A CIVIL ACTION

„The truth? I thought we were talking about a court of law.“

A Civil Action (Zivilprozess) ~ USA 1998
Directed By: Steven Zaillian

Der Rechtsanwalt Jan Schlichtmann (John Travolta) und seine drei Kompagnons Kevin Conway (Tony Shalhoub), James Gordon (William H. Macy) und Bill Crowley (Zeljko Ivanek) betreiben eine auf Schadensersatz spezialisierte Kanzlei in Boston. Von seinen zahlreichen Kritikern abschätzig „Krankenwagenjäger“ tituliert, vertrittt Schlichtmann seine Klienten pro bono und kassiert ausschließlich im Erfolgsfall, der in der wohlfeil kalkulierten Regel und in Form kostspieliger Vergleiche auch eintritt, zumal die Kanzlei vorrangig besonders öffentlichkeitswirksame Fälle übernimmt. Weniger interessant erscheint da eine Sammelklage von Eltern aus der Kleinstadt Woburn, die ihre Kinder allesamt durch Leukämie verloren haben. Dennoch reizt Schlichtmann der Fall und er nimmt das Mandat an; mittelbar beklagt wird eine ortsansässige Gerberei, die von zwei millionenschweren Großunternehmen mitfinanziert wird. Deren Betreiber John Riley (Dan Hedaya) soll über Jahre hinweg Giftmüll ins Erdreich abgeleitet haben, wodurch die örtliche Wasserversorgung kontaminiert wurde. Der durch rechtssichere wissenschaftliche Analysen entstehende finanzielle Aufwand treibt Schlichtmanns Kanzlei, die unter seiner immer idealistischer werdenden Regie diverse Vergleichsangebote der Gegenseite ablehnt, in den finanziellen Ruin.

Als hollywoodsches Courtroom-Qualitätskino erster Garnitur greift der doppeldeutig betitelte „A Civil Action“ einen authentischen Fall aus den Spätachtzigern auf. Die porträtierten Personen und Ereignisse entsprechen durchweg der Realität, sanfte dramaturgische Zugeständnisse inbegriffen. Zaillians Film geriert sich als das, was man als eine „sichere Nummer“ bezeichnen darf; ein Gerichtsdrama, das seinen kapitalismuskritischen „David gegen Goliath“-Habitus via formidabler Besetzung mit stolz geschwellter Brust ausstellt und weiterhin auf der Symathieskala punktet mit einem vormals öligen Justizschaumschläger als Protagonisten, der im Angesicht verzweifelter Kleinstädter seine Moral und Menschlichkeit entdeckt und jene neugewonnene Integrität um den Preis der eigenen materiellen Sicherheit bis zur letzten Konsequenz verteidigt. Travolta spielt diese Rolle in seiner Post-Comeback-Phase mit dem Glanz möglicher Academy-Weihen im Blick sehr viel zurückhaltender als üblicherweise in diesen Jahren, die den etwas aufgedunsenen Tänzer von einst zumeist in grell überspitzten Parts präsentierten. Das Resultat kann durchaus überzeugen, sieht sich in Anbetracht von Schauspieltitanen wie Robert Duvall jedoch gleichfalls unüberwindlichen Limitierungen gegenüber. Vor allem die Szenen, in den denen sich Travolta und sein Antagonist, ein heimlicher advocatus diaboli, der die Multis vertritt und nebenbei in Harvard lehrt, wie man als aufstrebender Rechtsbeistand Berufsethos gegen Erfolgsstreben aufwiegen sollte, machen dies deutlich. Duvall, exzellent wie eh und je, vollzieht scheinbar mit links, wofür Travolta sich sein ganzes Leben lang vorbereitet zu haben scheint – Film und Realität reziprozieren sich für einen kurzen Augenblick.
Zweifellos ist „A Civil Action“ vor allem ein Geschenk an seine bis in Kleinstrollen glamourös besetzte Darstellerriege. Starautor Steven Zaillian begnügt sich in seiner zweiter Regiearbeit indes mit der verhältnismäßig schnöden Zurückhaltung, die ein Sujet wie das vorliegende üblicherweise bedingt. Inszenatorisch passt das von sanfter Kameraarbeit (Conrad L. Hall) und melancholischer Farbgebung geprägte Werk dann auch eher in die frühen Achtziger, als die letzten Ausläufer New Hollywoods sich noch einmal gegen das sukzessive Wiederstarken des kommerziell orientierten Kinos aufzubäumen versuchten.

7/10

THE MAURITANIAN

„Either wear the Jersey or get off the field.“

The Mauritanian (Der Mauretanier) ~ UK/USA 2021
Directed By: Kevin Macdonald

Nach den 9/11-Anschlägen fordert der von Bush Jr. und Rumsfeld deklarierte Krieg gegen den Terror Angeklagte, Schuldige und notfalls auch Sündenböcke. Als einer der mutmaßlichen Drahtzieher der Katastrophe wird der Mauretanier Mohamedou Ould Slahi (Tahar Rahim) im November 2001 in seiner Heimat festgenommen und in das Militärgefängnis Guantánamo verschleppt. Etwas über drei Jahre später wird die Staranwältin und Menschenrechtsaktivistin Nancy Hollander (Jodie Foster) auf Slahis Fall aufmerksam und reist nach Kuba, um sich seines Zustandes zu versichern und Slahi anzubieten, ihn vor Gericht zu vertreten. Parallel dazu wird der eherne Marine Stuart Couch (Benedict Cumberbatch) mit Slahis formeller Anklage betraut und sieht seine Aufgabe zunächst voller Elan entgegen. Doch sowohl Hollander als auch Couch erhalten keine Einsicht in die offiziellen Verhörprotokolle Slahis, der zu diesem Zeitpunkt längst ein Geständnis bezüglich seiner Mitwirkung bei den Anschlägen unterschrieben hat. Verteidigerin und Ankläger stoßen gleichermaßen auf eine Mauer des Schweigens und der Geheimhaltung; Zensur, geschwärzte Berichte und fehlende Freigaben erschweren ihre Vorbereitung auf den Fall immens. Schließlich erfahrend beide den Grund: Slahis Geständnis wurde durch gezielte Folter und Bedrohung erzwungen, eine offizielle Begründung für seine Inhaftierung gab es nie. Im Frühjahr 2010 wird Slahi in erster Instanz freigesprochen, doh es dauert noch sechs weitere Jahre, bis er aus der Gefangenschaft entlassen wird.

Kevin Macdonalds sechster Spielfilm nach einer immerhin siebenjährigen Pause basiert auf Mohamedou Ould Slahis niedergeschriebenen Memoiren „Guantánamo Diary“, die sich mit seiner rund vierzehn Jahre währenden Gefangenschaft auf dem kubanischen Marine-Stützpunkt befassen. Möglicherweise ist „The Mauritanian“ Macdonalds beste, fesselndste Arbeit bislang, seine Dokumentationen nicht berücksichtigend. Gewiss – ein Stoff wie dieser ist a priori von gewaltiger Prestigeträchtigtkeit und bereits rein prinzipiell ein Gewinner und Publikumsliebling. Umso wichtiger jedoch ist es andererseits, Klischees und überborderndes Pathos zu umschiffen und ein fiktionalisierte Version der Ereignisse auch langfristig valide dastehen zu lassen. Genau das gelingt Macdonald jedoch; „The Mauritanian“ besitzt zum einen alle wichtigen Charakteristika eines guten Politthrillers und macht die Geschichte Slahis als Repräsentation für die in Guantánamo unter der Protegierung der US-Regierung, der CIA und des Militärs durchgeführten Praktiken umso ergreifender. Macdonald offenbart sich hier als legitimer Erbe großer Ahnherren wie Constantin Costa-Gavras, Alan J. Pakula oder Oliver Stone und deren entsprechenden Werken, die es allesamt zu ihrer Zeit vortrefflich verstanden, im Namen angeblich freiheitlich konnotierter Staatsräson ungeheuerliche Vorgänge in Form fesselnder Spielfilme aufleben zu lassen. Der dräuenden Frage danach, ob ein dramaturgisch aufbereiteter, kommerzorientierter und mit Stars aufbereiteter Abriss in jener medialen Form, der sich ferner stets von der unter Umständen tendenziösen Signatur seiner AutorInnen gebeugt wähnen muss, überhaupt einen sittlichen oder gar moralischen Wert bekleidet, muss sich ein jedes Kunstprodukt berechtigterweise immer wieder aufs Neue stellen. Andererseits darf der didaktische Impact all jener oftmals hervorragenden Filme nicht unterschätzt werden, sind sie doch stets dazu angetan, Geschichts- und Nachrichten- und Informationsmuffel wenngleich auf unterhaltsame Weise mit der Nase voran auf Sujets zu stoßen, die sie andernfalls möglicherweise nie erreicht hätten und sei es auch nur, um ein vages Interesse anzustoßen, das gegebenenfalls in weitere, intensive Beschäftigung mündet. „The Mauritanian“, der am Ende seinen authentischen Titelhelden zeigt, frohgemut, lachend, gelöst und bar allen doch so verständlichen Verdrusses, gehört genau in diese Phalanx. Wenn es sein Glaube ist, der diesen um etliche Jahre seines Lebens betrogenen Mann so ungebrochen zuversichtlich erscheinen lässt, dann, in schā‘ Allāh, kann nicht alles daran falsch sein. Und aufrichtige, pointierte Kritik an der fetten, alten Sau Amerika und ihren Tausenden von Ferkeln ist ja schon im Grundsatz eh immer zu begrüßen.

9/10

THE ACCUSED

„Tell me – was that nothing?“

The Accused (Angeklagt) ~ USA 1988
Directed By: Jonathan Kaplan

Sarah Tobias (Jodie Foster), eine junge Frau aus dem Arbeitermilieu, wird von drei Männern in einer Hafenkneipe vergewaltigt. Die just im Karriereaufstieg begriffene, stellvertretende Staatsanwältin Kathryn Murphy (Kelly McGillis) erhebt Anklage, weiß aber aus Erfahrung, dass eine dem Delikt tatsächlich entsprechende Verurteilung sehr unrealistisch ist, zumal einer der Täter, ein College-Student (Steve Antin) aus wohlhabendem Hause, einen teueren Spitzenanwalt mit seiner Verteidigung beauftragt hat. Ein auf den Tatbestand „schwere Körperverletzung“ hin ausgerichteter Deal erspart den Männern zwar nicht das Gefängnis, aber doch eine allzu hohe Freiheitsstrafe. Für Sarah, die noch nichtmal die Gelegenheit bekommt, gerichtlich auszusagen, kommt das Urteil einem weiteren Tiefschlag gleich. Als sie Wochen später Cliff Albrect (Leo Rossi), einer jener Männer, die die Vergewaltiger während ihrer Tat angefeuert haben, wiedertrifft und dieser sie abermals unflätig beschimpft, rastet Sarah aus und verletzt sich dabei selbst schwer. Erst jetzt beginnt Kathryn Murphy, das ganze ungeheuerliche Ausmaß von Sarahs Schicksal zu begreifen und erhebt wider alle guten Ratschläge abermals Anklage – diesmal gegen die damals passiv Beteiligten, wegen Anstiftung zu einer Straftat.

„The Accused“, ein Frauenfilm von Männern, machte damals vor allem reichlich Furore wegen Jodie Fosters mit Preisen und Lob überhäufter, tatsächlich bemerkenswerter Interpretation des Vergewaltigungsopfers Sarah Tobias. Für die damals Vierundzwanzigjährige bedeutete jene Rolle zugleich die endgültige Emanzipierung von ihrem vormaligen Status als ewiger Kinder- und Jugendstar und prominentes Stalking-Opfer und läutete gewissermaßen ihre zweite Karriere ein. Fosters Partnerin und damalige Freundin Kelly McGillis wiederum war sechs Jahre zuvor selbst Opfer einer Vergewaltigung, was letztlich dazu führte, dass für sie nur der Part der Staatsanwältin in Frage kam. Doch auch das Sujet, das sich mit Kaplans zehnter Regiearbeit faktisch erstmals zur Gänze aus den vom saturierten Mainstreampublikum gemiedenen Niederungen des Exploitation- und Vigilantenfilms erhob, sorgte für nachhaltiges Aufsehen. Jonathan Kaplan, als ehemaliges Corman-Protegé selbst aus der Grindhouse-Ecke kommend, entwickelte dabei das wohlaustarierte Gespür für eine gleichfalls mitreißende wie akzeptable Inszenierung des involvierenden Dramas. Während „The Accused“ mit der verzweifelt und um Hilfe rufend in die Nacht laufenden Sarah Tobias beginnt, um dann zunächst vor allem die psychosozialen Folgen ihrer Vergewaltigung zu veranschaulichen, spart man – ein ebenso ungewöhnlicher wie geschickter diegetischer Schachzug – das unvermeidliche Zeigen des eigentlichen Vergewaltigungsakts in seiner ganzen, unnachgiebigen Schilderung dabei gezielt bis zum Ende aus, um es dann während des Gerichtsprozesses als rückblickende Aussage des Hauptbelastungszeugen (Bernie Coulson) parallel vor den Geschworenen und vor dem Filmpublikum zu entrollen. Damit wird die Ursache für Sarahs zuvor bezeugten Leidensweg quasi umgekehrt kausal der Nachvollziehbarkeit preisgegeben und gestaltet sich umso intensiver. Ansonsten bietet „The Accused“ vergleichsweise typisches Betroffenheits- und Courtroom-Kino seiner Ära, wie es dann nochmals besonders in den kommenden Neunzigern florieren sollte – konventionell gefertigt und nebst allem dazugehörigen Bühnenpersonal, von dem sozial niedriggestellten und damit konsequent überhörten Opfer über die zunächst angepasst agierende, arrogante Karrieristin im Justizgewerbe und den wankelmütigen Kronzeugen bis hin zu einem bereits die Grundproblematik völlig verkennenden, verfilzten Patriarchat.
Als medienhistorisch relativ bedeutsam empfand ich noch, dass Sarah Tobias vermutlich ein wesentlich realistischeres Vergewaltigungsopfer ist als man es bis dato üblicherweise im Film vorgeführt bekam (und wohl auch noch immer bekommt); handelt sich bei ihr doch um eine völlig ordinäre Frau der Masse, weithin ungewappnet und mit wenig prägnanter Außenwirkung behaftet. Von geringem Bildungsstand, als Kellnerin und Hobbyastrologin arbeitend, trinkt und kifft Sarah zudem gern über Gebühr, gibt sich offenherzig und wird am Ende der Hauptverantwortung für das ihr Widerfahrene anheim gestellt. Nicht allein die anschließenden, sich „eingeladen“ wähnenden Aktivtäter verweigern sich indes jedwedem Schuldeingeständnis wie auch der Anerkennung der simplen Tatsache, dass „Nein“ spätestens im entscheidenden Moment „Nein“ bedeutet – und nichts anderes.

7/10

SNOW FALLING ON CEDARS

„Stay away from white boys. Marry one of your own kind, whose heart is strong and gentle.“

Snow Falling On Cedars (Schnee, der auf Zedern fällt) ~ USA 1999
Directed By: Scott Hicks

San Piedro, eine der Küste von Washington State vorgelagerte Insel, im Jahre 1950. Der allseits beliebte Jungfamilienvater und Fischer Carl Heine (Eric Thal) wird zum allgemeinen Entsetzen der Bewohner des kleinen Eilands tot aus dem eiskalten Pazifikwasser geborgen. Eine Kopfwunde lässt den Schluss zu, dass Heine möglicherweise einem Gewaltakt zum Opfer gefallen ist, wofür dann auch der potenzielle Täter und sein Motiv rasch bei der Hand sind: Der japanischstämmige Kazuo Miyamoto (Rick Yune) ist der letzte, der Heine lebend an Bord seines Schiffes gesehen hat; zudem hat Heine Miyamoto ein Stück Ackerland vorenthalten, das von Rechts wegen längst seiner Familie gehörte. Natürlich erweist sich der gesamte nachfolgende Gerichtsprozess als heimlicher Symbolakt des seit 1941 grassierenden Rassismus gegen alle in den USA lebenden Japaner, deren Leidesweg bereits mit der Einpferchung in die Internierungslager begann und weiterhin unterschwellig grassiert. Den jungen, liberale Lokaljournalist Ishmael Chambers (Ethan Hawke), dessen verstorbener Vater (Sam Shepard) sich zeitlebens leidenschaftlich gegen Vorurteile und Hass eingesetzt hatte, hat ferner eine ganz persönliche Beziehung zu der Verhandlung: Miyamotos Frau Hatsue (Yûki Kudô) ist die große Liebe seines Lebens…

Diese Bestseller-Verfilmung von Scott Hicks nach David Gutersons fünf Jahre zuvor erschienenem Bestseller befasst sich mit einem der vielen unschönen Historienaspekte, die die USA unauslöschlich am dreckigen Stecken kleben haben, nämlich die Behandlung der im Lande lebenden japanischen Migranten und ihrer Nachfolgegenerationen nach dem Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941. Bekanntermaßen markierte dieses Ereignis zugleich den Kriegseintritt Amerikas und ihre anschließende Truppenkonzentration auf Europa und den Westpazifikraum. Doch fand der Krieg auch innerstaatlich seinen Niederschlag: Um die 120.000 japanischstämmige US-Amerikaner wurden unter konspirativen Generalverdacht gestellt, teilenteignet und ein Großteil von ihnen in Internierungslager verbracht; die öffentliche Stimmung gegen sie, die von Politik und Medien gezielt lanciert wurde, ähnelte bald frappierend dem offen gelebten Antisemitismus in Europa.
Im Kino erfuhr das unrühmliche Thema ein bis dato nur sehr verhaltenes Echo, anders als diverse andere außen- und innenpolitischen Schweinereien der US-Regierung seit ihrem Bestehen. Tatsächlich sind mir lediglich drei Exempel bekannt: Das erste, John Sturges‘ meisterlicher „Bad Day At Black Rock“ von 1955, befasst sich mit einem Fall japanophob motivierter Lynchjustiz und wirkt vielleicht gerade deshalb so nach, weil es strikt darauf verzichtet, Opfer, Tathergang oder überhaupt nur einen Japaner zu zeigen. In der Wüstenei von Black Rock ist mit dem einsam Farmer Komoko auch der letzte Japaner einer Art idealisiertem Genozid zum Opfer gefallen. Dann gibt es noch Alan Parkers „Come See The Paradise“, den ich mir Kürze nochmal anschauen werde und eben „Snow Falling On Cedars“.
Das offenkundig schwierige Thema wird in Hicks‘ formidabel besetztem Film aufrüttelnd, umfassend und integer verhandelt. Er zeigt diverse Aspekte der schwierigen, durchaus von reziproken Ressentiments geprägte Koexistenz zweier grundverschiedener Kulturen auf einer in der Juan-de-Fuca-Straße liegenden (fiktiven) Insel auf. Im Nukleus findet sich die an „Romeo und Julia“ gemahnende Geschichte einer unmöglichen, weil verbotenen Romanze zwischen dem jungen Zeitungsmacherfilius Ishmael (Reeve Carney) und der Farmerstochter Hatsue Imada (Anne Suzuki), die sich bis ins junge Erwachsenenälter der beiden hält, dann jedoch von Hatsue abgebrochen wird, weil sie dem innerfamiliären, vor allem von ihrer Mutter (Ako) ausgeübten Druck nicht länger standzuhalten vermag. Parallel dazu wird in Rückblenden die Geschichte der heraufziehenden antijapanischen Aggressionen geschildert: Das ohnehin auf sehr fragilen Beinen stehende Zusammenleben kippt nach Pearl Harbor endgültig und wird sich bis in die Gegenwart der filmischen Erzählzeit auch alles andere als wieder erholen. Stattdessen muss ausgerechnet der nach seinem Kriegseinatz in Europa hochdekorierte Veteran Kazuo Miyamoto, dem sich während der Internierungszeit ausgerechnet Hatsue zugewandt und ihn geheiratet hat, als Sündenbock für eine recht diffuse Anklage herhalten. Dass dieser wiederum keine konkreten Beweise zugrunde liegen, spielt eine untergeordnete Rolle; einmal mehr ist es blanker Rassismus, der allem und allen als Motivationsmotor dient. Hicks erzählt die Geschichte ein einem umfangreichen, schön arrangierten Mosaik aus Rückblenden, das insbesondere von der ausnehmend prächtigen Scope-Photographie (Robert Richardson) des Nordwest-Pazifik-Territoriums zehrt und die visuelle Entsprechung seiner melancholischen Grundstimmung in der von Nebelschwaden gesäumten und schließlich tiefverschneiten, winterlichen Inselwelt findet. Traditionesbewusste courtroom clichés scheut Hicks zudem keineswegs. Max von Sydow als liebenswerter, betagter Anwalt des angeklagten Miyamoto erinnert unumwunden an Spencer Tracy in Stanley Kramers Filmen, derweil die japanische Community am Ende so vor Ethan Hawke aufsteht und ihm ihre Ehrerbietung erweist, wie es einst die Afroamerikaner für Gregory Peck in „To Kill A Mockingbird“ taten.
Natürlich geht am Ende alles gut aus; Ishmael kann berechtigte Zweifel an der staatsanwaltlichen Mordthese säen, was dazu führt, dass der (glücklicherweise objektive) Richter (James Cromwell) dafür sorgt, dass die Anklage fallengelassen wird. Zudem kann der unglückliche, seit dem Krieg einarmige Liebesgeprellte endlich mit der persönlichen Vergangenheit abschließen, denn eines, das lehrt uns hollywood’sches Qualitätskino seit eh und je, ist doch sonnenklar: Wenn es keine Hoffnung für Amerika gibt, dann gibt es auch keine für die Menschheit.

7/10

THE CONJURING: THE DEVIL MADE ME DO IT

„I don’t want to go down there.“

The Conjuring: The Devil Made Me Do It (Conjuring 3 – Im Bann des Teufels) ~ USA/UK 2021
Directed By: Michael Chaves

Im Jahre 1981 untersucht das Okkultisten-Paar Lorraine (Vera Farmiga) und Ed Warren (Patrick Wilson) den Fall des besessenen, elfjährigen David Glatzel (Julian Hilliard). Im Zuge des später anberaumten Exorzismus bietet sich Arne Johnson (Ruairi O’Connor), der Freund von Davids älterer Schwester Debbie (Sarah Catherine Hook), dem Dämon als Ersatzwirt an. Ed erleidet während der Ereignisse einen beinahe tödlichen Herzinfarkt. Zwar ist der kleine David hernach kuriert und auch sonst scheint zunächst alles in Ordnung, bis Arne einige Wochen später im Zuge scheinbarer geistiger Umnachtung seinen Vermieter Bruno Sauls (Ronnie Gene Blevins) ersticht. Nachdem Arne sich widerstandslos verhaften lässt und wegen Mordes angeklagt wird, findet Lorraine heraus, dass der Dämon noch immer latent mit Arne in Verbindung steht. Die Warrens entdecken einen satanistischen Fetisch unter dem Haus der Glatzels, der sie auf die Spur einer im Hintergrund agierenden, mächtigen Drahtzieherin (Eugenie Bondurant) setzt. Jene hatte den sinistren Dämon einst heraufbeschworen und trachtet nun wiederum mit dessen Hilfe Arnes Leben ein Ende zu setzen.

Im dritten Teil der mittlerweile ja recht fruchtbar unterverzweigten „Conjuring“-Reihe ermitteln die Warrens nach ihrem Abstecher nach London wieder in heimischen, neuenglischen Gestaden. James Wan, der ja mittlerweile wohl vornehmlich Projekte größeren Stils dirigiert, fungiert nurmehr als Produzent und Co-Autor, derweil „Llorona“-Regisseur Michael Chaves hier seine zweite Langfilm-Arbeit inszeniert. Die Story-Prämisse bildete diesmal der in den USA recht bekannte „Devil Made Me Do It“-Gerichtsprozess, in dessen Zuge Arne Cheyenne Johnson unter Berufung auf die Warrens beteuerte, während des ihm zur Last gelegten Gewaltaktes Opfer dämonischen Einflusses gewesen zu sein. Dass er der infolge eines Totschlags-Urteils der drohenden Todesstrafe entging und trotz einer wesentlich höheren Freiheitsstrafe bereits nach fünf Jahren wieder aus dem Gefängnis entlassen wurde, suggeriert der Film während des Abspanns noch als indirekten Effekt der warrenschen Insistierung, obschon dieser während des eigentlichen Prozesses keinerlei Evidenz zukam.
Man kann sich als Filmfreund glücklich schätzen, dass die echten Warrens mit Vera Farmiga und Patrick Wilson zwei recht sympathische filmische Stellvertreter erhalten haben, zeugen selbst oberflächichste Rechecherche nebst anhängenden Archivaufnahmen des Ehepaars doch von ausgesprochen wenig Vertrauen erweckenden Spinnern und/oder Scharlatanen, deren authentisches „Wirken“ im besten Falle tatsächlich ausschließlich als halbgare Kintopp-Inspiration dienen mag; von der immer wiederkehrenden Effektivität rein christlich basierter Gegenmaßnahmen im Zuge ihrer Aktionen einmal gar nicht zu reden.
Was Chaves‘ eigentlichen Film anbelangt, so bescheidet sich dieser mit einem biederen, überraschungsfreien und mit wenigen Ausnahmen annähernd spannungslosen Aufzug. Schöne, atmosphärisch angelegte Figuren wie der Valak oder der Crooked Man, die der letzte Teil noch aufzubieten wusste, fehlen faktisch gänzlich. Ein fetter, nackter Geist (Jay Peterson) und die strippenziehende Satanistin Isla (Bondurant) bieten da nur vergleichsweise schmalen Ersatz. Stattdessen gibt es gnadenlos kitschige Rückblicke auf die jugendliche Kennenlernzeit der Warrens, deren romantisches Band sich dann am Ende auch als funktionalste Waffe wider die Mächte des Bösen ausgestellt findet. Formal wie darstellerisch medioker scheint sich somit auch dieses Franchise allmählich der Ermüdung feilzubieten, wobei es noch einige Geschichten um die Warrens gibt, die erzählt werden könnten. Ob sie dies auch wirklich sollten, wird die Zukunft zu zeigen haben.

5/10

FLIGHT

„I know how to lie about my drinking. I’ve been lying about my drinking my whole life.“

Flight ~ USA 2012
Directed By: Robert Zemeckis

Nach einer durchzechten, durchvögelten Nacht und ein paar Lines Koks zum Runterkommen geht Flugkapitän Whip Whitaker (Denzel Washington) wie gewohnt zur Arbeit, um ein Passagierflugzeug von Orlando nach Atlanta zu fliegen. Ein Schlechtwettertief zu Beginn des Fluges meistert der erfahrene Pilot noch behende, kurz vor der Landung versagt dann das Höhenleitwerk und die Maschine gerät in den Sturzflug. Mittels eines waghalsigen Manövers, bei dem Whitaker den Flieger kurzerhand auf den Kopf und dann wieder zurück dreht, gelingt ihm eine leichte Stabilisierung und es können trotz des nachfolgenden Crashs bis auf sechs Menschen alle Passagiere gerettet werden. Der nur leicht verletzte Whitaker wird zunächst als Held des Tages gefeiert, dann kommt heraus, dass seine Blutwerte stark belastet waren und er noch selbst während des Fluges am Wodka genippt hat. Die öffentliche Meinung macht eine Kehrtwende und Whitaker muss sich schließlich wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht verantworten. Die Bekanntschaft mit der vormals drogensüchtigen Nicole (Kelly Reilly) gibt ihm vorübergehenden Halt, sein pathologisches und selbstzerstörerisches Suchtverhalten jedoch mag er sich nicht eingestehen, was wiederum zum Bruch mit Nicole führt. Schließlich steht die maßgebliche Anhörung bevor, die Whitaker dank seines pfiffigen Anwalts Hugh Lang (Don Cheadle) die Chance gibt, alles zum Positiven zu wenden…

Anders als in Clint Eastwoods vier Jahre später entstandenem „Sully“ geht es dem eine ganz ähnlichen Storyprämisse verhandelnden „Flight“ nicht um die Klarstellung von prekären Luftfahrt-Ereignissen oder die Ehrenrettung eines in akuter Stresssituation korrekt handelnden Piloten. Zemeckis‘ Film ist trotz jener spektakulären Ausgangslage das nüchtern erzählte Porträt eines multitoxikomanen Süchtigen und eine Erzählung darüber, wie Abhängigkeit als allmächtiger Existenzfaktor das Lebens eines Individuums beeinflusst und prägt. Die klug gewählte conclusio besteht darin, dass Whip Whitaker die meisten Menschen im beschädigten Flugzeug weder wegen noch trotz seines inflationären Alkohol- und Drogenkonsums retten konnte, sondern ganz schlicht mit ihm.
Jahrelang süchtige Personen, denen es gelingt, ihr öffentliches Image auf akzeptablem Niveau zu halten, entwickeln sowohl im Bezug auf ihre Abhängigkeit als eben auch mit ihr hochkomplexe Persönlichkeitsstrukturen. Diese beinhalten vor allem die wohlfeil erlernte Fertigkeit professioneller Selbsttäuschung, die von der Leugnung der Sucht bis hin zu der nicht minder irrigen Autosuggestion reicht, sie wahlweise kontrollieren oder behende mit ihr umgehen zu können. Abhängige durchlaufen je nach der Intensität ihres individuellen Suchtstadiums und dessen Wechselwirkung mit ihrem sozialen Umfeld sämtliche jener Stadien in sich unwillkürlich repetierender Reihenfolge, wobei sich die Abwärtsspirale ungeachtet aller Anstrengungen sukzessive fortsetzt. Ein endgültiges Entkommen daraus ist mäßig wahrscheinlich und im Falle des Erfolges letztlich ausschließlich einer glücklichen Kombination begünstigender Faktoren zuzuschreiben. Ohne ausnahmslose Abstinenz ist ein langfristiger Weg aus dem Teufelskreis faktisch unmöglich.
Die Geschichte von Whip Whitaker greift auf dem Weg zu seinem forcierten Suchtausstieg diverse Stationen einer Abhängigkeit auf, freilich nicht, ohne am Ende eine sehr kinogemäße Selbstrettung hintenanzustellen, die wohl vor allem dazu taugt, das Publikum zu beschwichtigen und mit einem positiven Gefühl zu entlassen. Ganz so konsequent wie er es im Verlauf seiner Erzählung verspricht, nimmt sich „Flight“ dann schlussendlich doch nicht aus. Als es in der finalen Befragung darum geht, die Integrität der beim Absturz heldenhaft verstorbenen Stewardess Katerina (Nadine Velazquez), die mit Whitaker die letzte, verhängnisvolle Nacht verbracht hat, in eigener Rettung zu vernichten oder wahlweise zu retten, entscheidet sich der wiederum im Vollrausch befindliche Held für letzteres; um den Preis der eigenen öffentlichen Ehre zwar, aber im Gegenzug zur persönlichen Rettung der Seele. Mit der schonungslosen Ehrlichkeit gehen Gefängnis, aber auch Abstinenz einher; verloren geglaubte Beziehungen können gekittet werden, Whitaker nimmt die gesetzlich oktroyierte Strafe gewissermaßen als unverhofftes Geschenk entgegen. Damit pflegt der als Beschreibung einer Suchtcharakteristik wie eingangs erwähnt ansonsten annähernd brillante „Flight“ mit seinem on top befindlichen Hauptdarsteller einen ähnlichen magischen Realismus wie etwa Mike Figgis‘ „Leaving Las Vegas“: Der ganz ordinäre Alkoholiker zelebriert weder seinen Todessuff in Vegas, noch entwickelt er sich in einer kurzen, starken Minute zum altruistischen Heiligen. Einen gänzlich ungeschönten, unromantischen Realismus in dieser Angelegenheit bleibt Hollywood mit seinen vielen Trinkergeschichten uns bis heute schuldig.

8/10

DAS URTEIL

„Was haben Sie wirklich gesehen und gehört?“

Das Urteil ~ D 1997
Directed By: Oliver Hirschbiegel

Siegfried Rabinowicz (Klaus Löwitsch), ein jüdischstämmiger New Yorker Buchantiquar, soll als Hauptbelastungszeuge in einem Mordprozess in Hamburg aussagen. Während eines spätabendlichen Zwischenstopps in München überrumpelt ihn eine ominöse Service-Mitarbeiterin (Anya Hoffmann) Rabinowicz mit einem höchst unerwarteten Angebot: Wenn er bereit ist, nicht die Anschlussmaschine, sondern erst die übernächste zu nehmen, erhält er nicht nur ein Erste-Klasse-Ticket und einen Aufenthalt in der VIP-Lounge, sondern zudem eine aus dem Vorkriegsdeutschland stammende Haggada, ein hebräisches Gebetbüchlein, eine für den Holocaust-Überlebenden unsagbar kostbare Reliquie. Rabinowicz akzeptiert spontan und beginnt erst danach über den Grund für das doch sehr seltsame Ereignis nachzugrübeln, als ein Zeitung lesender Fremder (Matthias Habich) ihn anspricht. Aus der zögerlichen Bekanntschaft entwickelt sich eine angeregte Diskussion den Rabinowicz zum Gericht nötigenden Mordfall betreffend…

Ich hatte Glück und durfte Oliver Hirschbiegels vom Bezahlsender Premiere und dem NDR coproduziertes TV-Kammerspiel bei der Free-TV-Erstausstrahlung im Oktober 1998 sehen. „Das Urteil“ hatte mich schon damals mittelschwer begeistert und daran hat sich bis heute nichts geändert. Hirschbiegels auf reinen Dialog rekurrierendes Echtzeit-Drama ist ein kleines Meisterstück extrem verdichteter Kriminalfiktion, das seine Inspirationswurzeln ebenso bei Hitchcock findet wie bei Lumets Klassiker „12 Angry Men“.
Hirschbiegel demonstriert darin noch vor seiner ersten Kinoarbeit, was Filmkunst von einer in diesem Falle durchaus naheliegenden Theaterinszenierung abhebt: Seine suggestive Regie, getragen von von einem sanften, von ihm selbst stammenden Klarinetten-Score, vollzieht er beinahe unmerklich und gerade dadurch geriert sie sich so exzellent. Natürlich tragen dabei die beiden Schauspiel-Giganten Löwitsch und Habich in ihren jeweils meisterhaften Auftritten die Hauptverantwortung für das durchgängige Gelingen des Stoffs.
Moral, Schuld, Sühne wirft das blendende Buch von Paul Hengge in die Waagschale und über die Erfahrungen Rabinowiczs, der in Auschwitz war und dort alles bis auf sein nacktes Leben verloren hat, darunter auch die Bereitschaft, jemals wieder lieben zu können, entwickeln sich all diese Facetten zu einem hochkomplexen und dabei um keine überflüssige Zeile überreicherten Reflexion über objektive und subjektive Wahrheit und letzten Endes auch um aufrichtige Vergebung und wie wichtig sie sein kann, um das eigene Leben lebenswert zu gestalten. Dass „Das Urteil“ es in diesem Zusammenhang selbst noch bis zum Schluss immer wieder schafft, gemeinsam mit seinen beiden Protagonisten auch den sich längst in Sicherheit wiegenden Betrachter in kognitiver Hinsicht zu überrumpeln und auch dessen zuverlässig gewähnte Wahrnehmung auf den Kopf zu stellen, ist dabei nur ein Nebenverdienst dieses brillanten Stücks Fernsehgeschichte.

9/10

WAVES

„All we have is now.“

Waves ~ USA 2019
Directed By: Trey Edward Shults

Die in Florida lebende, wohlhabende Familie Williams besteht aus Vater Ronald (Sterling K. Brown), einem unbeugsamen Ehrgeizling, seinen beiden Kindern Tyler (Kelvin Harrison Jr.) und Emily (Taylor Russell) sowie Ronalds zweiter Frau Catherine (Renée Elise Goldsberry), die die beiden Kids liebt als wären es ihre eigenen. Erfolg und gesellschaftliches Renommee sind besonders für Ronald von unschätzbarem Lebensrang und so erzieht er vor allem Tyler, der als Ringer in der High-School-Mannschaft Erfolge feiert, ganz nach diesem Gusto. Der Junge, der eine glückliche Beziehung mit seiner Freundin Alexis (Alexa Demie) führt, verschweigt seinem Vater deshalb, dass er eine schwere Schulterläsion hat, die ihn eigentlich dazu zwingt, sofort mit dem Sport aufzuhören. Stattdessen entwickelt er allmählich eine Sucht nach starken Schmerzhemmern und zeigt sich auch anderen Rauschmitteln nicht abgeneigt. Als Alexis Tyler die Nachricht überbringt, dass sie von ihm schwanger ist, bedeutet dies den Beginn einer furchtbaren Verkettung von Tragödien, die die Williams‘ in den Abgrund zu reißen droht…

Mein persönliches Filmjahr 2021 hat mit Trey Edwards Shults‘ dritter Regiearbeit „Waves“ sein erstes veritables Meisterwerk zu verbuchen – und wie schön, dass es sich dabei sogar um ein aktuelles Werk handelt! Unweigerlich drängte sich mir der eigentlich gar nicht mal so evidente Vergleich zu Nolans „Tenet“ auf: hier hätten wir zwei (rein zufällig) pandemieflankierende Filme im finalen Jahr der Ära Trump mit afroamerikanischen Protagonisten von jeweils weißen Filmemachern. Wo ersterer ein sich sukzessiv selbst vergrabendes, kryptovulgäres Genremedley ohne wirkliche Nachhaltigkeit darstellt, bietet „Waves“ formal durchdachtes, ebenso aufregendes wie bittersüßes Erzählkino von selbst hohem literarischen Rang, das den Spagat zwischen modellhaft-klassisch konnotiertem Dreiakter-Drama und innovativer Frische scheinbar mühelos vollzieht. Mit der Verdichtung des Inhalts vollzieht sich bei Shults zugleich kaum merklich eine Verengung des Bildkaders – wo Nolan seine Formate und Maskierungen zunehmend willkürlich wechselt, hat hier all dies Hand, Fuß und vor allem Geist und Herz. Auf die unweigerliche, erschütternd zäsurische Klimax hinaus- und hernach in die dringend nötige, kathartische Heilung zurücklaufend berichtet „Waves“ nicht nur von zwei miteinander verknüpften Geschwisterschicksalen vor maroder Familienkulisse, sondern auch von etlichen, zeitgenössischen Problemen der amerikanischen Bevölkerung. Auf den tiefen, berdrückenden Fall Tylers folgt das geradezu phoenixhafte Aufblühen seiner jüngeren Schwester Emily, die im universalen Gefüge gewissermaßen all das wieder richtet, was ihr Bruder (und mittelbar auch ihr Vater) zuvor zerstört haben. In Emily, von der wunderbaren Taylor Russell gespielt und eine der größten Lichtbringergestalten im jüngeren US-Film, liegt, das darf man nach der leuchtend bunten, warmen Post-Credit-Melange von „Waves“ wohl mit Fug und Recht behaupten, alle nur denkbare Hoffnung für eine rosigere Zukunft der Menschheit. Emily überwindet. Sie überwindet Rassenschranken, Hass, Angst, Trauer, Entfremdung und Entzweiung, wie es sonst nur die Zeit selbst vermag. Sie zeigt, wie es richtig geht, zeigt es Alt und Jung. Sie salbt, verbindet und pflegt, einer sakrosankten Krankenschwester gleich. Wo „Tenet“ permanent nach wokeness strebt und viel behauptet, veräußert „Waves“ sie ganz einfach so – unaufdringlich, authentisch und gewissermaßen gefühlsecht.
Eine junge, farbige Frau wächst in jedweder Hinsicht über sich selbst und ihre ganze, von tiefen Gräben durchzogene Nation hinaus und benötigt dazu lediglich eins: ihr goldenes, leuchtendes Herz.
Nur Liebe; für Emily, für Taylor Russell und am allermeisten für diesen beinahe beängstigend perfekten Film.

10/10

J’ACCUSE

Zitat entfällt.

J’Accuse (Intrige) ~ F/I 2019
Directed By: Roman Polanski

Frankreich, 1894. Der jüdischstämmige Hauptmann Albert Dreyfus (Louis Garrel) wird unehrenhaft aus der Armee entlassen und zu einer lebenslangen Exilstrafe auf der Teufelsinsel verurteilt, weil er für die Deutschen spioniert haben soll. Fast zeitgleich findet sich der Offizier Picquart (Jean Dujardin) zum Leiter der militärischen Spionageabwehr befördert. Nach und nach wird der durchaus systemtreue Picquart sich nicht nur der extrem dünkelhaften Arbeitsmethoden des „deuxième bureau“ und seiner Mitarbeiter bewusst, sondern auch der Tatsache, dass Dreyfus zum unschuldigen Opfer eines Komplotts geworden ist. Als Picquart beginnt, in der Sache Nachforschungen anzustellen und den Fall wieder aufrollen zu wollen, schmiedet man auf höchster Ebene und trotz prominenter liberaler Unterstützung auch gegen ihn finstere Ränke.

Mit der Lässigkeit des Altmeisters, der weder sich noch der Welt irgendetwas zu beweisen hat, adaptiert Polanski in seinem 22. Spielfilm den sich mit der authentischen Dreyfus-Affäre befassenden Historienroman von Robert Harris. „J’Accuse“, der ein ebenso eminentes wie bewegendes Thema aufgreift, nämlich den bereits zum fin de siècle eklatant überbordernden Antisemitismus in Europa, scheint Polanski so leicht und behende von der Hand gegangen zu sein wie eine Fingerübung. Nach seinen drei letzten, weniger allgemeintaugliche Sujets verhandelnden Arbeiten, wirkt sein jüngstes Werk so straight, geradeheraus und luzid wie zuletzt vielleicht noch die brillante Dickens-Verfilmung „Oliver Twist“ – für die beiden sich unweigerlich ergänzenden Geschichten um den entehrten Mustersoldaten Dreyfus und seinen „Erlöser“ Picquart wählt Polanski weder Schnörkel noch formale Spielereien, sondern berichtet stattdessen mit der Engelsgeduld des engagierten Chronisten. Gewiss interessiert ihn nicht zuletzt die Ursachenforschung nach der brutalen Schassung Dreyfus‘, die eben zu gewichtigen Anteilen auch auf antisemitische Motive zurückzuführen ist, er hebt sie jedoch nie in den Vordergrund. Vielmehr verweigert sich Polanski der Verlockung zur Spekulation, nimmt eher die Warte des sich zur nüchterner Sachlichkeit verpflichtenden Gerichtsprotokollanten ein und liefert einen wohltemperierten, nichtsdestotrotz von gebührlicher Spannung getragenen Abriss der historischen Tatsachen.
Dass Polanski dabei abermals großes Erzählkino und noch dazu seinen besten Film seit vierzehn Jahren abliefert, ist erfreulich. Dass weiterhin mit ihm, zeitlebens einer meiner Lieblingsregisseure, zu rechnen ist, finde ich aber noch sehr viel erfreulicher.

9/10

THE GIFT

„You just need to keep doing what you are doing.“

The Gift ~ USA 2000
Directed By: Sam Raimi

Die seit einem Jahr verwitwete, dreifache Mutter und Hellseherin Annie Wilson (Cate Blanchett) bildet für einige der einfacher gestrickten Menschen ihres Heimatnests Brixton, Georgia eine stille Institution. Viele vertrauen auf Annies kartenbasierte Weissagungen und Eingebungen, die sich in der Regel als zutreffend erweisen. Anders steht es da mit dem üblen Proleten Donnie Barksdale (Keanu Reeves), dessen ihm hörige Gattin Valerie (Hilary Swank) Annie allenthalben aufsucht, um sich von ihr wohlgemeinte Trennungsratschläge einzuholen, die sie dann am Ende doch nicht befolgt. Als Donnie davon Wind bekommt, bedroht er Annie und ihre Söhne (Lynnsee Provence, Hunter McGilvray, David Brannen) und bezichtigt sie der Hexerei. Dann verschwindet die stadtbekannte Pomeranze Jessica King (Katie Holmes), deren Leiche mit Annies Hilfe in einem Bayou hinter dem Haus der Barksdales gefunden wird. Gegen Donnie wird Mordanklage erhoben. Obgleich er seine Unschuld beteuert, sprechen alle Indizien gegen ihn und er wird verurteilt. Doch Jessicas Geist ruht noch immer nicht in Frieden…

Mit seinem 98er-Neo-Noir „A Simple Plan“ hatte sich der vormals als einschlägiger Genreauteur zu Ruhm gekommene Sam Raimi als differenzierter denn gewohnt zu Werke gehender Filmemacher empfohlen, der seine Fühler auch in andere Regionen auszustrecken vermochte. Der verschneite, kleine Thriller weckte eher Assoziationen an die Arbeiten der Coens, bekanntermaßen ja lange Karriereweggefährten Raimis. In „A Simple Plan“ spielte der gebürtig aus Arkansas stammende Billy Bob Thornton einen etwas minderbegabt wirkenden Hillbilly-Typen; eine Rolle, die gewissermaßen bereits klare Avancen an „The Gift“ vorformuliert. Dessen Scriptidee stammt wiederum von Thornton, der darin Erfahrungen um und mit seine/r Mutter verarbeitet, angeblich selbst eine Wahrsagerin. „The Gift“ taucht tief in das Südstaatenmilieu von Georgia ab, in dessen sumpfnahen Kleinstädten noch stillschweigend die alte Antebellum-Glorie geatmet und gelebt wird. Die Leute haben die jahrhundertealten Feudalstrukturen nie ganz vergessen, kennen ihren ständischen Platz, sind zumeist gottesfürchtige Kirchgänger. Die reichlich vorhandenen, familiären Missstände werden im gutnachbarschaftlichen Sinne totgeschwiegen. Gewiss wäre auch der nicht totzukriegende Rassismus ein sich dringend anbietender Topos, doch den spart „The Gift“ wohlweislich aus – tatsächlich hätten diesbezügliche Diskurse den ohnehin schon gespannten Rahmen gewiss gesprengt. Ohnedies werden bereits mehrere kleine Plotepisoden miteinander verflochten – da wären der traumatisierte Autoschrauber Buddy Cole (Giovanni Ribisi), der den sexuellen Missbrauch durch den eigenen Vater (Erik Cord) nicht verarbeiten kann; der sympathische Vertrauenslehrer Wayne Collins (Greg Kinnear), der sich um Annies verhaltensauffälligen Ältesten bemüht, den der Verlust des Vaters besonders hart trifft und der wiederum mit dem späteren Mordopfer Jessica King verlobt ist. Die sich libertin wähnende Jessica wiederum, deren Verhältnis zu ihrem Vater, dem Stadtreichen und Salonlöwen Kenneth King (Chelcie Ross), ebenfalls nicht ganz koscher erscheint, vögelt alles, was ihr vor die Plinte kommt, darunter den Staatsanwalt David Duncan (Gary Cole) und – Donnie Barksdale. Ein gerütteltes Panoptikum unseligen, mikrokosmischen Filz‘ bietet dieses Brixton somit, für die zarte, unfreiwillig im Zentrum all dessen stehende Annie und auch für den Film vielleicht ein etwas zu umfassend. So scheint die Lösung der meisten Konflikte doch immer nur angedeutet und nie wirklich befriedigend psychologisch ausgearbeitet. „The Gift“ hätte, um sich selbst ordentlich auserzählen zu können, noch eie gute Stunde länger sein mögen – so bleibt allzu viel in unbefriedigend akzentuierten Ansätzen stecken. Ob Raimi seinen Selbstansprüchen damit gerecht werden konnte, bleibt fraglich.
Als kleines Stück southern gothic nebst einer Wagenladung wohlabgehangener Klischees und einigen erstklassigen Darstellerleistungen (Ribisi und Holmes haben mir am besten gefallen) ist „The Gift“ okay, nicht wesentlich mehr. Innerhalb Raimis Gesamtœuvre wäre er qualitativ wohl im unteren Drittel anzusiedeln.
Welches Potenzial wirklich in der Paarung Blanchett/Ribisi steckt, hat uns Tom Tykwer mit „Heaven“ dann zwei Jahre später nochmal treffsicher aufzeigen können.

6/10