ARMAGEDDON TIME

„I want you to be better than me.“

Armageddon Time (Zeiten des Umbruchs) ~ USA/BRA 2022
Directed By: James Gray

Queens, New York im Herbst 1980. Der Teenager Paul Graff (Banks Repeta) ist ein Träumer, ganz zum Unwohlsein seiner Familie, die den mit Vorliebe Superhelden zeichnenden Jungen als „etwas langsam“ etikettiert. Einzig Pauls Großvater Aaron (Anthony Hopkins), der noch höchstselbst den sich sukzessiv steigernden Antisemitismus in der Alten Welt miterlebt hat, gelingt es, zu dem eigensinnigen Paul durchzudringen und ihm die eine oder andere Lebensweisheit mit auf den Weg zu geben. Die Zeiten sind demzufolge nicht einfach für Paul. Die Freundschaft zu seinem noch wesentlich ausgegrenzteren, afroamerikanischen Klassenkameraden Johnny (Jaylin Webb), der dem ihm unentwegt entgegenbrandenden Rassismus mit offener Rebellion begegnet, sorgt für mancherlei Ärger und führt schließlich dazu, dass Paul dieselbe elitäre Privatschule besuchen muss wie sein Bruder Ted (Ryan Sell), eine Brutstätte für weiße Oberklassenrepublikaner, die den just zum 40. US-Präsidenten gewählten Ronald Reagan als neuen Heilsbringer erachten. Dennoch bricht Pauls Freundschaft zu Johnny nicht wirklich ab; der verzweifelte Versuch, aus ihrer beider Trostlosigkeit auszubrechen, scheitert jedoch.

James Grays Filme sind, beginnend mit seinem 1994er Debüt „Little Odessa“, allesamt wunderbar und folgen einem ungebrochen gepflegten Autorenethos, der seiner zumindest in thematischer Hinsicht durchaus heterogenen Arbeit noch keinen Qualitätseinbruch beschert hat. Auch in seiner achten Langfilmregie kultiviert Gray, New-York-Chronist und ausgewiesener Melancholiker, aufs Neue seinen für ihn längst typischen, oftmals schwermütig anmutenden Hang zur Langsamkeit, die ihre Dramatik aus unspektakulär anmutenden Alltagsgeschehnissen bezieht. Jene halten für einen Jungen an der Schwelle zur Pubertät eine Vielzahl biographischer Zäsuren bereit. Gray bemüht dazu vor herbstlichen Sepiabildern diverse autobiographische Details und Anekdoten, die „Armageddon Time“ zu einem seiner bislang persönlichsten Filme machen. Viel passiert in diesem New Yorker November 1980: Paul registriert zunächst hilflos, dass er seinen Eltern (Anne Hathaway, Jeremy Strong) de facto mehr Kummer als Stolz bereitet – sein Freund Johnny bringt ihn parallel dazu pausenlos auf dumme Gedanken. Renitentes Verhalten gegenüber dem überforderten Klassenlehrer (Andrew Polk), eine Tour auf eigene Faust durch Manhattan, schließlich ein Joint auf dem Schulklo. Genug, um den Vater zur Verabreichung einer gehörigen Tracht Prügel zu veranlassen, den Besuch der öffentlichen Bildungsanstalt dringlichst abzuwürgen und Paul stattdessen auf die „Forest Manor“ zu schicken, eine von Fred C. Trump (John Diehl) beschirmherrte Privatschule mit entsprechender Klientel. Sowohl Trump (Donalds Vater) als auch seine Tochter Maryanne (Jessica Chastain) lassen es sich nicht nehmen, die Schülerschaft allenthalben durch ideologisch verbrämte Ansprachen „auf Kurs“ zu bringen, analog zu Reagans sich abzeichnendem Wahlsieg. Ethnische Minderheiten gelten an der Forest Manor wenig bis nichts; Paul fühlt sich unwohl, verspürt zugleich aber dennoch die Notwendigkeit, dazu gehören zu müssen. Als sein geliebter Großvater Aaron an Konchenkrebs stirbt, erschüttert dies die gesamte Familie derart bis in die Grundfesten, als sei ihr Rückgrat gebrochen. Doch aus der geplanten Flucht nach vorn, einem Ausriss mit Johnny Richtung Florida, wird nichts. Paul verliert den Freund und muss sich den Unebenheiten und Ungerechtigkeiten des Erwachsenwerdends fügen.
Seinen Titel verdankt „Armageddon Time“ zweierlei: zum einen dem inflationären Gebrauch des Terminus durch Reagan, der seinerzeit mit den dräuenden Ängsten vorm atomaren Weltende jonglierte wie ein Schimpanse mit Bananen, zum anderen der B-Seite der Clash-Single „London Calling“, einer wunderbar dub-infizierten Coverversion des Willie-Williams-Songs „Armagideon Time“. Entsprechend leitmotivisch verfolgt der Track Paul und den Film vom Anfang bis zum Ende.

8/10

BLUE SKY

„You’re not Brigitte Bardot, remember?“

Blue Sky (Operation Blue Sky) ~ USA 1994
Directed By: Tony Richardson

Hawaii, 1962. Weil das exaltierte Verhalten der Offiziersgattin Carly Marshall (Jessica Lange) der hiesigen Kommandatur ein Dorn im Auge ist, wird Major Hank Marshall (Tommy Lee Jones) mitsamt Carly und ihren beiden Teenagertöchtern Alex (Amy Locane) und Becky (Anna Klemp) nach Alabama versetzt. Vor Ort erweist sich Carlys Gebahren als weiterhin nachgerade ungezähmt; sie identifiziert sich mit glamourösen Filmdiven, hat psychotische Episoden und sorgt für einen Minieklat nach dem anderen. Hank plagen derweil noch ganz andere Sorgen: als Experte für Fragen der Nukleartechnik wird er kurzfristig nach Nevada beordert, um dort den ersten „Blue Sky“-Test zu überwachen, ein Verfahren, bei dem die Atombombe unterirdisch gezündet wird. Als Hank vom Helikopter aus in unmittelbarer Nähe des Testgeländes zwei Cowboys (Timothy Scott, Timothy Bottoms) ausmacht, wird er über den Vorfall zu strengster Geheimhaltung verpflichtet. Um ihn auch tatsächlich mundtot zu machen, entspinnt sein Vorgesetzter Colonel Johnson (Powers Boothe) eine perfide Intrige gegen ihn, die dazu führt, dass Hank stark sediert in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik landet. Nun ist es an Carly, die an Hanks Schassung eine große Mitschuld trägt, ihrem Gatten beizustehen…

Der letzte Film des aus der neorealistischen, britischen Kitchen-Sink-Strömung hervorgegangenen Tony Richardson lag nach seiner Fertigstellung im Herbst 1991 drei Jahre auf Eis, bevor er dann doch noch in die Kinos kam. „Blue Sky“ war Teil der Konkursmasse der zwischenzeitlich pleite gegangen Produktionsgesellschaft Orion Pictures und insofern ein Opfer ungeklärter Rechtslage. Basierend auf dem einzigen, autobiographisch gefärbten Filmdrehbuch der Scriptautorin Rama Laurie Stagner entwirft der Film ein gleichermaßen klassisch geprägtes wie behende mit naheliegenden Klischees spielendes Militärdrama vor dem historischen Hintergrund der Hochphase des Kalten Krieges. Stagner schielt dabei auch zu großen Vorbilden, von „From Here To Eternity“ bis hin zu diversen Williams-Dramen. Primär bildet die Geschichte dabei das Porträt einer sich allen Konventionen entgegenstellenden Frau, deren Changieren zwischen hysterischer Trübnis und Promiskuität vermutlich das Resultat einer frühgeprägten, bipolaren Störung ist: Über Carlys Kindheit und Jugend in Virginia erfährt man nicht viel Eindeutiges, außer, dass sie der Zustand des „Unerwünschtseins“ offenbar schon seit eh und je verfolgt. Sie versucht, ihr Unglück durch kleine Skandälchen zu kompensieren; zeigt sich einer Hubschrauberstaffel am Strand oben ohne und becirct sämtliche Offizierspatentträger, die ihr zu nahe kommen. Ihr streng logisch agierender Mann Hank trägt all das mit stoischer Gelassenheit und Fassung, bis irgendwann doch die eine, natürlich im Zuge eines Ränkespiels wohlweislich herbeigeführte Eskapade das Fass zum Überlaufen bringt. Hier hat Carly dann die Möglichkeit, sich großflächig zu rehabilitieren, indem sie dem zwischenzeitlich kaltgestellten Hank aus der Patsche hilft und ihre wilde Entschlossenheit ausnahmsweise in moralisch unzweifelhafte Fahrwässer lenkt.
Inwieweit Richardson, der nur kurze Zeit nach der Komplettierung des Films verstarb, am final cut beteiligt war, respektive die vorliegende Fassung seiner künstlerischen Vision entspricht, lässt sich auf die Schnelle nicht eruieren. Tatsache ist, dass „Blue Sky“ vor allem im letzten Drittel oftmals überhastet wirkt und übereilig montierte Szenen auf Kosten seiner erzählerischen Fluidität gehen, gerade so, als habe man eine festgezurrte Spielzeit unbedingt einhalten wollen. Der demzufolge teils fast schon elliptisch wirkenden Narration steht eine gelegentlich unbehende wirkende Dramaturgie gegenüber, etwa, wenn Johnsons ja doch recht komplexe Intrige binnen weniger Filmmomente bricht und auf ihn selbst zurückrollt oder wenn das übereilt, in Anbetracht des traumatischen Potenzials der zuvor entrollten Geschehnisse, fast schon ein wenig surreal wirkende happy end den Film nach knapp 100 Minuten schließt. Dennoch: die schauspielerische Brillanz der Beteiligten, allen voran natürlich Jessica Lange, für die ihre dann auch mit dem Oscar prämierte Rolle geradezu maßgeschneidert wirkt, machen aus „Blue Sky“ den interessanten, um nicht zu sagen: sehenswerten Schwanengesang eines großen, wichtigen Filmemachers des zwanzigsten Jahrhunderts.

7/10

THE FLORIDA PROJECT

„I can always tell when adults are about to cry.“

The Florida Project ~ USA 2017
Directed By: Sean Baker

Der Sommer hält Einzug in Kissimmee, Florida, was bedeutet, dass jetzt noch mehr Touristenströme in den hiesigen Disney-World-Park pilgern. Für die sechsjährige Moonee (Brooklynn Kimberly Prince), die mit ihrer Mom Halley (Bria Vinaite) im angrenzenden „Magic-Castle“-Motel wohnt, ändert sich dadurch allerdings wenig. Moonees Alltag und der ihrer Freunde Scooty (Christopher Rivera) und Dicky (Aiden Malik) bewegt sich weiter in den gewohnten Bahnen, die daraus bestehen, lustige Abenteuer zu erleben, kleine und große Streiche zu spielen und ihren semierwachsenen Bezugspersonen, die unterhalb des Existenziminimums vegetieren, die Liebe zu erhalten.

Sean Bakers erschütterndes Kindersoziogramm inmitten einer jedweder Vorhersehbarkeit entsagenden Mutter-/Tochter-Geschichte bewegt gerade deshalb zutiefst, weil es von wenigen, notwendigen Ausnahmen abgesehen, seine dediziert infantile Perspektive wahrt und sich der eigentlich naheliegenden, bleiernen Tragik einer allzu analytischen Vivisektion der dazugehörigen Prekariatsexistenz strikt verweigert. Für Moonees noch kurze Jahre ist das Leben nicht schlecht. Die warme Sonne Floridas scheint, sie kann die meiste Zeit des Tages tun und lassen wozu sie Lust hat und die pastellgetünchten Wände des Magic Castle und der anderen umliegenden Motels fassen die bonbonfarbene Scheinrealität in ein äußerlich wohlig anmutendes Alternativamerika. Dass Moonees Mama, im Prinzip selbst noch ein Kind, ihr somit sehr viel mehr große Schwester als Mutter ist und nichts gelernt hat mit der Ausnahme, sich irgendwie durch die nächsten zwölf bis vierundzwanzig Stunden zu lavieren – geschenkt. Es gibt immerhin ständig Fast Food oder Eiscreme, irgendwie erschnorrt, erbettelt, durch Kleinkriminalität oder Prostitution finanziert. Die naheliegenden Sümpfe oder die Zeitzeugen des letzten Börsencrashs in Form leerstehender Immobilien ergeben großartige Abenteuerspielplätze, die die Imagination in wesentlich komplexerer Form anheizen als die benachbarten und doch unerreichbaren Fahrgeschäfte und Touriattraktionen aus Blech und Plastik. Und die müßig scheinenden Sorgen der Erwachsenenwelt? Die werden immerhin semipermeabel abgeschirmt; unter anderem vom Motelmanager Bobby (Willem Dafoe), eigentlich sehr viel mehr Sozialarbeiter als Hausmeister. Irgendwann sind dann jedoch auch Bobbys Ressourcen erschöpft, der Traum von Mutter und Tochter gegen den Rest der Welt ist ausgeträumt und die Flucht nach vorn, nämlich die vor den bösen MitarbeiterInnen vom Jugendamt, wird eine kurze werden. Warum zuvor so viel Merkwürdiges passiert ist; warum etwa Halley anderen gegenüber so oft zwischen Bettelei und Wut changiert, warum Moonee manchmal mit lauter Musik im Kopfhörer in der Wanne sitzen muss, warum Bobby einen komischen, älteren Kauz (Giovanni Rodriguez) vom Motelgelände verjagt, oder warum ihre Mom sich so gnadenlos mit deren bester Freundin Ashley (Mela Murder) verkracht und sie danach nicht mehr mit Ashleys Sohn Scooty spielen darf – das alles wird Moonee vielleicht erst Jahre später verstehen. Bis dahin bleibt ihr die Gnade der vergänglichen Wahrnehmung der frühen Kindheit.

10/10

SAMARITAN

„Things start to fall apart when you stop caring, and I stopped caring a long time ago.“

Samaritan ~ USA 2022
Directed By: Julius Avery

Granite City: Vor vielen Jahren verschwanden die beiden sich bekämpfenden Superwesen Samaritan und Nemesis, zwei für das Gute respektive das Böse einstehende Zwillingsbrüder, nach einer gewaltigen Kraftwerksexplosion. In der Gegenwart wird der dreizehnjährige Sam (Javon ‚Wanna‘ Walton) auf seinen betagten Nachbarn, den als Müllmann arbeitenden Joe Smith (Sylvester Stallone), aufmerksam. Eines Tages knöpft sich dieser ein paar Schläger vor, die es auf Sam abgesehen haben und prügelt sie windelweich. Für den Jungen steht fest: Joe muss der verschollene Samaritan sein. Während der Gangsterboss Cyrus (Pilou Asbæk), ein glühender Verehrer von Nemesis, versucht, Sam unter seine Fittiche zu nehmen, bemüht sich dieser, dem grummeligen Joe die Wahrheit über seine Identität zu entlocken. Als Cyrus sich schließlich anschickt, Granite City in Chaos und Anarchie zu ersäufen, tritt Joe aus den Schatten…

Samaritan und Nemesis, das sind nicht zuletzt auch zwei längst existente, jedoch völlig voneinander unabhängig kreierte Comic-Schöpfungen. Ersterer bildet das „Superman“-Pendant in Kurt Busieks glücklicherweise nicht tot zu kriegender, wunderhübscher Image-Superheldenparaphrase „Astro City“; den Namen Nemesis trugen indes seit Jahrzehnten bereits viele Figuren. Die zum vorliegenden Film passendste Maßgabe wäre wohl ein komplett weißgewandeter Anarcho-Superschurke, den Mark Millar vier Ausgaben lang in einer 2010er-Miniserie für das Marvel-Imprint-Label Icon wüten (und sterben) ließ.
Da beide Bezeichnungen hinlänglich gebräuchliche Termini bilden, musste hier wohl kein Rechtsstreit vermutet werden, denn die Film-Samaritan und -Nemesis haben mit ihren graphischen Namensvettern bestenfalls ganz wenig zu tun.
Als VoD bei Amazon gestartet, hängt sich „Samaritan“ eher an die Gattung der kleinen, vorlagenfreien Bypass-Superhelden-Filme, die seit dem großen Marvel-Launch immer wieder kurz aufblitzen. Gedacht dürfte das Ganze primär gewiss als ein weiteres Vorzeigealterswerk für seinen Hauptdarsteller sein, der seine vielfach erprobte und nachgewiesene Schlagfertigkeit jetzt durch Superkräfte ergänzt und sich in diesem Zuge gleich noch viele kleine Reminszenzen an die eigene Ikonographie und vor allem das eigene Œuvre gestattet. Sein Titelcharakter, der urban anonymous Joe Smith, der berufs- und hobbymäßig Mülltonnen leert und, gewissermaßen als Traumabewältigung, gern weggeworfene, kleine elektronische und mechanische Dinge repariert, könnte freilich ein enger Verwandter von Rocky Balboa sein; Habitus und Gestus jedenfalls ähneln sich auffallend. Geht es in Aktion, lugen derweil eher die Großreinemacher vergangener Tage hervor, was im Finale sogar in einer hübschen Hommage an „Cobra“ gipfelt. Dazwischen müht sich „Samaritan“ redlich (obschon nicht immer wirklich erfolgreich), althergebrachte, überkommene Schwarzweiß-Schemata zu relativieren und dieser Botschaft mit der jungen Hauptfigur des Sam Cleary (von Javon Walton glücklicherweise glänzend dargeboten) gleich noch einen didaktischen Überbau zu verleihen. Im Grunde passt auch dieses Bestreben sich recht genuin Stallones ewiger Eigenkultivierung an.
In der Summe ergibt all das einen erwartungsgemäß wenig innovativen, dafür aber umso liebenswerteren Spätbeitrag zum stolzen Schaffen seines Stars, einem, der das Strahlen par tout nicht verlernen mag.

7/10

THE BLACK PHONE

„I almost let you go.“

The Black Phone ~ USA 2021
Directed By: Scott Derrickson

North Denver, Colorado, 1978. Der Jugendliche Finney Shaw (Mason Thames) leidet unter den Attacken diverser Bullys an seiner Schule. Zudem kanalisieren sich die Depressionen seines alleinerziehenden Vaters (Jeremy Davies) in Form von Gewaltausbrüchen, die er und seine jüngere Schwester Gwen (Madeleine McGraw) zu erdulden haben. Mit dem wehrhaften Robin (Miguel Cazarez Mora) gewinnt Finney immerhin einen schlagkräftigen Freund, doch auch dieser Lichtblick schwindet bald wieder – Robin wird Opfer des „Grabber“ (Ethan Hawke), eines als Zauberer verkleideten Kidnappers, der in der Gegend Jungen im Teenager-Alter verschleppt und spurlos verschwinden lässt. Eines Tages gerät auch Finney in die Fänge des Verbrechers und erfährt nach und nach die schreckliche Wahrheit über den ihm ausschließlich maskiert gegenübertretenden Psychopathen, der vor Finney bereits fünf Kids in seinem Keller gefangen gehalten und ermordet hat. Über ein in jenem Verlies befindliches, anschlussloses Telefon erhält Finney bald darauf Anrufe seiner „Vorgänger“, die ihm aus einer Art Zwischendimension heraus dabei helfen wollen, dem Grabber zu entkommen…

Mit „The Black Phone“, einer weiteren Blumhouse-Produktion, wildert nun auch Scott Derrickson im offenbar noch lange nicht versiegten Reservoir der immer zahlloser werdenden Retro-Genre-Produktionen, die sich so überaus darin gefallen, die siebziger und achtziger Jahre als periodische Kulisse für ihre mehr oder minder innovativen Storys zu nutzen. Dieses Vorgehen gelingt analog dazu, zumal in Anbetracht seines inflationären Einsatzes, in wechselnd ansprechender Form, wobei das reanimierte Zeitkolorit zusehends selten wirklich zweckmäßig erscheint. Immerhin liefert selbiges einen beständigen Vorwand, ein paar knackige Rocksongs der Ära auf die Tonspur zu zaubern.
Derrickson, der in Bezug auf die Qualität seiner Filme ein bis dato relativ heterogenes Werk aufweist und binnen relativ kurzer Zeit sowohl Ordentliches („Sinister“) als auch harsch Enttäuschendes („Deliver Us From Evil“) vorlegte, begibt sich mit „The Black Phone“ schnurstracks in den mediokren Sektor jener Welle. Zwischen altbekannten Versatzstücken, vom Telefon als Kommunikationsmittel ins Jenseits über den Kidnappingplot und die übersinnlich begabte Schwester bis hin zum identitätsgestörten Serienmörder, der sein gewalttätiges alter ego vornehmlich über das Tragen einer Maske definiert, befleißigt sich Derrickson recht hausbackener Elemente, um sein jüngstes Gattungsstück an Frau und Mann zu bringen. Zwar gelingt es ihm vereinzelt, durchaus schöne Momente zu schaffen (so verändert sich der spirituelle Zustand der vormaligen Opfer-Geister jeweils rückwirkend zur zeitlichen Distanz ihres Todestags) und sein Publikum trotz des eher kurzfilmtauglichen Narrativs behende am Ball zu halten, das stets zuverlässige Auffangnetz der Konventionalität verlässt er de facto jedoch zu keiner Sekunde.
So bleibt „The Black Phone“ mit dem Abstand von ein paar Tagen als passabler, wenngleich wenig aufregender Mosaikstein seiner Alltagsprovenienz im Gedächtnis, der als modernisierte „Hänsel-&-Gretel“-Variation mit seinen rar gesäten Ausreißern nach oben kaum wirklich protzen kann.

6/10

MAIS NE NOUS DÉLIVREZ PAS DU MAL

Zitat entfällt.

Mais Ne Nous Délivrez Pas Du Mal (Und erlöse uns nicht von dem Bösen) ~ F 1971
Directed By: Joël Séria

Die beiden besten Teenager-Freundinnen Anne (Jeanne Goupil) und Lore (Catherine Wagener) haben längst den festen Entschluss gefasst, samt und sonders alles, das sowohl ihre streng katholische Erziehung in einem Nonneninternat als auch ihre bourgeoisen Elternhäuser für unverzichtbare moralische Wegweiser auf dem Pfad zum Erwachsenwerden halten, abgrundtief zu verachten und rundheraus ins Gegenteil zu verkehren. Vor allem die beziehungsdominante Anne heckt einen boshaften Streich nach dem anderen aus, wobei sich deren Tragweite und Folgenreichtum immer weiter verschärfen, bis es während der Sommerferien, die Anne mit Ausnahme des Gesindes allein auf dem elterlichen Château verbringt, zur Katastrophe kommt. Doch selbst damit sind die Mädchen noch nicht am Gipfel angelangt…

Joël Sérias kleiner, unabhängig produzierter Film, der sich, wie Jahre später Peter Jacksons „Heavenly Creatures“, zumindest in Grundzügen an dem berühmten neuseeländischen Parker-Hume-Mordfall von 1954 orientiert, entwickelte sich im zeitgenössischen Frankreich zu einem mittelschweren Scandalon. Dem noch in den Nachwehen der Studentenunruhen liegenden Land kam jene Geschichte, in der zwei Mädchen im mittleren Teenageralter in einer Mischung aus existenzieller Orientierungslosigkeit und postinfantiler Anarchie völlig amoralische Verhaltensweisen entwickeln, dem Katechismus abschwören, sich Satan zuwenden und zunehmend boshaftere Aktionen bis hin zum öffentlichkeitswirksamen Doppelsuizid vollziehen, alles andere als zupass. Umso umwegsamer die Veröffentlichungsgeschichte dieses erst relativ spät wiederentdeckten, filmischen Beelzebubs, der als im Prinzip todtraurige Coming-of-Age-Story natürlich sehr viel einfühlsamer und poetischer daherkommt, als alle hochherrschaftlichen Verschwörer es dereinst glauben machen wollten. „Mais Ne Nous Délivrez Pas Du Mal“ setzt zwar ganz auf die Ich-Erzählperspektive der zutiefst verstörten Anne, eignet sich jedoch zu keiner Sekunde ihre persönliche Agenda an. Vielmehr ergeht sich Séria, der mit der Hauptdarstellerin Jeanne Goupil seine zukünftige Ehefrau kennenlernte, in einem weitestgehend unkommentierten Abriss eines fatalen Sommers, in dem die fehlgeleitete Anne sich selbst überlassen ist und dabei endgültig zur Missetäterin wird. Sie und die ihr auf dem Fuße folgende Lore bestimmen Rimbaud und Lautréamont, innerhalb ihres sozialen Mikrokosmos zutiefst verpönte Literaten, zu ihren maßstäblichen Ethiklieferanten; nutzen ihre sexuelle Wirkung ungerührt auf deutliche ältere, zumeist weit im kognitiven Abseits stehende Männer und „rächen“ sich für deren unbeholfene Reaktion mittels bösartiger bis grausamer Gegenwehr. Als sie schließlich, wiederum infolge gezielt ausgespielter Provokation, doch noch an „den Richtigen“ geraten, einen zunächst arglosen, mit seinem Wagen auf der Straße liegengebliebenen Familienvater (Bernard Dhéran), entgeht Lore nur dadurch einer Vergewaltigung, dass Anne den Wüstling erschlägt. Damit ist zugleich das Schicksal der Mädchen besiegelt, die den Totschlag zwar notdürftig verschleiern können, jedoch bald kurz vor der Entdeckung stehen, was gleichermaßen ihre Trennung wie die Übergabe in staatliche Autorität bedeutete. Also dient ihre letzte große Inszenierung auf offener Bühne unter Baudelaire-Zitaten der buchstäblichen rituellen Selbstverbrennung – eine Protesthandlung, ganz nach dem ikonischen Vorbild des buddhistischen Mönchs Thích Quảng Đức. Dass es auch hier erstmal einige lange Sekunden dauert, bis die begeistert applaudierende Elterngeneration begreift, was sich da tatsächlich vor ihren Augen abspielt, validiert Sérias finalen, galligen Kommentar.
Ein kleines, bitteres und recht unbequemes Meisterwerk, das in geschriebener Form vermutlich längst Einzug in jeden Schullektüre-Kanon gehalten hätte.

9/10

PREY

„I’m smarter than a beaver.“

Prey ~ USA 2022
Directed By: Dan Trachtenberg

Die Great Plains, 1719. Das Komantschenmädchen Naru (Amber Midthunder) ist mir ihrem determinierten Sozialstatus als Heilerin alles andere als glücklich. Vielmehr will sie sich als geschickte Jägerin beweisen, ganz wie ihr Bruder Taabe (Dakota Beavers), dessen Freunde bloß Spott für Narus Ambitionen hegen. Schon bald bekommt Naru jedoch hinreichend Gelegenheit, ihr Können zu demonstrieren – sie muss sich gegen einen Predator (Dane DiLiegro) zur Wehr setzen, der das gesamte Territorium zu seinem Jagdrevier macht und nicht nur Narus Stammesbrüder dezimiert, sondern auch eine Gruppe von Voyageurs, die sich in der Gegend aufhalten. Schließlich ist es ausschließlich an Naru, dem ruppigen Alien Einhalt zu gebieten.

Die Vorschusslorbeeren für diesen, exklusiv bei Hulu bzw. Disney+ gestarteten, jüngsten Beitrag zum „Predator“-Franchise waren ja doch recht beträchtlich – so hieß es etwa, Trachtenbergs Film könne es durch die Darbietungen seiner Eins-Zu-Eins-Duellsituation sowie seines Wald-/Wiesen-Settings sogar mit John McTiernans mittlerweile 35 Jahre altem Original aufnehmen. Nun sind derlei Lobpreisungen rund um den Premierentermin keine Seltenheit und relativieren sich in der Regel recht bald. Auch „Prey“ wird es dereinst so gehen, denn natürlich hält er erwartungsgemäß keinem Vergleich mit „Predator“ Stand. Gewiss mag man den Einfall, einen historischen Überbau für das storytelling zu wählen, grundsätzlich schätzen, zumal die zuletzt zum grenzalbernen Spektakel aufgeblähte Reihe diesbezüglich bereits arg ins Schleudern zu geraten drohte. Dennoch nimmt sich „Prey“ schon infolge seiner Protagonistin eher wie ein mit sanften Gänsehaut-Avancen liebäugelnder Abenteuerfilm für ein dezidiert jugendliches Publikum aus, der die einst von McTiernan so vortrefflich sezierten Genrewurzeln gezielt konterkariert und stattdessen so gänzlich wie ironiebefreit auf Gegenwartsbezüge setzt. J. F. Cooper mit Außerirdischem, gewissermaßen. Längst umweht den Predator, eine popkulturell ja komplett etablierte Gestalt, schon nicht mehr der Hauch des Monströsen oder gar Geheimnisvollen; seine Ziele sowie seine technologischen Fertigkeiten sind hinlänglich bekannt und lediglich ein paar neue Gadgets unterscheiden den hier auftretenden Extraterrestrier von seinen Vorgängern. Umso weniger bedrohlich wirkt seine Präsenz. Ansonsten kreist das Narrativ des Films um Zivilisationskritik (die Franzosen, ohnehin eine durchweg garstige Meute, schlachten eine Büffelherde ab und charakterisieren sich dadurch als noch weitaus schlimmer und barbarischer denn der Predator), Coming of Age und Genderdiskurse, die es, so versichert uns „Prey“, auch schon bei den American Natives vor 300 Jahren gab und die dort ähnlich schwer zu lösen waren wie heute, ohne sich dabei allerdings um sonderliches Geschick zu bemühen. Zudem verkneift sich das Script Redundantes ebensowenig wie Unpassendes. Ich bin sonst kaum interessiert an der (realististischen) Qualität von CGIs, aber die hier vorliegenden kamen selbst mir recht unorganisch vor und ließen mich einmal mehr wehmütig an den (zudem erst jüngst nochmal geschauten) Urfilm denken und mit welch rundum perfektionierter Finesse dieser, zumal im direkten Vergleich, doch gestaltet ist.

6/10

ONDSKAN

Zitat entfällt.

Ondskan (Evil) ~ S/DK 2003
Directed By: Mikael Håfström

Stockholm in den späten Fünfzigern. Der intelligente Teenager Erik Ponti (Andreas Wilson) fällt immer wieder durch brutale Schlägereien und andere kriminelle Aktionen auf, allesamt wohl umwegige Reaktionen auf die körperlichen Misshandlungen durch seinen gewalttätigen Stiefvater (Johan Rabaeus). Als er schließlich polternd der Schule verwiesen wird, sieht Eriks Mutter (Marie Richardson) die letzte Chance für ihren Filius, einen Abschluss zu bekommen, in einem Internatsplatz. Nachdem sie diverses Mobiliar veräußert hat, meldet sie Erik an der Eliteschule Stjärnsberg an. Dort herrscht eine traditionsreiche Hackordnung, die darin besteht, dass die Primaner die jüngeren Schüler mittels allerlei selbstherrlicher Regeln herumkommandieren, drangsalieren und erniedrigen. Erik verweigert jedoch jedweden Gehorsam und macht sich so zum obersten Hassobjekt des Schülersprechers Silverhielm (Gustaf Skarsgård) und seines Adlatus Dahlen (Jesper Salén). Deren Unterdrückungsversuche, die bald dazu dienen sollen, ihn aus der Reserve zu locken und ihn somit fliegen zu lassen, prallen samt und sonders an Erik ab, insbesondere, nachdem dieser die Schulmeisterschaft im Schwimmen gewinnt. So entwickelt man diverse alternative Strategien, darunter die, Eriks sanften Zimmergenossen Pierre (Henrik Lundström) zu tyrannisieren…

Der bereits 1981 erstveröffentlichte, autobiographische Roman „Ondskan“ des schwedischen Journalisten und Erfolgsautors Jan Guillou zählt zu den meistgelesenen muttersprachlichen Büchern im Land und erhielt auch Einzug in den deutschen Schulliteraturkanon. Bis zur weitestgehend kongenialen Filmadaption dauerte es dennoch einige Jahre, wobei die Wartezeit sich als lohnend erwies: Mikael Håfströms „Ondskan“ präsentiert sich als vielschichtiges Coming-of-Age-Drama, dessen diskursive Essenz sich vor allem auf den Topos „Selbstbehauptung innerhalb eines restriktiv-repressiven Systems“ kapriziert. Erik Ponti, „der Neue“, oder „die Ratte“, wie er von den Primanern um den sadistischen Silverhielm bald höhnisch gerufen wird, steckt nämlich in einem schweren Identitätsdilemma. Als durchaus selbst gewaltaffiner, erfahrener Schläger, dem es ein leichtes wäre, auch den älteren Fatzkes von Stjärnsberg unvergessliche Lektionen zu erteilen, darf er um keinen Preis zurückschlagen, denn das würde ihn den kostspieligen Schulplatz sowie den Abschluss kosten und seiner Mutter das Herz brechen. Es bedarf also anderer Mittel und Wege, um sich durchzusetzen, ohne zum Ausgestoßenen zu werden. Eriks nun folgender Weg gestaltet sich entsprechend mühsam und entbehrungsreich. Die Strafexerzizien von Silverhielm und seinem Gefolge werden zunehmend exzessiv und perfid, analog zu Eriks gleichbleibend stoischer Renitenz ihnen gegenüber. Der Lehrkörper indes schaut, obschon es durchaus liberal und fair denkende Didaktiker darunter gibt, gezielt weg und vertraut ganz auf das pädagogische Prinzip der „Selbsterziehung“ unter den Eleven – schließlich „funktioniert“ selbiges schon seit Jahrzehnten.
Allerdings ergibt sich aus Eriks stetig weiter kultiviertem Heldenstatus (und damit auch Guillaus Selbstbeweihräucherung) zugleich ein latentes Problem innerhalb des Narrativs, verfolgt es trotz aller treffender Anklagepunkte in Richtung Faschismus, Filz und Dünkelhaftigkeit doch eine unverhohlen darwinistische Denkweise. Erik kann am Ende nämlich nur reüssieren, weil er genügend Stärke, Cleverness und vor allem Resistenz besitzt, um sich durchzusetzen. Ein intellektuell geprägtes Individuum wie sein Freund Pierre Tanguy, Befürworter von Gandhis weg des gewaltfreien Widerstands oder Strindbergs Arbeiten, scheitert an den Repressalien der Älteren. Zu weich, zu verkopft – kurzum: zu schwach ist er, um Ungerechtigkeit und Despotismus langfristig ertragen zu können. Erik derweil macht aus seinen offenkundigen Vorbildern Elvis, Brando, Dean schon äußerlich keinen Hehl und wird wie sie schlussendlich rebellisch und findig genug sein, um den Spieß umdrehen zu können.
Man mag das mehr oder weniger genießbar finden – „Ondskan“ ist infolge diverser untadeliger Qualitätsmerkmale von der Inszenierung bis hin zu den darstellerischen Leistungen insgesamt ein starker Film, der zumindest zeigt, wie wichtig es vor allem für Heranwachsende ist, eine stabile moralische Agenda zu entwickeln.

8/10

DEN USKYLDIGE

Zitat entfällt.

Den Uskyldige (The Innocents) ~ NO/FIN/S/DK/F/UK 2021
Directed By: Eskil Vogt

Die neunjährige Ida (Rakel Lenora Fløttum) zieht mit ihren Eltern (Ellen Dorrit Petersen, Morten Svartveit) und ihrer etwas älteren, schwer autistischen Schwester Anna (Alva Brynsmo Ramstad) in eine kleine Mehrfamilienhaus-Trabantensiedlung außerhalb der Stadt. Es sind Sommerferien und obwohl hier fast nur junge Familien mit Kindern leben, sind die meisten im Urlaub. Dennoch lernt die aus mehrerlei Gründen frustrierte Ida (sie ist eifersüchtig auf Anna, weil der Großteil der elterlichen Aufmerksamkeit zwangsläufig ihr gebührt und empfindet zudem die Umzugssituation als belastend) zwei Nachbarskinder kennen, beide Außenseiter, beide jeweils aus Familien mit Migrationshintergründen stammend und beide bei alleinerziehende Müttern lebend: Ben (Sam Ashraf) leidet unter der offenkundigen Überforderung sowie dem fast schon exponierten Desinteresse seiner Mutter (Lisa Tønne) an ihm und beherbergt hinter seinem traurig anmutenden Äußeren tiefliegende Aggressionen, Aisha (Mina Yasmin Bremseth Asheim), die jüngste im Bunde, hat Vitiligo, ist zutiefst empathisch und spürt die anhaltende Trauer ihrer Mutter (Kadra Yusuf), die wohl aus dem Verlust des Partners herrührt. Rasch entdeckt Ida, dass die beiden, offenbar nochmals verstärkt durch Annas Anwesenheit, besondere Begabungen haben – so können sie zueinander telepathische Verbindungen aufbauen. Ben verfügt zudem über telekinetische Kräfte und eine Art Fernhypnose, mit der er sich andere zeitweilig zuwillen machen kann. Durch den Kontakt mit Anna, in der ebenfalls solche Fähigkeiten schlummern, verstärken sich diese Anlagen nochmals. Bei Ben jedoch wächst analog zu seinem Können auch seine tiefe, innere Wut…

Auf scheinbar irrationale Weise veränderte, besessene oder einfach von Natur aus böse Kinder und Jugendliche bilden im Phantastischen Film bereits seit vielen Jahrzehnten ihr eigenes Subgenre heraus, das oftmals besonders interessante bis sehenswerte Beiträge hervorbringt und in den letzten Jahren wieder frequentierter bedient wurde. Mit dem Triumphzug des Superheldengenres erweitertet sich schließlich auch der diesbezügliche Motivpool nochmals entscheidend: Werke wie Josh Tranks „Chronicle“, David Yaroveskys „Brightburn“ oder Josh Boones sogar direkt bei Marvel entlehnte „The New Mutants“-Adaption etwa zeigten das entsprechende Potenzial im amerikanischen Bereich bereits deutlich auf. Die Skandinavier taten sich indes insoweit im Coming-of-Age-Sektor hervor, als dass sie das herannahende Erwachsenwerden als thematischen Überbau für eindeutig im Horror verwurzelte Metaphorik wählten. „Den Uskyldige“ wagt diesbezüglich gewissermaßen einen Brückenschlag und verwendet dafür sehr profitable Ansätze. So erzählt Vogt seine beunruhigende Geschichte ausschließlich aus der Perspektive der kindlichen ProtagonistInnen. Ihre ganz subjektive, steng limitierte Wahrnehmung des Äußeren, ihres sozialen Mikrokosmos und der paternalistischen Strukturen, denen sie untergeordnet sind, trägt die gesamte Diegese. Für die Kids (und somit auch das Setting des Films) besteht ihre Welt aus der kleinen Hochhaussiedlung, einem seltsam untiefen Anrainerwald, dem Spielplatz, der begrenzenden Landstraße. Dahinter ist erstmals nichts weiter von Bedeutung. Sein vordringliches, transgressives Moment entwickelt der Film innerhalb dieses scharf umrissenen Areals nun aus dem Mysterium, das die präpubertäre, kindliche Psyche (Ida, Ben und Aisha sind allesamt unter oder um die zehn Jahre alt – bei Freud entspräche das exakt der Latenzphase) für (uns) Erwachsene darstellt. Ein gegebenfalls noch nicht zur Gänze ausgeprägtes Moralgerüst, die Möglichkeit, Verantwortung abzulehnen oder an die Erwachsenen weiterzureichen, primär instinktiv getroffene und vollzogene Entscheidungen zählen ebenso dazu wie ein noch unterentwickeltes Verständnis für das Endgültige oder scheinbar sinistre Charakterzüge wie Sadismus und Boshaftigkeit, die dem infantilen Werden stets wesensinhärent sind. Auch diesbezüglich bewegt sich „Den Uskyldige“ nah an stark freudianischen Diskursen. Dadurch nun, dass die Kinder jene Fähigkeiten entwickeln, jedoch keineswegs das für deren Einsatz unabdingbare Verantwortungsbewusstsein, beginnt ihr Umfeld sich in bedrohlicher Weise sukzessive zu zersetzen. Dabei lässt Vogt sich nicht von etwaigen Erläuterungszwängen ausbremsen; woher die Kräfte ursächlich stammen, ja, sogar, ob sie wirklich existent sind oder nicht bloß einem eskapistischen Gruselmärchen (Rationalisierungsbstrebungen der sommerlichen Gewaltausbrüche wären ebenso möglich) der noch ortsfremden, sich vielleicht in Teilphantastereien flüchtenden Ida entspringen, wird zur bloßen Entscheidung rezeptionistischer Erwägungen. In jedem Fall gelang dem bislang nur wenig in Erscheinung getretenen Vogt mit „Den Uskyldige“ ein Sommermärchen der ganz anderen Art; sonnendurchflutet-zwielichtig, im Unterholz lauernd, gelegentlich offensiv und doch beseelt von einer ganz eigenen, finsteren Magie. Wie die Kindheit.

9/10

LE JEUNE AHMED

„In schā‘ Allāh.“

Le Jeune Ahmed ~ BE/F 2019
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne

Der dreizehnjährige Ahmed (Idir Ben Addi) wächst in einer weitgehend säkularisierten Familie auf. Seine alleinerziehende Mutter (Claire Bodson) verzichtet auf den Hijab und trinkt zum Essen ein Glas Wein, seine ältere Schwester (Cyra Lassman) kleidet sich figurbetont. In Imam Youssouf (Othmane Moumen), der eine strenge, radikale Interpretation des Koran predigt, findet Ahmed, dessen Cousin als IS-Märtyrer gestorben ist und von der einschlägigen Internet-Community als Märtyrer verehrt wird, eine Art Ersatzvater. Ahmeds eigene Radikalisierung dauert nur wenige Wochen und geht sowohl mit strengstens praktizierten Riten als auch einer wachsenden, sich zunächst richtungslos aufbauenden Aggression einher. Sein Hass kanalisiert sich schließlich auf die Person einer der Lehrerin Madame Inès (Myriem Akkheddiou), die jungen, muslimischen Immigranten umgangssprachliches, vom Koran abgewandtes Arabisch beibringen möchte und dabei zudem „unkonventionelle“ Methoden wie Musikunterricht einfließen lässt. Auch Imam Youssouf ist die progressiv denkende Frau ein Dorn im Auge. Für Ahmed steht fest, dass es seine Aufgabe als eherner Gotteskrieger ist, Inès zu töten. Der umgehend geplante und ausgeführte Versuch misslingt jedoch und Ahmed landet in einer Besserungsanstalt. Es bedarf jedoch erst eines spürbaren Schicksalsschlags um ihn zu echter Reue zu bewegen.

Der vorletzte Film der Frères Dardenne wurde vom internationalen Feuilleton so kontrovers aufgenommen wie keiner zuvor. Die so zuverlässig kunstfertigen, seit nunmehr über zwei Dekaden für bewegendes Autorenkino stehenden Filmemacher schienen also mit Mitte 60 urplötzlich die Chuzpe, sich eines aktuellen, dazu akut dräuenden politischen Themas anzunehmen, das ziemlich weit über ihren bislang so wohlfeil gepflegten, sozialkritischen Duktus hinausschoss und mit selbigem scheinbar so gar nichts mehr zu tun haben mochte; eines Themas zudem, das doch bereits in den Jahren zuvor so ergiebig von anderen Kunstschaffenden verhandelt wurde. Eine ausgefeilte Psychologisierung des Protagonisten befände sich da in lässlicher Ermangelung, die Perspektive auf den komplexen Topos sei eine entschieden tendenziöse. Das die Läuterung implizierende „Schicksalsende“ schließlich käme hilflos bis banal daher. Die Dardennes befleißigten sich sogar gezielter „Horrormechanismen“, um Ahmed als emotionslosen, bösen Wechselbalg dastehen zu lassen. In Anbetracht dieser seltsam uniform anmutenden, mitunter unglaublich daneben liegenden Rezensionen bleibt nur der Schluss, dass eine auch nur ansatzweise auteuristische Sicht auf „Le Jeune Ahmed“ zugunsten salonlinker Selbstproduktion der AutorInnen fast schon stoisch ausgespart wurde. Der Hauptfehler besteht zunächst darin, dem Film einen politisch relevanten Ansatz zu unterstellen. Eine solche rezeptorische Prämisse muss zwangsläufig ins Leere laufen, denn darum geht es wenn überhaupt nur allerhöchst partiell. Diverse Sujets und Elemente früherer Dardenne-Filme finden sich stattdessen unschwer auffindbar in „Le Jeune Ahmed“, der wie jeder weitere Film der Brüder aus dem immergleichen, dabei in steter Bewegung befindlichen Motivpool schöpft, um dessen bewusste Topoi nurmehr aufs Neue zu repetieren und zu variieren. Lässt man die narrative, im Prinzip völlig austauschbare Folie des radikalisierten Nachwuchsmuslim kurzerhand beiseite, bleibt im Nukleus die Geschichte eines verwirrten, haltlosen Jungen an der Schwelle zur Pubertät, der sich ebenso nach erwachsenen, dezidiert männlichen Bezugspersonen sehnt wie nach Verständnis, Zärtlichkeit und Liebe und im Angesicht von deren jeweiliger Versagung eine falsche Abzweigung nimmt. Als denkbar greifbarste und naheliegendste Emotion, die ihn aus der Orientierungslosigkeit herausführt, wählt Ahmed jene verhängnisvolle Kombination aus extremistischer Disziplin und gezielt projiziertem Hass, die den im Diffusen geführten Djihad für entsprechend anfällige Kinder und Jugendliche so reizvoll macht. Auch ein Katalysator ist rasch bei der Hand – die ebenso aufopferungsvolle wie weltoffene Lehrerin Inès, die sich besonders engagiert um ihre Schützlinge kümmert und von Ahmed (dessen akute Wandlung ihr natürlich nicht verborgen bleibt) erwartet, dass er ihr zum Abschied die Hand gibt. Seine erklärte Mission, Inès im Auftrag Gottes zu töten, trägt Ahmed fortan durch die Tage, Wochen und Monate und verliert trotz aller Bemühungen seitens Sozialarbeit, Psychologie und Rehabilitation niemals an Gewicht. Ahmed verschließt sich in sich selbst, bleibt höflich, aber stets reserviert im Umgang und wahrt geschickt seine klar konturierten Scharia-Prinzipien zwischen harām und halal, ohne Verdacht zu erregen. Als die Farmerstochter Louise (Victoria Bluck) Ahmed gesteht, dass sie sich in ihn verliebt hat und ihn küsst, kulminiert die hormonelle Konfusion des Jungen abermals, woraufhin er den Mord an Inès zum nunmehr dritten und entscheidenden Mal in die Tat umzusetzen sucht. Es bedarf, wie bereits bei Ahmeds Alters- und Leidensgenossen Cyril in „Le Gamin Au Vélo“ erst einer buchstäblich geraumen Fallhöhe, um ihn zum endgültigen Umdenken zu bewegen. Ob dies von Dauer sein wird, bleibt wie üblich der guten Hoffnung des Publikums überlassen. Anders als die Erkenntnis, dass die Dardennes ungebrochen exzellente Arbeit liefern.

8/10