick.
Zweifellos ist „A Civil Action“ vor allem ein Geschenk an seine bis in Kleinstrollen glamourös besetzte Darstellerriege. Starautor Steven Zaillian begnügt sich in seiner zweiter Regiearbeit indes mit der verhältnismäßig schnöden Zurückhaltung, die ein Sujet wie das vorliegende üblicherweise bedingt. Inszenatorisch passt das von sanfter Kameraarbeit (Conrad L. Hall) und melancholischer Farbgebung geprägte Werk dann auch eher in die frühen Achtziger, als die letzten Ausläufer New Hollywoods sich noch einmal gegen das sukzessive Wiederstarken des kommerziell orientierten Kinos aufzubäumen versuchten.

7/10

THE MAURITANIAN

„Either wear the Jersey or get off the field.“

The Mauritanian (Der Mauretanier) ~ UK/USA 2021
Directed By: Kevin Macdonald

Nach den 9/11-Anschlägen fordert der von Bush Jr. und Rumsfeld deklarierte Krieg gegen den Terror Angeklagte, Schuldige und notfalls auch Sündenböcke. Als einer der mutmaßlichen Drahtzieher der Katastrophe wird der Mauretanier Mohamedou Ould Slahi (Tahar Rahim) im November 2001 in seiner Heimat festgenommen und in das Militärgefängnis Guantánamo verschleppt. Etwas über drei Jahre später wird die Staranwältin und Menschenrechtsaktivistin Nancy Hollander (Jodie Foster) auf Slahis Fall aufmerksam und reist nach Kuba, um sich seines Zustandes zu versichern und Slahi anzubieten, ihn vor Gericht zu vertreten. Parallel dazu wird der eherne Marine Stuart Couch (Benedict Cumberbatch) mit Slahis formeller Anklage betraut und sieht seine Aufgabe zunächst voller Elan entgegen. Doch sowohl Hollander als auch Couch erhalten keine Einsicht in die offiziellen Verhörprotokolle Slahis, der zu diesem Zeitpunkt längst ein Geständnis bezüglich seiner Mitwirkung bei den Anschlägen unterschrieben hat. Verteidigerin und Ankläger stoßen gleichermaßen auf eine Mauer des Schweigens und der Geheimhaltung; Zensur, geschwärzte Berichte und fehlende Freigaben erschweren ihre Vorbereitung auf den Fall immens. Schließlich erfahrend beide den Grund: Slahis Geständnis wurde durch gezielte Folter und Bedrohung erzwungen, eine offizielle Begründung für seine Inhaftierung gab es nie. Im Frühjahr 2010 wird Slahi in erster Instanz freigesprochen, doh es dauert noch sechs weitere Jahre, bis er aus der Gefangenschaft entlassen wird.

Kevin Macdonalds sechster Spielfilm nach einer immerhin siebenjährigen Pause basiert auf Mohamedou Ould Slahis niedergeschriebenen Memoiren „Guantánamo Diary“, die sich mit seiner rund vierzehn Jahre währenden Gefangenschaft auf dem kubanischen Marine-Stützpunkt befassen. Möglicherweise ist „The Mauritanian“ Macdonalds beste, fesselndste Arbeit bislang, seine Dokumentationen nicht berücksichtigend. Gewiss – ein Stoff wie dieser ist a priori von gewaltiger Prestigeträchtigtkeit und bereits rein prinzipiell ein Gewinner und Publikumsliebling. Umso wichtiger jedoch ist es andererseits, Klischees und überborderndes Pathos zu umschiffen und ein fiktionalisierte Version der Ereignisse auch langfristig valide dastehen zu lassen. Genau das gelingt Macdonald jedoch; „The Mauritanian“ besitzt zum einen alle wichtigen Charakteristika eines guten Politthrillers und macht die Geschichte Slahis als Repräsentation für die in Guantánamo unter der Protegierung der US-Regierung, der CIA und des Militärs durchgeführten Praktiken umso ergreifender. Macdonald offenbart sich hier als legitimer Erbe großer Ahnherren wie Constantin Costa-Gavras, Alan J. Pakula oder Oliver Stone und deren entsprechenden Werken, die es allesamt zu ihrer Zeit vortrefflich verstanden, im Namen angeblich freiheitlich konnotierter Staatsräson ungeheuerliche Vorgänge in Form fesselnder Spielfilme aufleben zu lassen. Der dräuenden Frage danach, ob ein dramaturgisch aufbereiteter, kommerzorientierter und mit Stars aufbereiteter Abriss in jener medialen Form, der sich ferner stets von der unter Umständen tendenziösen Signatur seiner AutorInnen gebeugt wähnen muss, überhaupt einen sittlichen oder gar moralischen Wert bekleidet, muss sich ein jedes Kunstprodukt berechtigterweise immer wieder aufs Neue stellen. Andererseits darf der didaktische Impact all jener oftmals hervorragenden Filme nicht unterschätzt werden, sind sie doch stets dazu angetan, Geschichts- und Nachrichten- und Informationsmuffel wenngleich auf unterhaltsame Weise mit der Nase voran auf Sujets zu stoßen, die sie andernfalls möglicherweise nie erreicht hätten und sei es auch nur, um ein vages Interesse anzustoßen, das gegebenenfalls in weitere, intensive Beschäftigung mündet. „The Mauritanian“, der am Ende seinen authentischen Titelhelden zeigt, frohgemut, lachend, gelöst und bar allen doch so verständlichen Verdrusses, gehört genau in diese Phalanx. Wenn es sein Glaube ist, der diesen um etliche Jahre seines Lebens betrogenen Mann so ungebrochen zuversichtlich erscheinen lässt, dann, in schā‘ Allāh, kann nicht alles daran falsch sein. Und aufrichtige, pointierte Kritik an der fetten, alten Sau Amerika und ihren Tausenden von Ferkeln ist ja schon im Grundsatz eh immer zu begrüßen.

9/10

MOBSTERS

„This ain’t money, Tommy. This is friendship.“

Mobsters (Die wahren Bosse) ~ USA 1991
Directed By: Michael Karbelnikoff

New York in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts: Ihrer unterschiedlichen ethnischen Abstammung zum Trotz werden die vier Nachwuchsgangster Charlie Luciano (Christian Slater), Meyer Lansky (Patrick Dempsey), Benny Siegel (Richard Grieco) und Frank Costello (Costas Mandylor) eingeschworene Freunde und Partner. Protegiert von dem Alkoholschmuggler Arnold Rothstein (F. Murray Abraham) gelingt ihnen der Aufstieg zu ernstzunehmenden Konkurrenten der beiden alteingesessenen Mafiabosse Don Faranzano (Michael Gambon) und Don Masseria (Anthony Quinn), die sich zuvor stets bloß gegenseitig bekriegt haben und nun versuchen, Luciano jeweils für ihre Familie zu instrumentalisieren. Dass sie dabei jedoch alles andere als zimperlich vorgehen, wird den beiden Altpatriarchen bald zum blutigen Verhängnis.

Amerika und damit auch Hollywood lieben ihren historischen Gangster und mit ihm seinen ihn reichhaltig umspannenden Nimbus. Die entsprechende Figur bildet infolge dessen zugleich einen Archetypus des Films und avancierte seit dessen Anfängen zum steten Dauergast und damit elementarem Baustein des Kinos. Insbesondere die Ära der Prohibition und daran anschließend die der Großen Depression haben dabei die größten und dankbarsten Milieugrößen hervorgebracht, darunter die in „Mobsters“ ziemlich semiauthentisch porträtierten New Yorker Tommy-Gun-Legenden. Die erste von nur zwei Regiearbeiten von Michael Karbelnikoff bildet dabei einen eher halbherzigen Versuch der produzierenden Universal, sich ein Stückchen vom Kuchen der großen Doppel-Gangsterfilm-Saison 90/91 zu sichern. Allein 1991 wurden nebenbei gleich drei Filme produziert, in denen Benjamin „Bugsy“ Siegel eine mehr oder weniger elementare Rolle zukam, darunter der vorliegende.
Im Gegensatz zu den meisten überaus gelungenen und teilweise längst zu Klassikern avancierten Unterweltepen seiner Ära muss man „Mobsters“ allerdings bescheinigen, ziemlich krachend in die Binsen gegangen zu sein, wenn auch in nicht uninteressanter Weise. Das rund vierzehn Jahre (von 1917 bis 1931, dem Gründungsjahr der „Commission“, des Dachverbands der Cosa Nostra) währende, ebenso komplexe wie ereignisreiche golden age des Aufstiegs von Luciano, Costello, Lansky und Siegel quetscht der Film in ein hundertminütiges Erzählkorsett und kann damit freilich nur scheitern. Für die Interpretationen der vier tatsächlichen, mit Ausnahme vielleicht von Siegel physiognomisch tatsächlich allen Klischees entsprechenden Protagonisten, zog man ausgerechnet die bildhübschen Sonnyboys Slater, Dempsey, Grieco und Mandylor heran, damals alle Anfang bis Mitte 20 und gewiss bestens dazu angetan, als Brecher flatternder Mädchenherzen anzutreten, nicht aber unbedingt als verschlagene Könige dercorganisierten Kriminalität. Damit nicht genug, vergaloppiert sich der Film permanent in seinem unbeholfenen Bemühen, sich strukturell konsumierbar zu machen. Wichtige Momente finden sich als hilfloser Kurzabriss, redundanten Liebessequenzen wird im Gegenzug mindestens soviel Platz eingeräumt wie unabdingbaren Actionszenen. Im Grunde wirkt „Mobsters“ trotz keinesfalls weniger schöner Momente meist rein fragmentarisch, ein wenig, wie ein Trailer für einen wesentlich ausufernderen Film, den es am Ende nie gab, da das vorliegende Material nie zum einem konzisen Ganzen finden mag. Dennoch lässt sich sein so häufig im Verborgenen verharrendes Potenzial immer wieder erahnen, so etwa in Aspekten des sorgfältigen Produktionsdesigns und der fraglos vorhandenen Ambition, Zeitkolorit spürbar werden zu lassen. Selbst die Chemie zwischen den ihre Rollen sichtlich ernst nehmenden Slater und Dempsey stimmt soweit. Die erfahrenen Recken Abraham, Gambon und vor allem Quinn (der mit dem echten Frank Costello gut befreundet war) machen sich im Gegenzug jedoch einen Spaß daraus, ihre teils vor einfältigen Klischees nur so strotzenden Dialogzeilen durch vorsätzliches overacting noch mehr hochzujizzen, was dann wiederum alle Versuche in Richtung Ernsthaftigkeit gehörigst unterminiert.
Trotz alldem nehme ich „Mobsters“ nicht als Ärgernis war, sondern als durchaus spaßigen, wohlmeinenden, obschon rasant vor die Wand gesteuerten Versuch, dem arrivierten Genrefilm durch gezielte Modernisierung in Form und Dramaturgie etwas Juvenilität hinzuzusetzen. Dass die Kids dann allerdings eher zu Flottem wie „New Jack City“ oder „Bound By Honor“ tendierten, überrascht allerdings kaum.

6/10