PEARL

„I’m a star! Please, help me!“

Pearl ~ USA/CAN 2022
Directed By: Ti West

Texas, 1918. Für die Farmerstochter Pearl (Mia Goth) ist der ländliche Alltag ein veritabler Albtraum. Jung verheiratet, kämpft ihr Mann Howard (Alistair Sewell) an der Front in Europa, die Spanische Grippe hat die welt fest im Griff. Und dann sind da noch ihre Eltern. Pearls Vater (Matthew Sunderland) ist völlig paralysiert und pflegebedürftig, ihre Mutter Ruth (Tandi Wright) schwelgt in einer unablässigen Spießrute aus Ekel, Hass und Verbitterung. Pearl bleiben nurmehr ihre Tagträume, in denen sie als berühmte Tänzerin in den von ihr geliebten Hollywood-Kinofilmen auftritt. Dementsprechend tragen sämtliche Tiere auf der Farm die Namen ihrer Lieblingsstars, allen voran Theda, eine gefräßige Alligatorendame im Teich hinter dem Grundstück. Pearl ist nämlich auch eine Psychopathin, die nicht zulässt, dass ihr jemand ihre Illusionen abspenstig macht und deren unkontrollierbare Gewaltausbrüche bald einen blutigen Strudel entfachen…

Mit dem wunderbaren „Pearl“, seinem bisherigen Meisterwerk, gelingt Ti West das nonchalante Kunststück, der bereits sehr schönen 70s-Slasher-Hommage „X“ ein noch formvollendeteres, im selben Jahr entstandenes Prequel zuzusetzen, diverse zeitgenössisch tiefschlagende Covid-Seitenhiebe inbegriffen. Darin erfährt man einiges über die Hintergründe der im Vorwerk wütenden Seniorin Pearl, in deren Innerem kurz vorm Finale nochmal sämtliche Emotionen und Gelüste gegen das welke Fleisch der Vergänglichkeit rebellieren. Dass Pearl als junge Frau ein frappierend analoges Ebenbild des koksenden, aufstrebenden Pornostarlets Maxine abgab, respektive abgibt, hat man sich in Anbetracht von Mia Goths Doppelrolle bereits denken mögen – der endgültige Beweis dafür folgte dann quasi auf dem Fuße. Der große Benefit von „Pearl“ als zutiefst eigenständiges Werk trotz inhaltlicher Anbindung liegt insbesondere darin, dass er die Bürde, sich als Reminiszenz an ein beliebtes (Sub-)Genre zu verstehen, gänzlich abstreifen kann, bilden doch Zeit- und Milieukolorit in diesem Fall ein weitgehend unbeackertes Feld insbesondere im Horrorfilm. Pearl wirkt eher wie eine Art überreife Dorothy aus „The Wizard Of Oz“ in der 1939er-MGM-Musical- Adaption mit Judy Garland. Ihren ganz persönlichen sense of wonder fabuliert sie sich, gewissermaßen ebenso wie das berühmte Quasi-Vorbild, fahrradfahrend dem allseits frustrierenden Grau ihrer Sackgassenexistenz hinzu. Der gewaltige Orkan aus Kansas bleibt in Texas allerdings aus, zumindest gegenständlich, und ins zauberhafte Land trägt er Pearl erst recht nicht. Dennoch will sie alles, was ihr vorenthalten bleibt, und das so uneingeschränkt wie maßlos: bildschöne Bonbonfarben, ruchlosen Rausch, völlige Freiheit und lasterhafte Lust. Darum bendelt sie zunächst mit einer Vogelscheuche an, mit der sie einen explosiven Orgasmus erlebt und später mit dem sich smart gebenden Kino-Vorführer (David Corenswet) aus der Stadt, der ihr einen frühen Pornofilm zeigt und dann etwas von Europa und Berühmtheit vorfaselt. Als Pearl später mit Pauken und Trompeten bei einem Erfolg versprechenden Tanzwettbewerb durchfällt, den sie zum letzten Ticket aus der inneren und äußeren Einöde wähnt, ist es ohnehin längst zu spät für sie, denn da hat sie bereits drei Morde begangen (oder zumindest drei, von denen wir wissen können). Und auch der vierte lässt nicht lange auf sich warten nach einem der berückendsten Monologe, den das Kino der letzten Jahrzehnte bereithält und derweil ein madenzerfressendes Schwein auf der Veranda darbt als unwiderstehliches Bild für den rapiden Zerfall der letzten paar Fetzen von Pearls psychischer Stabilität. Dann kommt Howard aus dem Krieg zurück und trotz eines geflissentlich bizarren Empfangs daheim ist ja längst evident, dass er Verständnis aufbringen und alles tun wird, um sie zu schützen. Ein unwiderstehlich morbides happy end.

10/10

BONES AND ALL

„Maybe love will set you free.“

Bones And All ~ USA/I 2022
Drected By: Luca Guadagnino

Virginia, um die Mitte der achtziger Jahre. Die Teenagerin Maren (Taylor Russell) lebt mit ihrem Vater (André Holland), der versucht, sie weitestgehend von Gleichaltrigen und der Gesellschaft überhaupt abzuschirmen, in einem kargen Bungalow. Als sich Maren eines Abends zu einer Freundin (Kendle Coffey) schleicht, um an einer Pyjama-Party teilzunehmen, kommt es zu einem befremdlichen Ereignis: Maren beißt einem der Mädchen selbstvergessen in den Finger und isst das Fleisch. Kurz darauf ist ihr Vater, dem Maren das Ganze zuvor beichtet, verschwunden. Außer ihrer Geburtsurkunde, ein wenig Bargeld und einer Cassette mit ausführlichen Erläuterungen ihres Dads darauf hinterlässt er ihr nichts. Maren beginnt eine lange Reise Richtung Minnesota, wo ihre ihr unbekannte Mutter Janelle (Chloë Sevigny) leben soll. Durch das Tape und die Begegnung mit einem kauzigen alten Drifter namens Sully (Mark Rylance) erfährt Maren, wer und was sie ist: Sie gehört zu einer genetisch mutierten Gemeinschaft kannibalistisch lebender Außenseiter, den sich selbst so nennenden „Eaters“, die von Zeit zu Zeit der unbändige Drang überkommt, Menschenfleisch zu verzehren und deren Phänotyp sich von Generation zu Generation weitervererbt. Als Maren während der Eiterfahrt auf den etwa gleichaltrigen Eater Lee (Timothée Chalamet) trifft, bahnt sich zwischen den beiden eine Romanze an, die Maren nach einem verstörenden Treffen mit ihrer psychiatrisch institutionalisierten Mutter jedoch wieder abbricht. Schließlich begreift sie, dass sie und Lee sich brauchen und kehrt zu ihm zurück. Gemeinsam beschließt man, sich eine konventionelle Existenz aufzubauen, doch das Schicksal meint es anders…

Mit „Bones And All“, der Adaption eines romantischen Jugend-Horrorromans von Camille DeAngelis, legt Luca Guadagnino ein elegisches, ebenso behutsam wie gemächlich erzähltes Road Movie vor, das den traditionellerweise eher garstig konnotierten Genretopos Kannibalismus (die Eaters könnten eine Art Nachfahren des mythologischen „Wendigo“-Dämons sein) auch für ein wohlfeil abgestecktes Arthouse-Publikum goutierbar werden lässt. Diese zugegebenermaßen etwas brüske Einordnung ist dabei keineswegs abschätzig gemeint, sondern soll vielmehr unterstreichen, in welche Richtung sich das Horrorkino in den letzten Jahren entwickelt. Filme wie „dieser“Bones And All“ beweisen eindrucksvoll, dass die Gattung sich eine Form der Anerkennung und Mündigkeit erobert hat, die vor einem Vierteljahrhundert in dieser Ausprägung noch undenkbar gewesen wäre; raus aus dem schummrigen Dämmerlicht des stets als etwas schmuddelig verrufenen Effektevents für verschwitzte Convention-Besucher hin zum respektierten Gesellschaftsdiskurs mit Blut und Eingeweiden. Wie James Grays just von mir genossene, überaus wesensverwandte Coming-of-Age-Bestandsaufnahme „Armageddon Time“ blickt auch „Bones And All“ zurück auf die den nordamerikanischen Kontinent ergreifende Verzweiflung der aufziehenden respektive bereits aufgezogenen Ära Reagan und reflektiert anhand dieser die nicht minder akute, zeitgenössischere Ratlosigkeit Trump-Jahre. Die in Anbetracht des sie nachhaltig verunsichernden Realitätsabgleichs in Abgründe starrende Maren und der jüngere New Yorker Paul Graff haben mancherlei gemein: Als Außenseiter einer zunehmend reaktionärer und repressiver agierenden Gesellschaft sehen sie sich, an biographischen Wegscheiden stehend, mit basalen Existenzfragen konfrontiert: Wie viel von mir darf ich überhaupt noch ausleben, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen? Wie viel unbequeme Individualität ist gestattet in einer Welt aus Angst und Hass? Der Kannibalismus als ultimatives Sozialtabu lässt sich da leicht als übergeordnetes Bild interpretieren für alles Mögliche, was der Konservativismus an Zielscheiben ausersieht; seien es Ressentiments gegen bestimmte Ethnien, sexuelle Orientierungen oder andere vermeintliche Unangepasstheiten. Das durchaus konsequente Ende erschien mir dann wie ein versöhnlich umgedeuteter Brückenschlag zu Eckhart Schmidts exakt vierzig Jahre älterem „Der Fan“ (mit dem eine gemeinsame Betrachtung vielleicht ohnehin gar nicht uninteressant wäre): Die komplette Einverleibung des Geliebten als ultimativer Treuebeweis.

9/10

BLACK PANTHER: WAKANDA FOREVER

„Only the most broken people can be great leaders.“

Black Panther: Wakanda Forever ~ USA 2022
Directed By: Ryan Coogler

Ein Jahr nach dem (natürlichen) Tod von König T’Challa führt dessen Mutter Ramonda (Angela Bassett) die monarchischen Regierungsgeschäfte von Wakanda. Das internationale Interesse an dessen exklusiver Ressource, dem Metall Vibranium, lässt derweil nicht nach. Just als die Dora-Milaje-Kriegerin Okoye (Danai Gurira) wieder ein paar umtriebige Spione hochnimmt, entdecken die Amerikaner im Atlantik eine unterseeische Vibranium-Quelle. Die maritime Expedition wird jedoch von unbekannten Wesen komplett aufgerieben. Als Urheber jener Aktion erweist sich Namor (Tenoch Huerta), Oberhaupt der mehrere Jahrhunderte alten, submarinen Zivilisation Talokan, die um jeden Preis unentdeckt bleiben soll. Namor zwingt Ramonda und T’Challas Schwester Shuri (Letitia Wright), ihm die Erfinderin des neuartigen Vibranium-Sensors zu bringen und auszuliefern, eine brillante amerikanische Studentin namens Riri Williams (Dominique Thorne), die nebenbei noch eine neue Iron-Man-Rüstung entwickelt hat. Nachdem Shuri und Okoye sie aufspüren können, gelangen Riri und Shuri in Namors Gewalt, können jedoch von T’Challas vormaliger Geliebter Nakia (Lupia Nyong’o) begreit werden, woraufhin ein Krieg zwischen Wakanda und Talocan entbrennt, der erst beendet werden kann, als Shuri als neuer Black Panther Namor im Duell in die Knie zwingt.

Prinz Namor oder auch der Submariner zählt zu den ältesten Marvel-Figuren. Vor nunmehr ganzen 83 Jahren debütierte er bei Timely Comics als elementarer Gegenpol zum feurigen Androiden Jim Hammond, der ersten „Human Torch“. Während Namor zunächst eher schurkische Züge innehatte – er pflegte einen unbezähmbaren Hass auf die Oberflächenbewohner und drohte unter anderem, Manhattan zu ertränken, zog er gemeinsam mit Hammond und Captain America Steve Rogers im Zuge jugendgerechter Kriegspropaganda gegen die Achsenmächte ins Feld. Mit Ausnahme ein paar spärlicher Auftritte wurde es dann ruhig um den Submariner, bevor er in den frühen Sechzigern Teil von Stan Lees großangelegtem Marvel-Launch wurde und in der Reihe „Fantastic Four“ (in der ja auch T’Challa debütierte) zu einem eminenten Charakter jenes Comic-Universums avancierte. Wiederum blieben Namors Motive wechselhaft und undurchschaubar; mal trieben ihn seine latenten Eroberungsgelüste in den Kampf gegen die anderen Superhelden, mal unterstützte er sie im Kampf gegen noch mächtigere Bedrohungen. Zeitweilig war er sogar ein Avenger. Dass Namor erst so spät Teil des MCU wurde, lässt sich wohl mit dem sich für ein diesbezüglich unbeflissenes Kinopublikum ohnehin bereits gewaltig ausnehmendem Überschwang an Haupt- und Nebenfiguren erklären. Zudem bleiben hinsichtlich seiner späten Einführung einige logi(sti)sche Fransen, so etwa die Fragen, warum er sich nicht bereits in den Konflikt gegen Thanos involvierte, der ja doch eine ungleich größere Bedrohung darstellte als die Vibranium-Gier der verhassten „surface dwellers“.
Nun denn, Namor ist also here to stay und mit ihm gleich noch eine gehörigst umgedichtete origin, die ihn als mutierten Maya-Abkömmling ausweist und zugleich seine mittelamerikanisch anmutende Physiognomie erklärt. Den albernen Nasenschmuck hätte man allerdings auch weglassen dürfen. Gewiss dient „Black Panter: Wakanda Forever“ demzufolge primär zu Namors Initiation – als Requiem auf Chadwick Boseman und Black Panther funktioniert der Film trotz gegenseitiger Beteuerungen seitens Kevin Feige und Konsorten eher bedingt. Auf der ästhetischen Ebene hat Cooglers Sequel indes Reichliches und Kostspieliges zu bieten; insbesondere Shuris Reise nach und durch Talokan gestaltet sich als ein visuelles, psychedelisch betuchtes Fest; die zwei Haupt-Actionsequenzen, in denen Wakandaner und Talokaner aufeinanderprallen und sich bekriegen, erweisen sich als gewohnt rasant und kinetisch inszeniert. Zudem tauchen die meisten Nebenfiguren aus „Black Panther“ abermals auf und das, auch eine Leistung, ohne den bloßen Wiedererkennungseffekt zu bedienen.
Insgesamt ein erfreulicher MCU-Beitrag, der es mit dem Erstling nicht ganz aufnehmen kann, für meinereiner aber immer noch hinreichend Glücksmomente bereithält.

7/10

THE FLORIDA PROJECT

„I can always tell when adults are about to cry.“

The Florida Project ~ USA 2017
Directed By: Sean Baker

Der Sommer hält Einzug in Kissimmee, Florida, was bedeutet, dass jetzt noch mehr Touristenströme in den hiesigen Disney-World-Park pilgern. Für die sechsjährige Moonee (Brooklynn Kimberly Prince), die mit ihrer Mom Halley (Bria Vinaite) im angrenzenden „Magic-Castle“-Motel wohnt, ändert sich dadurch allerdings wenig. Moonees Alltag und der ihrer Freunde Scooty (Christopher Rivera) und Dicky (Aiden Malik) bewegt sich weiter in den gewohnten Bahnen, die daraus bestehen, lustige Abenteuer zu erleben, kleine und große Streiche zu spielen und ihren semierwachsenen Bezugspersonen, die unterhalb des Existenziminimums vegetieren, die Liebe zu erhalten.

Sean Bakers erschütterndes Kindersoziogramm inmitten einer jedweder Vorhersehbarkeit entsagenden Mutter-/Tochter-Geschichte bewegt gerade deshalb zutiefst, weil es von wenigen, notwendigen Ausnahmen abgesehen, seine dediziert infantile Perspektive wahrt und sich der eigentlich naheliegenden, bleiernen Tragik einer allzu analytischen Vivisektion der dazugehörigen Prekariatsexistenz strikt verweigert. Für Moonees noch kurze Jahre ist das Leben nicht schlecht. Die warme Sonne Floridas scheint, sie kann die meiste Zeit des Tages tun und lassen wozu sie Lust hat und die pastellgetünchten Wände des Magic Castle und der anderen umliegenden Motels fassen die bonbonfarbene Scheinrealität in ein äußerlich wohlig anmutendes Alternativamerika. Dass Moonees Mama, im Prinzip selbst noch ein Kind, ihr somit sehr viel mehr große Schwester als Mutter ist und nichts gelernt hat mit der Ausnahme, sich irgendwie durch die nächsten zwölf bis vierundzwanzig Stunden zu lavieren – geschenkt. Es gibt immerhin ständig Fast Food oder Eiscreme, irgendwie erschnorrt, erbettelt, durch Kleinkriminalität oder Prostitution finanziert. Die naheliegenden Sümpfe oder die Zeitzeugen des letzten Börsencrashs in Form leerstehender Immobilien ergeben großartige Abenteuerspielplätze, die die Imagination in wesentlich komplexerer Form anheizen als die benachbarten und doch unerreichbaren Fahrgeschäfte und Touriattraktionen aus Blech und Plastik. Und die müßig scheinenden Sorgen der Erwachsenenwelt? Die werden immerhin semipermeabel abgeschirmt; unter anderem vom Motelmanager Bobby (Willem Dafoe), eigentlich sehr viel mehr Sozialarbeiter als Hausmeister. Irgendwann sind dann jedoch auch Bobbys Ressourcen erschöpft, der Traum von Mutter und Tochter gegen den Rest der Welt ist ausgeträumt und die Flucht nach vorn, nämlich die vor den bösen MitarbeiterInnen vom Jugendamt, wird eine kurze werden. Warum zuvor so viel Merkwürdiges passiert ist; warum etwa Halley anderen gegenüber so oft zwischen Bettelei und Wut changiert, warum Moonee manchmal mit lauter Musik im Kopfhörer in der Wanne sitzen muss, warum Bobby einen komischen, älteren Kauz (Giovanni Rodriguez) vom Motelgelände verjagt, oder warum ihre Mom sich so gnadenlos mit deren bester Freundin Ashley (Mela Murder) verkracht und sie danach nicht mehr mit Ashleys Sohn Scooty spielen darf – das alles wird Moonee vielleicht erst Jahre später verstehen. Bis dahin bleibt ihr die Gnade der vergänglichen Wahrnehmung der frühen Kindheit.

10/10

LA HIJA

Zitat entfällt.

La Hija (Die geheime Tochter) ~ E 2021
Directed By: Manuel Martín Cuenca

Javier (Javier Gutiérrez) und Adela (Patricia López Arnaiz), ein kinderloses Paar, lebt fernab der Stadt in den andalusischen Bergen. Während Adela meist zu Haus bleibt, arbeitet Javier als Betreuer in einem Heim für straffällig gewordene Jugendliche. Dabei hat er auch die junge Irene (Irene Virgüez) kennengelernt, schwanger von dem im Gefängnis einsitzenden Kleinkriminellen Osman (Sofian El Ben). Javier und Adela bieten sich als heimliche Adoptiveltern für Irenes Baby an und fassen dafür einen höchst ominösen Plan: Irene soll sich bis zur Niederkunft in ihrem Haus versteckt halten, das Kind danach aufgeben und sich selbst absetzen, entgolten durch eine „angemessene“ finanzielle Entschädigung. Offiziell würde sie für den entsprechenden Zeitraum als spurlos verschwundene Ausreißerin gelten. Zunächst scheint alles in Javiers und Adelas Sinne zu funktionieren, doch als Osman einige Monate später entlassen wird, nach Irene sucht und Javier den beiden ein Treffen ermöglicht, wendet sich das Blatt: Die werdenden Eltern entschließen sich, ihr Baby zu behalten. Für Adela und Javier jedoch gibt es eine solche Option schön längst nicht mehr…

Schwangere Mütter und die aus multiplen Wahnideen geborene Gier nach der in ihren Körpern heranwachsenden Leibesfrucht beflügeln in schöner Regelmäßigkeit die Phantasie emsiger Genrefilmer. Während daraus in der Vergangenheit oftmals sehr intensive Beiträge entstanden, schickt sich der Spanier Manuel Martín Cuenca an, sein Sujet zumindest bis zu einem gewissen Punkt in vergleichsweise unspektakulärer, im Wortsinne dramatischer Weise zuzuspitzen. Ihn interessieren eher die brisante Dreierkonstellation des in der Hermetik der schroffen Gebirgswelt abgeschieden beherbergten Trios und die aus dieser Situation resultierenden, antizipierbaren Konflikte. Javier und Adela fühlen sich als unfruchtbares, bourgeoises Paar vom Schicksal betrogen und wähnen in Irenes Schwangerschaft einen letzten sich bietenden Ausweg. Die junge Frau betrachten sie, zunächst ingeheim und später zunehmend akut, als reines Mittel zum Zweck, als de facto asozialen outcast, der gewissermaßen naturgesetzmäßig nie im Stande wäre, dem Kind eine auch nur halbwegs adäquate Erziehung angedeihen zu lassen. Vor allem Adela, frustriert und offenbar depressiv infolge ihrer von ihr selbst als versagend wahrgenommenen Rolle, lässt ihren Neid auf Irene immer wieder durchschimmern, derweil in Javier zumindest noch Reste seines einstigen Idealismus als Sozialarbeiter aufblitzen. So weit könnte die Geschichte auch als moralethisch aufgeladener Dardenne-Topos durchgehen, bis Cuenca sich im letzten Erzähldrittel dann doch ganz den Genreformeln ergibt und einen amtlichen, durchaus spannenden Thriller-Showdown vorlegt. Damit straft er zwar eine ganze Menge zuvor entwickelter, diskursiver Ansätze Lügen, wirft im Gegenzug mit Ingredienzien wie einem Stahlnagel, einer Schrotflinte und ausgehungerten Schäferhunden allerdings eine ungeahnte Menge an Fahrt in die Waagschale. Eine dergestaltige dramaturgische Entscheidung wird verständlicherweise nicht jedermann und -frau zusagen, mir indes gefiel’s, zumal in der Kontrastierung der zuvor so gemächlich etablierten Narration.

7/10

ROSETTA

Zitat entfällt.

Rosetta ~ BE/F 1999
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne

Rosetta (Émilie Duquenne) ist 18, arm, unzufrieden und wütend. Mit ihrer Mutter (Anne Yernaux), einer pathologischen Alkoholikerin, wohnt sie in einem Wohnwagen auf dem Campingplatz „Grand Canyon“ nahe Seraing bei Lüttich. Das bisschen Geld, über das die beiden Frauen verfügen, reicht kaum zum Überleben, zudem schämt sich Rosetta grenzenlos für ihre Zugehörigkeit zum Subprekariat. So betritt sie das Campinggelände nie durch den Haupteingang, sondern stets durch ein Loch im Zaun, wo sie, ein Alltagsritual, ihre Laufschuhe gegen versteckte Gummistiefel tauscht. Jeden Gelegenheitsjob verliert Rosetta im Handumdrehen wieder und niemand mag ihr trotz vehementer Nachfragen eine feste Einstellung geben. Als Rosetta den Waffelbäcker Riquet (Fabrizio Rongione) kennenlernt, ergibt sich ganz allmählich ein Perspektivwechsel für die widerborstige junge Frau.

Mehr noch als der Vorgänger „La Promesse“ wagt „Rosetta“ einen unbestechlichen und zudem wiederum gänzlich ungeschönten Blick in den Abgrund von Existenzminima inmitten westeuropäischer Wohlstandsnationen. Rosetta und ihre Mutter gehören zu den Ärmsten der Armen, es langt hinten und vorne nicht. Die dazugehörigen Begleiterscheinungen sind so akut wie alltäglich; Rosettas Mutter säuft und lässt sich für einen Schluck Schnaps auch umweglos sexuell ausbeuten, derweil Rosetta in typischer, kindesbedingter Koabhängigkeit Tag für Tag vergeblich versucht, die zusehends verwahrlosende Frau zur Entwöhnung zu bewegen. Indes wünscht sie selbst sich nichts sehnlicher als ein wenig Struktur, Selbstwertgefühl und Normalität; bloß keine Sozialschmarotzerin sein, sondern die eigene Schicksalsherrin – zumindest ein klein wenig. Doch ohne Schulabschluss oder Ausbildung bleibt kaum Alternative. Als sich der sich ebenfalls mehr schlecht als recht durchs Leben schlagende Riquet anfängt, für sie zu interessieren, antwortet sie nicht nur mit spontaner Ablehnung, sondern denunziert den jungen Mann, der heimlich selbstgebackene Waffeln unter der Hand verkauft, bei dessen Chef (Olivier Gourmet), um selbst den Stand übernehmen zu können. Womit sie nicht rechnet, ist Riquets Hartnäckigkeit. Der ist, bei aller verzweifelten Gegenwehr Rosettas, schließlich sogar zur Stelle, als sie verzweifelt zum Suizid schreiten will.
Just an dieser Stelle entlassen uns die Dardennes wieder ad hoc aus dem Geschehen; die Weitererzählung, wie auch immer sie ausfallen mag, ist allein dem Rezipientenkopf vorbehalten. Und noch ein wenig karger wirkt Rosettas mit denselben formalen Mitteln erzählte Geschichte im Vergleich zu der von Igor in „La Promesse“ – beides Coming-of-Age-Storys vor der grauen Stadtkulisse Seraings (erstere jedoch flankiert durch ein wesentlich greifbareres Narrativ), scheint der sich gegen eindeutig Falsches positionierende Igor zumindest noch die Wahl einer Weggabelung zu erhalten, derweil Rosetta überhaupt keinen Ausweg mehr sieht. Doch gibt es auch einen für sie, den sie allerdings unter größten Überwindungen erst annehmen lernen muss: sie wird geliebt. Und geliebt sein werden kann, zumal, wenn man aus blanker Selbstverständlichkeit gewohnt ist, sich 24/7 im Elend zu suhlen, überaus anstrengend sein.

8/10

SCHLAF

„Kennst du das, wenn du wach bist und der Traum ist noch da?“

Schlaf ~ D 2020
Directed By: Michael Venus

Marlene (Sandra Hüller), Stewardess und alleinerziehende Mutter der Teenagerin Mona (Gro Swantje Kohlhof), leidet unter schweren Albträumen, derer sie mittels akribischer Aufzeichnungen in einer mittlerweile umfangreichen Sammlung von Traumtagebüchern Herrin zu werden versucht. Eines Tages entdeckt sie eine Anzeige des Hotels „Sonnenhügel“ in dem Mittelgebirgsörtchen Stainbach. Marlene reist kurzentschlossen dort hin und verbringt eine Nacht in dem Gasthaus. Kurz darauf erfährt Mona, dass ihre Mutter mit einem katatonischen Stupor in ein nahegelegenes Krankenhaus eingeliefert wurde. Mona will den Grund für Marlenes Zustand in Erfahrung bringen und checkt ebenfalls im Sonnenhügel ein – wegen der nebensaisonalen Flaute und diverser Renovierungsarbeiten als einziger Gast. Schon bald suchen auch sie bizarre Albträume ein, deren höchst reale Wurzeln offenbar in der unrühmlichen Vergangenheit Stainbachs liegen..

Immerhin ist das deutsche Genrekino bemüht, sein Lager um interessante, national und auch international relevante Beiträge zu bereichern; bemühter jedenfalls als noch vor zehn, zwanzig oder gar dreißig Jahren. Dennoch empfand ich „Schlaf“, das Regiedebüt von Michael Venus, keineswegs als durchgängig überzeugend. Venus und sein Coautor Thomas Friedrich wollen allzu viel auf einmal; auf der bloßen Gattungsebene soll ihr Film Unbehagen und Spannung auslösen und zugleich als Vergangenheitsaufbereitung – es geht im Kern um die tiefen Spuren, die polnische Zwangsarbeiterinnen während der NS-Zeit hinterlassen haben und deren Niederschlag im Verhältnis zu gegenwärtigen Reichsbürgergruppierungen – fungieren. Wie ihre einst als Findelkind angenommene Mutter und ihre Großmutter Trude (Agata Buzek) zuvor verfügt auch Mona über eine Art „zweites Gesicht“, das sich via an die Bewusstseinsoberfläche tretenden Träumen manifestiert. Mona findet heraus, dass in Stainbach einst eine Sprengstofffabrik befand, in der Zwangsarbeiterinnen aus Polen beschäftigt wurden. Ihre Mutter Marlene erweist sich als das Resultat einer späteren, außerehelichen Liaison zwischen der ebenfalls abseits des Dorfes hausenden Trude und dem Ortspatriarchen Otto (August Schmölzer), zugleich Bewirtschafter des Sonnenhügel-Hotels. Nachdem Otto Trude ermordet hat, sucht ihr rachsüchtiger Geist nicht nur ihn und seine Mitwisser heim, sondern auch die Traumwelten ihrer überlebenden Leibesfrucht in erster und zweiter Generation. Der Sühnetribut ist jedoch erst zur Gänze gezollt, wenn auch Otto das Zeitliche gesegnet haben wird. Der Weg dorthin ist jedoch gepflastert mit allerlei Mysteriösem, dass Venus/ Friedrich in vorsätzlicher Unübersichtlichkeit verquirlen: Träume werden zu Trips und ein Ortstreffen unter Führer Otto und seinen willfährigen Vasallen verwandelt sich durch einen anarchischen K.O.-Tropfen-Streich seines Sohnes (Max Hubacher) in eine ekstatische, ein wenig an Noés „Climax“ erinnernde Chaosorgie. Überhaupt schimmern Venus‘ Vorbilder nicht selten überdeutlich durch die gekonnt arrangierte Oberfläche seines zwischen Traumhorror und Aufarbeitungsthriller oszillierenden Films, seien es Steiners „Sennentuntschi“ oder AKIZ‘ „Der Nachtmahr“. Für kommende Projekte wünscht man dem zum jetzigen Zeitpunkt gewiss noch vielversprechenden Filmemacher insofern mehr thematische Innovation sowie den Mut zu luziderer Konsequenz, gepaart mit der Absage an die etwas irrational scheinende Verpflichtung, der Historie wie auch immer geartete Rechnung tragen zu müssen.

5/10

HALLOWEEN KILLS

„Evil dies tonight!“

Halloween Kills ~ USA/UK 2021
Directed By: David Gordon Green

Dank der eilends eintreffenden Feuerwehr kann Michael Myers (Nick Castle/James Jude Courtney) seinem Kellergefängnis in Laurie Strodes (Jamie Lee Curtis) brennendem Haus entkommen, derweil Laurie, ihre Tochter Karen (Judy Greer) und ihre Enkelin Allyson (Andi Matichak) auf dem Weg ins Krankenhaus sind. Nachdem Michael sämtliche vor Ort befindlichen Feuerwehrleute massakriert hat, tritt er seinen leichengesäumten Rückweg nach Haddonfield an, wo alte Bekannte, darunter Tommy Doyle (Anthony Michael Hall), Lindsey Wallace (Kyle Richards) und Michaels frühere Krankenschwester Marion (Nancy Stephens) den vierzigsten Jahrestag von Michaels erstem Wiederauftauchen memorieren. Als sie von seinem neuerlichem Amoklauf erfahren, bildet man eilends eine Bürgerwehr, die sich im Krankenhaus zu einem blindwütigen Lynchmob formiert. Diesem fällt der zuvor mit Michael geflohene Psychiatrieinsasse Lance Tovoli (Ross Bacon) zum Opfer, derweil Myers, nachdem er seine Blutspur verlustreich fortsetzt, in sein altes Familienhaus zurückkehrt…

David Gordon Green setzt den mit seiner jüngsten Revitalisierung des „Halloween“-Franchise installierten Wiederbeginn fort und legt damit gleichfalls den Mittelteil seiner als Trilogie konzipierten Sequel-Reihe vor. Diese ignoriert bekanntermaßen sämtliche Fortsetzungen und Reboots, die nach Carpenters 78er-Original entstanden waren und knüpft inhaltlich unmittelbar an den monolithischen Klassiker an. Einige noch schuldige Rückblenden, die sich aus diesem Ansatz ergeben, legt „Halloween Kills“ nun nach; unter anderem erfahren wir, dass auch der damals noch als unangenehmer Bully gezeichnete Lonnie Elam (Robert Longstreet) auf Michael getroffen war, und dass Officer Hawkins (Will Patton) sich unmittelbar vor Michaels Festnahme in jener Nacht eine schwere Blutschuld aufgeladen hat. Das Script müht sich also nach Kräften, sowohl personelle wie inhaltliche Verknüpfungen zu arrangieren als auch verbliebene lose Fäden zu fixieren und legt sein Augenmerk auf ein multiples Ensemble, was wiederum die Gestaltung diverser, voneinander losgelöster Szenarien gestattet. Michael Myers‘ Motivation und Charakterisierung, um die sich frühere Beiträge der Serie immer wieder mehr oder weniger zielführende Gedanken gemacht haben, bleiben indes nebulös; einzig sein Status als mysteriöse, nicht aufzuhaltende Entität des ultimativ Bösen findet sich weiter zementiert, ebenso wie sein verzweifeltes Streben nach der unverzichtbaren, da identitätsspendenden Maske. Der effektaffine Horrorfreund wird in „Halloween Kills“ durch Myers‘ qualitativ wie quantitativ gesteigert-rabiates Vorgehen beschwichtigt, denn so blutrünstig wie hier hat sich „The Shape“ noch durch keines seiner vormaligen Abenteuer gemetzelt. Tatsächlich rahmen gleich zwei opferintensive Massenmorde, wie man sie in solch effektiver Ausprägung von dem eigentlich eher als träge bekannten Myers noch nicht gesehen hat, sein Treiben in diesem elften Derivat ein.
Mit dem mittelteils eingeschobenen, tragisch endenden Lynch-Subplot, der wohl irgendwie nachvollziehbar demonstrieren soll, wie die mit Michaels Rückkehr einhergehende Aura des Bösen die gesamte Kleinstadtbevölkerung von Haddonfield erfasst und zu mittelbaren Handlangern avancieren lässt, verhebt sich Greens Film allerdings tüchtig. Jene Episode – so sie denn überhaupt notwendig ist – hätte man auch deutlich pointierter unterbringen mögen. Ansonsten hält „Halloween Kills“, seinem eindeutigen Repetitierungsstatus gemäß, zumindest das leicht überdurchschnittliche Niveau seines Vorgängers, was ja auch schon mal was ist.

6/10

THE REINCARNATION OF PETER PROUD

„Most people in this world don’t even know who they are – and you wanna know who you were!“

The Reincarnation Of Peter Proud (Die Re-Inkarnation des Peter Proud) ~ USA 1975
Directed By: J. Lee Thompson

Der College-Professor Peter Proud (Michael Sarrazin) wird von bizarren Träumen heimgesucht, in denen er, im Körper eines anderen Mannes (Tony Stephano) steckend, offenbar Jahrzehnte zuvor im Oldtimer durch irgendeine neuenglische Stadt braust, mit verschiedenen Frauen Sex hat und schließlich von einer von ihnen, einer gewisse Marcia (Margot Kidder), während eines nächtlichen Schwimmgangs mit einem Bootsruder erschlagen wird. Da diese Schlaferlebnisse immer intensiver werden, ihn nicht loslassen und Peter sogar beginnt, im Schlaf mit einer fremden Stimme zu sprechen, sucht er sich prfessionelle Unterstützung unter anderem bei dem PSI-Forscher Samuel Goodman (Paul Hecht), der zwar ein offenes Ohr für Peters Nöte hat, ihm jedoch auch keine wirkliche Hilfe ist. Ein Fernsehbericht über Massachusetts liefert schließlich nähere Hinweise: Peter erkennt darin Gebäude aus seinen Träumen wieder. Deren reale Entsprechung findet er nach intensiver Suche vor Ort schließlich in dem Städtchen Massachusetts, das ihm dann auch den unheimlichen Rest offenbart: In Peters Seele hat sich der Geist des vor rund dreißig Jahren von seiner Gattin ermordeten Jeff Curtis eingenistet. Als Peter sowohl dessen Witwe Marcia als auch Curtis‘ Tochter Ann (Jennifer O’Neill) kennenlernt, bahnt sich ein Drama an…

Auf den Spuren von Hitchcock und zugleich ironischerweise den Hitchcocks Motive später wiederum vielfach aufgreifenden De Palma antizipierend wandelt „The Reincarnation Of Peter Proud“, einer der letzten Filme mit phantastischem Überbau des wie gewohnt bunt genreübergreifend arbeitenden J. Lee Thompson. Der um die obsessive Aufdeckung eines Wiedergänger-Mysteriums kreisende „Vertigo“-Topos spiegelt sich darin, variiert und auf nicht unspannende Weise alterniert: Diesmal findet der von seiner Suche zunehmend Besessene nicht die Doppelgänger-Entsprechung einer (durch ein Komplott) zu Tode gekommenen Liebschaft, sondern eine vormals von ihm selbst gelebten Existenz. Da wir uns im Horror-/Thriller-Fach bewegen, spielt auch in Peter Prouds dramatische Geschichte ein ungeklärter und vor allem ungesühnter Mordfall hinein, wenngleich ohne solch geschickte Verschleierungstaktiken wie im großen Vorbild.
Peters Suche nach seinem früheren Ich gestaltet sich zunächst dennoch ebenso assoziativ und zufallsabhängig wie die von Scottie Ferguson nach „seiner“ Madeleine; es erfordert eine Menge investigativer Aufwändungen, darunter eine Reise einmal quer über den Kontinent, vom sonnigen Kalifornien geradewegs in die Heimstatt des ehernen Puritanismus, um Konkretes über das vormals gelebte Leben des Jeff Curtis zu erfahren. Pikant wird es schließlich, als Peter sich in Curtis‘ und damit zumindest im metaphysischen Sinne zugleich in die eigene Tocher verliebt, mit ihr schläft und sie schließlich heiraten will; ein unheiliges, inzestuöses und moralisch unmögliches Band wird geknüpft. Was nicht sein darf, geschieht – und wiederum nicht ohne kosmische Konsequenz. De Palma untersuchte das Ganze nur ein Jahr später mehr oder weniger repetitiv auf ähnliche Weise in seinem – allerdings sehr viel kunstvoller, barocker und komplexer inszenierten – „Obsession“. Freilich schläft das Karma als universeller Rechtssprecher, womit wir nebenbei erneut bei Hitchcock wären, auch in „The Reincarnation Of Peter Proud“ nicht: In seinem Bestreben, den unseligen Geist des zu Lebzeiten promisken Ehebrechers und Erbschleichers Jeff Curtis ein für allemal loszuwerden, sucht Peter sämtliche Orte aus seinen Träumen auf, woraufhin diese ihn dann nicht länger heimsuchen. Als er mit jenem Ansinnen jedoch Curtis‘ verhängnisvolle Schwimmaktion nachstellt, ist die psychisch labile Marcia, die längst geblickt hat, dass der einst von ihr ermordete Jeff sie gewissermaßen in Peters Körper heimsucht und ihn nunmehr für die Blutschande an der gemeinsamen Tochter zu bestrafen trachtet, nicht fern. Der Schicksalskreis schließt sich unvermeidlich und der Rezipient wird hernach mit einem schön abgründigen Finale ins große Sinnieren entlassen.
Dass die Kidder drei Jahre zuvor in De Palmas „Sisters“ gespielt hatte und der Scriptautor Ehrlich sich den Vornamen mit „Homo Faber“-Autor Max Frisch teilt, sind übrigens bloß reine Koinzidenzen.

7/10

VUELVEN

Zitat entfällt.

Vuelven (Tigers Are Not Afraid) ~ MEX 2017
Directed By: Issá López

Die kleine Estrella (Paola Lara) lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter (Viviana Amaya) in einem der Stadtbezirke von Mexico City. Als es eines Vormittags eine der üblichen Schießereien zwischen den rivalisierenden Narcos gibt, endet die Schule früher. Doch Estrellas Mutter ist nicht zu Hause und sie wird auch nie mehr kommen. Die Wohnung bleibt verlassen und das Mädchen ist von nun an auf sich gestellt. Jedoch scheint der Geist von Estrellas toter Mutter sie fortan überallhin zu verfolgen. In vier obdachlos lebenden Jungen, Shine (Juan Ramón López), Tucsi (Hanssel Casillas), Pop (Rodrigo Cortes) und Morro (Nery Arredondo), die ähnliche Schicksale wie Estrella durchleben, findet Estrella zunächst zögerliche Freunde. Für ihre jeweiligen Verluste machen die Kinder die Huascas verantwortlich, ein von mehreren Brüdern geleitetes Menschenhändler-Syndikat, dessen Kopf Caco (Ianis Guerrero) der Schlimmste von ihnen sein soll. Um den mittlerweile ebenfalls gekidnappten Morro zu befreien und sich der Mitgliedschaft in der Jungenbande als würdig zu erweisen, soll Estrella Caco in seinem Haus erschießen – mit dessen eigener Pistole, die Shine ihm ein paar Nächte zuvor mitsamt seinem Handy gestohlen hat. Estrella findet Caco bereits ermordet vor, kann Morro jedoch nebst ein paar anderen Kindern herausholen. Durch die Aktion ziehen die Kinder nunmehr erst Recht die Aufmerksamkeit der Huascas auf sich, denn auf dem gestohlenen Handy findet sich ein Video, das den in der Politik aufstrebenden Chino (Tenoch Huerta) beim Foltermord an einer Frau zeigt – wie sich herausstellt, Estrellas Mutter…

Durch ihre Aufnahme in das Portfolio des US-Horror-Streaming-Anbieters Shudder konnte Issá López mit bescheidenen Mitteln hergestellte Indie-Produktion „Vuleven“ zwar noch nicht die ihr gebührende, globale Aufmerksamkeit erzielen, sich jedoch zumindest einen kleineren Bekanntheitsgrad auch im anglophonen Raum erschließen. Das traurige, höchst sozialrelevante Thema spurlos verschwindender und/oder auf sich selbst gestellter Kinder in Mexiko diente der üblicherweise im bekömmlicheren Komödienfach tätigen López nach eigenem Bekunden dabei als Aufhänger, um auch persönliche Traumata aufarbeiten zu können. Dass etwa ihr Landsmann Guillermo del Toro „Vuelven“ besonders schätzt (dies wird in einem von ihm mit der Regisseurin geführten Podiumsinterview beim TIFF deutlich, das auf der unbedingt empfehlenswerten US-Blu-ray-Veröffentlichung enthalten ist), verwundert dabei kaum – auch in seinen Filmen „El Espinazo Del Diablo“ und „El Laberinto Del Fauna“ ging es um die Konfrontation kindlicher Seelenwelten mit dem überaus realen Horror erwachsener Gewalt und wie sie diese mittels Realitätsfluchten unbewusst zu bewältigen versuchen. Mit der Gewissheit darüber, dass sie ihre Mutter nie wiedersehen und sich fortan niemand aus der Welt der Schutzbefohlenen mehr um sie kümmern wird, nimmt Estrella Kontakt mit dem Übersinnlichen auf; bald ist es nicht nur ihre Mutter, sondern auch die vielen anderen ungesühnten Opfer von Cacos Entführungen und Chinos Perversionen, die sie als Medium anflehen: „Bring ihn zu uns!“ Estrella vertraut auf die Macht von Wünschen und Märchen, ist jedoch am Ende, nachdem zunächst der kleine Morro und schließlich auch Shine zu Opfern der omnipräsenten Gewalt geworden sind, gezwungen, ihr Kindsein und ihre moralische Unschuld für immer aufzugeben und selbst zu einer Hauptakteurin im ewigen Zirkel des Tötens zu werden.
Issá López nutzt als Narrativ für ihr hochdramatisches Stück klugerweise die reine Kinderperspektive und schildert die Ereignisse durch die Augen von Estrella sowie des sensiblen Shine, die mit ihren etwa zehn Lebensjahren noch die Abstraktionsfähigkeit besitzen, das Ungeheuerliche, dem sie ausgeliefert sind, in Form von Mutproben und Abenteuerspielen zu abstrahieren. Doch sie sind und bleiben Kinder und somit der brachialen, erwachsenen Gewalt, die sie ihrer Menschlichkeit entledigt und zu lästigem Ungeziefer degradiert, weitestgehend schutzlos ausgeliefert. López scheut sich nicht, diese Tatsache kompromisslos zu bebildern und erreicht damit trotz Estrellas poetisch visualisierten Übergängen in parallele Wahrnehmungsdimensionen mit Sühne fordernden Geistern und lebendig werdenden Stofftieren einen überaus harten, tragischen Realismus. Es ist schon ungerecht: Wo nur ein Jahr nach der Entstehung von López‘ Coming-of-Age-Manifest die Feuilletons der Welt und sogar die Academy breitgefächert über Alfonso Cuarons gewiss meisterhaften „Roma“ sprachen, wurde und wird ersterer geflissentlich ignoriert. Dabei hätte er zweifellos denselben Aufmerksamkeitsgrad verdient.

9/10