BARBARIAN

„You make a copy of a copy of a copy, you get that.“

Barbarian ~ USA 2022
Directed By: Zack Cregger

Tess Marshall (Georgina Campbell) kommt zu einem Vorstellungsgespräch bei der lokal tätigen Dokumentarfilmerin Catherine James (Kate Nichols) nach Detroit. Vor Ort hat sie zu diesem Zweck ein Vorstadthäuschen auf der Barbary Street inmitten des ansonsten großflächig verlassenen Vororts Brightmoor gemietet. Umso unwohler ist Tess zunächst, als sie feststellt, dass vor ihr bereits ein anderer Mieter das Haus bezogen hat. Der junge Keith Toshko (Bill Skarsgård) erweist sich jedoch als durchaus zuvorkommend und sympathischer als zunächst befürchtet. So arrangiert man sich und es bleibt ungeachtet einer kurzen nächtlichen Störung alles ruhig. Als Catherine Tess am nächsten Tag vor der Nachbarschaft warnt und ein seltsamer Obdachloser (Jaymes Butler) ihr zusätzlich Angst einjagt, entdeckt sie, das unter der kleinen Immobilie gewaltige Kellerschächte nebst überaus sonderbaren Räumlichkeiten ausgebaut wurden…

„Barbarian“ erweist sich nach dem zuvorderst enttäuschend konventionellen „Smile“ wieder als ein Horrorfilm mit Hirn und Herz, der seine Vorbilderpalette beseelt aufgreift, bedient und zugleich variiert. Wie schon Fede Alvarez‘ „Don’t Breathe“ sucht sich auch „Barbarian“ die dem Strukturwandel und den entsprechenden demografischen Veränderungen anheim gefallenen Detroiter Vorstädte als kongenialen Schauplatz aus für einen gallig-sarkastischen Kommentar zur Gesamtlage der Nation. Die desolaten suburbs mit ihren noch gut sichtbaren Spuren dereinst florierender Mittelklasseexistenzen lösen dabei mehr und mehr die noch vor kurzem gewohnheitsmäßig bemühten Hinterwäldlerbrachen der Südstaaten mit ihren Rednecks, Hillbillys und Moonshinern ab und zeigen den postmodernen Zivilisationszerfall als Spiegel urbaner Krisen. Wie einst das (zweifelsohne) große Vorbild „Psycho“ führt uns Regisseur und Autor Zach Cregger dabei zunächst auf eine gleich doppelt chiffrierte, falsche Fährte: Dass der etwas zu sympathisch anmutende Keith ein multipel gestörter Norman Bates sein könnte und Tess „seine“ in regnerischer Nacht in der Einöde ankommende Marion Crane, liegt da doch mehr denn nahe. Tatsächlich ist es jedoch Bill Skarsgård, der unerwartet rasch aus dem Spiel genommen wird und eine zu Beginn noch gänzlich unauslotbare Gefahr, die für den bals losbrechenden Terror sorgen wird. Die Flexion von Konventionen und rezeptorischen Erwartungshaltungen beherrscht Cregger dabei annähernd gut wie ein Jordan Peele, obschon das Monster (Matthew Patrick Davis) im buchstäblichen Wortsinne aus hauseigener Produktion stammt. Die Konfrontation mit der Wahrheit und auch deren nachfolgende Auflösung erweisen sich dabei wiederum als so geschickt wie bissig: Justin Long, der im Prinzip nochmal seine Rolle als irrlichterndes Verrücktenopfer aus „Tusk“ repetiert, symbolisiert als Hollywood-Seriendarsteller AJ Gilbride auf dem selbst angesägten Ast gleich mehrerlei an schieflaufendem humanen US-Müll. Nicht nur, dass er von der #MeToo-Debatte offensichtlich gar nichts mitbekommen hat, ist seine Figur auch noch schindludernden Immobilienspekulationen auf den Leim gegangen und zudem ein misogyner Feigling. Doch selbst er ist nur ein kleines Schwarzlicht im Vergleich zu den inzestuösen Monstrositäten, die die Unterwelt von Brightmoor bereithält.
Auch Danny Steinmanns „The Unseen“ und natürlich Stuart Gordons „Castle Freak“ mitsamt dessen von Lovecraft adaptierter Katakombenmythologie spendeten somit einiges an Quellmaterial für „Barbarian“, der schlussendlich jedoch immer noch hinreichend intelligent, vielschichtig, mitreißend sowie witzig erzählt und inszeniert ist, um seine Eigenständigkeit von grundauf zu wahren.

8/10

THE COMFORT OF STRANGERS

„Good evening. You need help?“

The Comfort Of Strangers (Der Trost von Fremden) ~ USA/I/UK 1990
Directed By: Paul Schrader

Colin (Rupert Everett) und Mary (Natasha Richardson), ein unverheiratetes englisches Paar, reist nach Venedig, um seine im Abflauen begriffene Liebe zu retten. Während sich auch in der sommerlichen Lagunenstadt bei den beiden Routine und Gewohnheit spürbar macht, lernen sie den mysteriösen Robert (Christopher Walken) und seine Frau Caroline (Helen Mirren) kennen, zwei wohlsituierte und zugleich höchst seltsame Menschen. Der einer weinseligen Nacht folgende, verkaterte, halbverschlafene Tag in ihrem großzügig eingerichteten Appartment weckt bei Mary und Colin neue Leidenschaft und sogar Hoffnungen auf eine erfüllte Zukunft, bis ein neuerlicher Besuch bei Robert und Caroline deren wahre Natur offenbart.

Paul Schrader nennt „The Comfort Of Strangers“ in einem Interview in einem zumindest leicht abwertend scheinendem Tonfall „the Italian movie“, was möglicherweise damit zusammenhängen mag, dass er den Film als Auftragsarbeit mit nicht von ihm selbst verfasstem Script (jenes stammt, basierend auf einem Roman von Ian McEwan, von Harold Pinter) inszenierte, das Projekt Schraders ehern gepflegtem Auteur-Selbstverständnis also gewissermaßen widersprach. Dennoch waren außer Regisseur und Autor noch weitere Großmeister an Bord; Dante Spinotti als dp etwa oder Angelo Badalamenti als Komponist, von den vier großartigen HauptdarstellerInnen gar nicht zu reden.
Das in internationaler Wahrnehmung ja stets so romantisch konnotierte Venedig als morbider Schauplatz für Tod und Irrsinn bildet indes kein Kino-Novum, da waren ja schon Nicolas Roegs Daphne-du-Maurier-Verfilmung „Don’t Look Now“, ohnehin ein wesentlicher Vorfahr von „The Comfort Of Strangers“, oder einige Gialli, von denen mir vor allem Lucidis „La Vittima Designata“, Lados „Chi L’Ha Vista Morire?“ und Bidos „Solamente Nero“ im Gedächtnis wabern. Ob man Schraders Film nun im erweiterten Sinne als „global giallo“ bezeichnen möchte, wäre zu beratschlagen; die Conclusio-Elemente um den von sadomasochistischer Triebfeder gespeisten Stalker-Wahnsinn des Paares Robert/Caroline greifen in ihrer Umfänglichkeit ja erst in den letzten Minuten. Zuvor ahnt man nichts oder nur wenig von deren wahren Obsessionen und bewegt sich eher mit Mary und Colin durch ihr Beziehungs-Ab und -Auf, wobei letzteres sich ausgerechnet erst durch Roberts Intervenierung einstellt; der letzte, inbrünstige Koitus vor dem Tode gewissermaßen – ebenfalls eine klare Analogie zu Roeg/ du Maurier. Überhaupt scheint mir die Spiegelung von Rupert Everett – vermutlich der schönste Schauspieler jener Ära – und dem wie eh und je faszinierenden Christopher Walken, der als Robert jeder und jedem, ob sie/er es hören will, oder nicht, seine immergleich geschilderte Selbstanalyse aus Kindheitstagen vorträgt, besonders inspiriert. Licht und Schatten symbolisieren sie; bourgeoise, britische Spießigkeit und adelsgeprägten Wahn; Eros und Thanatos letzten Endes. Dazu passend insbesondere die von praller byzantinischer Gotik gekennzeichnete, von multipler Kunst vollgepfropfte Wohnung Roberts und Carolines als Widerpart zum blassen Touri-Hotelzimmer Colins und Marys, der Badalamenti seine arabisch anmutenden, verführerischen Klänge anheim stellt.
Gleichgültig insofern, ob „The Comfort Of Strangers“ für Schraders Gesamtwerkskorpus nun einen wesentlichen oder eher zu vernachlässigenden Beitrag darstellt – ein ziemlich toller, verschrobener Film ist er allemal.

9/10

LES FAUVES

Zitat entfällt.

Les Fauves (Großstadthölle – Gehetzt und gejagt) ~ F 1984
Directed By: Jean-Louis Daniel

Stuntfahrer Christopher Bergham (Daniel Auteuil), genannt Berg, freut sich auf eine gemeinsame Zukunft mit seiner von ihm schwangeren Partnerin und Geliebten Bela (Gabrielle Lazure). Als unerwartet jedoch Belas psychotischer, ihr in inzestuöser Liebe verfallener Bruder Léandro (Philippe Léotard) auftaucht und damit droht, Berg zu töten, wenn sie nicht mit ihm käme, hat das Glück ein jähes Ende. Bela eröffnet Berg unter Tränen und ohne Angabe von Gründen, dass sie ihn verlassen müsse. Den nachfolgenden, gemeinsamen Todessprung vermasselt Berg mit Absicht, doch nur Bela verbrennt in dem verunglückten Wagen. Drei Jahre später arbeitet Berg, der das Geschehene nie verwunden hat, bei der privaten Pariser Sicherheitsfirma „La Veillance“. Deren Mitarbeiter, durchweg gescheiterte Existenzen mit ominöser Vergangenheit, patroullieren nachts durch die Metropole, um Straftaten zu verhindern. Als der rachsüchtige Léandro, den Berg nie persönlich gesehen hat, diesen ausfindig macht, heuert er ebenfalls bei La Veillance an. Eines Nachts versucht Jeff Garcia (Jean-François Balmer), einer von Bergs anderen Kollegen, die junge Bardame Mimi (Véronique Delbourg), auf die auch Berg ein vorsichtiges Auge geworfen hat, zu vergewaltigen. Auf einen Hinweis Léandros hin stellt Berg Jeff, nachdem sich Mimi losreißen konnte, schießt ihm in die Schulter und rast verwirrt davon. Kurz darauf erscheint Léandro, verpasst Jeff einen Kopfschuss und stellt das Ganze so hin, als habe Berg ihn hingerichtet. Unter der Führung des wutschnaubenden Keller (Farid Chopel) jagt das gesamte Team von La Veillance Berg und Sylvia durch die Pariser Nacht.

Ein buchstäblicher Wahnsinnsfilm, wie er in seiner finalen Ausprägung und Gestalt wohl nur in den frühen Achtzigern in Frankreich entstehen konnte. Das völlig freidrehende Script vereint der Reihe nach folgende motivische Blitzlichter: Autostunts, Inzest per Kindesmissbrauch, Totschlag aus enttäuschter Liebe, Rache, organisierte Bürgerwehr, sleazige Modeschauen, homosexueller Frust, Vergewaltigung, schlechte englischsprachige Rocksongs, Amoklauf, Selbstjustiz, Verfolgungsjagden und ganz allgemeinen Irrwitz. Jean-Louis Daniel inszeniert all das deutlich weniger exploitativ als man annehmen möchte, dafür jedoch mit dem unerschütterlichen Selbstverständnis eines Künstlers, der sich just im Begriff wähnt, der Nachwelt etwas ganz Großes zu verehren. Daniel, einem spärlich arbeitenden, jedoch bis heute aktiver Regisseur mit einem recht schillernden Œuvre, merkt man unweigerlich an, dass er sich wenig um freiheitsbeschränkende Erschwernisse wie dramaturgische Schieflagen oder gar inhaltliche Unzulänglichkeiten scherte; was ihn interessiert, sind sein Ensemble und der bloße Sinn für möglichst prominent inszenierte Einsätze von scheinbar bedeutungslosen Details, Momenten, Schauplätzen. Der Ratio gilt es ergo zu entsagen. Dann erlebt man einen noch jungen Auteuil, der seine völlig stoische Mimik zur oberen schauspielerischen Maxime deklariert und vor allem den wunderbaren Philippe Léotard, der mir in letzter Zeit schon häufig begegnet ist mit seinem seltsam verkniffen wirkenden Antlitz. Über den alles andere als klassisch schönen Darsteller ist auf die Schnelle nicht allzu Umfassendes in Erfahrung zu bringen, außer, dass er keine 61 wurde, aus einer politisch aktiven Familie stammte, wechselnde Beziehungen zu Frauen pflegte und wohl zeitlebens mit Alkohol- und Drogenproblemen zu kämpfen hatte, auch dergestalt, dass er Mitte der Neunziger wegen Kokainhandels verurteilt wurde. Ein faszinierender Typ, für den „Les Fauves“ auch ein kleines Denkmal markiert: Als inzestuös veranlagter Provinzpsycho, dem die Großstadt über den Kopf wächst, schwitzt er trotz winterlichen Szenarios so unentwegt stark, dass die Kameralinse zu beschlagen droht, verdreht allenthalben delirant die Augen, hat die dreckigsten Hände der Welt und spielt unvermittelt das ewigselbe Thema auf einer Querflöte (augenscheinlich eine Reminiszenz an Charles Bronson in Leones „C’Era Una Volta Il West“). Ob er wirklich drauf war, weiß ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen, aber es sieht verdammt danach aus, als habe Daniel ihn einfach machen lassen. Jedenfalls lohnte der komplett durchgeknallte „Les Fauves“ bereits allein seinetwegen. Und noch wegen manch anderem.

7/10

BIRTH

„You’re just a little boy in my bathtub.“

Birth ~ USA/UK/D/F 2004
Directed By: Jonathan Glazer

Zehn Jahre nach dem Tod ihres geliebten Ehemanns Sean ist die Upper-Class-New-Yorkerin Anna (Nicole Kidman) zwar noch immer nicht gänzlich über den Verlust hinweggekommen, immerhin jedoch dazu bereit, eine neue Ehe mit dem sie umgarnenden Joseph (Danny Huston) einzugehen. Just zur Verlobungsfeier taucht wie aus dem Nichts ein kleiner Junge (Cameron Bright) auf, der sich nicht nur als Sean vorstellt, sondern zudem behauptet, Annas Ehemann zu sein und sie kurz darauf schriftlich anweist, Joseph nicht zu heiraten. Die nachhaltig verwirrte Frau reagiert zunächst erwartungsgemäß ungläubig, akzeptiert in den folgenden Tagen jedoch mehr uns mehr die Möglichkeit, dass das in seinen Aussagen und seinem Verhalten unbeirrbare Kind tatsächlich ihr vermeintlich toter Gatte sein könnte…

Witwe für zehn Jahre: was nicht sein darf, kann nicht sein, schon gar nicht, wenn moralisches Räsonnement und Gesellschaftsvertrag jedwede Toleranz verweigern. In „Birth“, Jonathan Glazers zweitem, wiederum sehr stilisiertem Kinofilm, bekommt eine unmögliche Liebe wider aller Aufrichtigkeit klare Grenzen gesetzt und hinterlässt zwei für immer gebrochene Herzen. Der eigentlich omnipräsente Terminus fällt dabei nur einmal im Film, ausgerechnet in Form einer despektierlichen Bemerkung von Nicole Kidmans Filmmutter Eleanor, gespielt von der großen Lauren Bacall: Ob „Mister Reinkarnation der Kuchen schmecke“, will sie wissen und subsummiert damit alles, was Annas zu Recht argwöhnischem Umfeld an der unbequemen Situation missfällt. Der neue Sean ist ein kleiner, zehnjähriger Junge, der die Grundschule besucht, die Pubertät noch vor sich hat und aus einem sehr bürgerlichen Elternhaus kommt. Dennoch kommuniziert und gibt er sich nicht nur wie ein Erwachsener, er weist auch klare Wesenszüge des Vertorbenen auf, dessen Tod Anna nie verwinden konnte. Nur ganz zögerlich hatte sie sich überhaupt vor sich selbst bereiterklärt, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, als alles wieder zerbricht. Schließlich schmiedet Anna gar Pläne, wie sich eine „realistische“ Beziehung mit dem kleinen Jungen gestalten könnte – durchbrennen will sie mit ihm und ihn heiraten, wenn er 21 sei. Doch nicht nur die Vernunft, auch schnöde Fakten torpedieren das unmögliche Himmelsschloss als sich herausstellt, dass der ursprüngliche Sean Anna nicht nur mit der Frau (Anne Heche) seines besten Freundes (Peter Stormare) betrogen hat (wie ein gehöriges Bündel entlarvender Briefe beweist), sondern dass Sean, das Kind, durch einen Zufall in den Besitz der entsprechenden Korrespondenz gelangt ist. Er könnte sich also alles nur ausgedacht und zurechtgelegt haben. Dieses Indiz genügt, um alles wieder in seine gesellschaftlich normativen Bahnen zu lenken. Anna bittet den brüskierten Joseph um Verzeihung, Sean kommt in psychologische Behandlung. Doch nichts wird gut, das Unglück tritt an die Stelle der letzten optionalen, aber eben gänzlich unprobaten Heilungsoption.
Glazer inszeniert diese auf den ersten Blick abjekt anmutende, buchstäbliche Post-Romanze mit allem gebotenen Feingefühl, indem er die Unmöglichkeit ihrer Ausprägung ebenso beleuchtet wie den niederschmetternden, persönlichen Effekt ebenjener Negation. Ein tieftrauriges Wintermärchen nebst einigen galligen Seitenhieben auf die New Yorker Bourgeoisie entstand dabei, dem nach einem Zeitsprung selbst der vermeintliche Wonnemonat mit seiner Hochzeit keine Heilung spenden kann.

8/10

THE DUKE OF BURGUNDY

„Pinastri.“

The Duke Of Burgundy ~ UK/HU 2014
Directed By: Peter Strickland

Another time, another place. Das sich intensiv mit der Schmetterlingsforschung befassende Paar Cynthia (Sidse Babett Knudsen) und Evelyn (Chiara D’Anna) gestaltet sein privates Liebesleben mit nur selten von der Realität durchbrochenen, S/M-Rollenspielen. Einen Sommer hindurch funktioniert das vor allem von der den devoten Part einnehmenden Evelyn forcierte, nach strengen Regeln strukturierte Verhältnis halbwegs, dann beginnt Cynthia mehr und mehr unter Evelyns forderndem Wesen, das sie zu immer neuen Scheinsadismen treibt, zu leiden, bis die Beziehung endgültig zu kippen droht.

Peter Stricklands eigenwillige Filme verneigen sich vor dem oftmals traumlogischen, zwischen Poesie und Surrealismus angesiedelten Genrekino der siebziger Jahre und liebäügelt thematisch, vor allem jedoch in der Form mit Vorbildern wie Franco, Larraz oder Rollin. Dabei vollzog Strickland zumindest bis dato allerdings nie den finalen Schritt hinüber zum rein Phantastischen; Vampirismus zum Beispiel äußert sich bei ihm wenn überhaupt auf eine gänzlich abstrahierte, metaphysische Weise wie in „The Duke Of Burgundy“: Die sich nach Unterwürfigkeit sehnende Evelyn saugt gewissermaßen ihre Geliebte Cynthia, ohne es selbst zu bemerken, emotional leer, da diese ihres unablässig konsequent zu spielenden, dominanten Parts bald müde wird. Strickland lotet dabei das reziproke Verhältnis in dieser paraphilen Beziehung auf so sinnliche wie taktvolle Weise aus – die Rollen verkehren sich allmählich. Evelyn, die es liebt sanft zu leiden, registriert kaum, dass ihre unablässigen, immer harscher werdenden Wünsche die sich insgeheim nach „konservativer“ Zärtlichkeit Cynthia mehr und mehr aushöhlen, bis sie an ihre eigenen Grenzen gelangt. Im Gegensatz zu den genannten Inspiratoren verzichtet Strickland dabei faktisch gänzlich auf exploitative Zurschaustellung; seine insofern unzweideutig zeitgemäß arrangierte Reminiszenz konzentriert sich auf andere Facetten. Ein immens kontemplatives, breites Narrativ zählt ebenso dazu wie exquisit inszenierte production values, die sich vor allem auf die sorgfältig ausgewählten, zeitlos-idyllisch anmutenden Schauplätze in Ungarn, Kostüme, Interieurs und Raumkonstruktionen konzentrieren. Die extrem hermetisch gezeichnete Welt von „The Duke Of Burgundy“ ist dabei zugleich eine der gänzlich subjektiven Wahrnehmung. Ebenso wenig wie etwa Männer in Cynthias und Evelyns Leben eine Rolle spielen, tauchen welche im Film auf. Im Plenum der nicht selten bizarr wirkenden, lepidopterologischen Symposien, die das Paar besucht und teilweise durch fachliche Vorträge mitgestaltet, sind in den hinteren Reihen immer wieder Schaufensterpuppen zu sehen. Wie die titelgebende Schmetterlingsart entpuppen sich die Protagonistinnen in dieser hochästhetisierten Parallelrealität als Vertrerinnen einer ebenso empfindsamen wie gefährdeten Spezies, der im Deutschen Schlüsselblumen-Würfelfalter genannten, deren – etwas größere – Weibchen im Gegensatz zu ihren stumpfsinnig scheinenden, maskulinen Artgenossen auf Territorialität und Revierstreitigkeiten verzichten und eher dem experimentierfreudigen Wanderflug zugeneigt sind.

9/10

ALLÉLUIA

Zitat entfällt.

Alléluia ~ BE/F 2014
Directed By: Fabrice du Welz

Gloria (Lola Dueñas), eine als Leichenwäscherin in der Pathologie arbeitende, alleinerziehende Mutter hat sich an die Einsamkeit gewöhnt. Durch die Intervention einer Freundin (Stéphane Bissot) lernt sie via eine Kontaktbörse Michel (Laurent Lucas) kennen und verliebt sich heftigst in ihn. Obwohl Michel wiederum es gewohnt ist, ältere Damen mittels kleiner Hochstapeleien abzuzocken, was er ebenso bei Gloria versucht, kann er sich wiederum ihren impulsiven Liebesschwüren nicht entziehen. Aus den beiden wird ein Paar, wobei sie fortan Michels betrügerische Aktionen gemeinschaftlich durchführen. Glorias rasende Eifersucht lenkt diese Gaunereien jedoch in eine fatale Richtung. Gloria beginnt, die geneppten Frauen umzubringen, sobald sie Michel mit ihnen schläft. Als die beiden dann zunächst planen, die reiche, attraktive Witwe Solange (Héléna Noguerra), die wie Gloria eine kleine Tochter (Pili Groyne) hat, um die Ecke zu bringen, regt sich erstmals Widerstand bei Michel.

Wie bereits mehrere Filme zuvor widmet sich du Welz‘ Studie einer höchst abjekten Liebesbeziehung dem authentischen Fall des als „Lonely Hearts Killers“ in die Serienmördergeschichte eingegangen Paars Martha Beck und Raymond Fernandez, das zwischen 1947 und 1949 in den USA mutmaßlich bis zu zwanzig Frauen getötet haben soll.
Dabei orientiert sich „Alléluia“ trotz der Transponierung von Handlungszeit und -Ort im Wesentlichen an den realen Gegebenheiten und auch der psychologischen Disposition der Vorbilder, die in einem sonderbaren, symbiotischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander standen und die einmal losgetretene Gewaltspirale sich verselbständigen ließen. Dabei praktiziert du Welz einen interessanten Perspektivwechsel. Zunächst dient die sympathisch anmutende Gloria als Publikumsbegleiterin. Man akzeptiert die einsame, aber liebevolle Mutter der kleinen Monique (Sorenza Mollica) ohne Umschweife als sympathische Protagonistin, derweil Michel zunächst als verschrobener, beinahe unangenehm schmieriger Witwentröster eingeführt wird. Was er Gloria jedoch zu bieten hat, verändert gleichfalls ihre bisherigen Existenzprioritäten: sexuelle Erfüllung, Geborgenheit, Wertschätzung, trotz einer rasch als solchen identifizierten Veruntreuung von Glorias Erspartem. Dass sich jemand wiederum an ihn, den filouhaften Ganoven, klammert, ist auch für Michel eine höchst ungewohnte Situation. Fortan erschleichen sich die beiden gemeinsam das Vertrauen wohlhabender, leicht überreifer Witwen, mit denen Michel allerdings nach wie vor die koitalen Ausschweifungen genießt. Dies wiederum bringt Gloria so dermaßen aus der Fassung, dass sie bald ihr erstes Opfer Marguerite (Édith Le Merdy) erwürgt und hernach gemeinsam mit Michel fachgerecht „entsorgt“. Bei diesem bleibt es freilich nicht, wobei „Alléluia“ sich weniger um die Gewalttaten des Paars schert als um dessen gleichermaßen katstrophalen wie düsterromantischen Werdegang. Dafür spricht auch die bizarre Poesie, die du Welz immer wieder walten lässt – so singt Gloria ihrem Michel ein kleines Liebeslied, bevor sie sich daran macht, die nackte Marguerite zu zersägen und so wird ein glücksbeseelter Kinobesuch von „The African Queen“ zum Symbol einer zu diesem Zeitpunkt längst unmöglich gewordenen Normalität.
Ein vorläufig letztes Mal erreicht Fabrice du Welz mit „Alléluia“ die transgressive Abgründigkeit seines Langfilmdebüts „Calvaire“, bevor er sich im Folgenden einfacher konsumierbaren Stoffen zuwendet.

8/10

UNDER SUSPICION

„Start recording.“

Under Suspicion ~ USA/F 2000
Directed By: Stephen Hopkins

San Juan, Puerto Rico, am Abend des San Sebastián Festivals. Während der reiche Inselprominente und Philanthrop Henry Hearst (Gene Hackman) auf eine Rede bei einer Benefizveranstaltung für Hurricane-Opfer vorbereitet, bittet ihn ein alter Bekannter, Police Captain Victor Benezet (Morgan Freeman), zu einer angeblichen Kurzbefragung aufs hiesige Polizeirevier. Hearst hat tags zuvor in einer Parkanlage die Leiche eines zwölfjährigen Mädchens (Vanessa Shenk) entdeckt – bereits das zweite Mordopfer dieses Alters binnen weniger Tage. Was Hearst nicht ahnen kann: sowohl Benezet als auch sein Adlatus Detective Owens (Thomas Jane) sind aufgrund auffallender Widersprüche in Hearsts Erstaussage der Ansicht, er selbst sei der Hauptverdächtige in beiden Fällen. Und tatsächlich bringt das Verhör Diverses zu Tage, das Hearst immer tiefer in die Angelegenheit verstrickt, ein Eindruck, den ein zusätzliches Interview mit Hearsts Gattin Chantal (Monica Bellucci) nochmals deutlich verschärft….

Wie Claude Millers bereits 1981 entstandener „Garde À Vue“ adaptiert Hopkins‘ Film den Kriminalroman „Brainwash“ des britischen Autors John Wainwright – die Bezeichnung „Remake“ wäre in diesem Fall also strenggenommen unztreffend. Da mir die Vorlage unbekannt ist, vermag ich zur reinen Verfilmungsqualität in beiden Fällen nichts zu äußern – was den Direktvergleich zwischen Millers und Hopkins‘ Variationen anbetrifft indes doch. Der in Paris in der Silversternacht spielende „Garde À Vue“ lebt von einer immensen formalen und psychologischen Strenge, die sowohl sein Regisseur als auch seine formidable Besetzung in konzentrierten Darstellungen widerspiegeln. „Under Suspicion“ begibt sich ganz diametral dazu in das karibische Flair der US-Dependance Puerto Rico, wahrt jedoch eine ähnliche Dichte in Bezug auf Handlungsort und -Zeit. Wie Millers Film kann sich „Under Suspicion“ primär auf seine beiden Antagonisten stützen, namentlich Morgan Freeman und Gene Hackman, die sich hier acht Jahre nach Eastwoods „Unforgiven“ abermals gegenüberstehen, diesmal jedoch unter umgekehrten Voraussetzungen. Als Mann, der Macht, Einfluss und ein gewisses autobiographisches Laisser-faire gewohnt ist, hält Henry Hearst dem durch die Exekutive ausgeübten Druck nicht in der Form stand, wie man es von ihm gewohnt sein könnte. Tatsächlich treffen die Suggestivfragen Benezets ihn völlig unbereitet und positionieren ihn bald in der Sackgasse der Ausweglosigkeit. Eine langwierige Ehekrise, die sich durch fehlende Kommunikation, Verdachtsmomente und Unterstellungen verhärtet hat, tut ihr Übriges. Am Ende stehen drei Individuen, die sich durch ihr stoisches, unreflektiertes Verhalten allesamt selbst in ihr persönliches und soziales Aus manövriert haben; eine Entwicklung, die bei Miller (wiederum fehlt mir der Romaninhalt zur besseren Einordnung) mit dem Verzweiflungssuizid der von Romy Schneider gespielten Ehefrau eine noch weitaus tragischere conclusio einfordert. Ganz so dramatisch mochte man in der US-Version dann doch nicht schließen, wie auch sonst einige Regieentschlüsse fragwürdig erscheinen. So wirkt insbesondere die Marotte, die Polizeiermittler als unmittelbare und aktive Teilnehmer der subjektiven Rückblicke zu inszenieren, eher platt und manieristisch denn funktional und nimmt sich somit eher als defizitäres Merkmal aus. Die Bellucci passt zwar in ihre Rolle, kann einer Romy Schneider aber fraglos nicht das Wasser reichen und auch Thomas Janes Rolle wirkt ungeachtet der eigentlichen Qualitäten des mir stets sympathischen Akteurs merkwürdig vor die Wand gefahren. Grundsätzlich sehenswert bleibt „Under Suspicion“ als Kriminalfilm jedoch allemal, insbesondere durch den ungewöhnlichen Handlungsschauplatz und eben die treffliche Edelpaarung Hackman/Freeman.

7/10

KYNODONTAS

Zitat entfällt.

Kynodontas (Dogtooth) ~ GR 2009
Directed By: Yorgos Lanthimos

Irgendwo in der griechischen Provinz lebt eine Familie, bestehend aus Vater (Christos Stergioglou), Mutter (Michele Valley), einem Sohn (Hristos Passalis), einer älteren (Angeliki Papoulia) sowie einer jüngeren Tochter (Mary Tsoni). Der einzige, der das großzügige Grundstück verlässt, um arbeiten und einzukaufen, ist der Vater. Gemeinsam mit seiner Frau erzieht er die drei bereits erwachsenen Kinder nach einem völlig autarken Konzept, das durch die totale Abkapselung von der gesamten Außenwelt funktioniert. Das Resultat bildet einen pervers-idiosynkratischen, durch Lügenkonstrukte kultivierten, soziologisierten Mikrokosmos, der sich aus einer unablässigen, peniblen Pflege von Ritualen, Fleißpunktevergaben und Märchen speist. So leben die Kinder etwa im festen Glauben daran, dass man jenseits des Gartenzauns nur überlebt, wenn man ein Auto fahren kann. Dies wiederum bedingt das Nachwachsen eines zuvor ausgefallen Eckzahns (eines „Hundezahns“, wie er im wiederum spezifiziert-abgewandelten Sprachuniversum der Familie genannt wird). Auch ihr Weltwissen und die physikalischen Grundkenntnisse setzt sich aus dem zusammen, was die Eltern den Kindern beibringen: Hauskatzen sind die gefährlichsten Tiere und Menschenfresser, Flugzeuge am Himmel nur wenige Zentimeter groß und stürzt eines ab, so findet man es in Spielzeuggröße irgendwo im Garten. Der Medieneinsatz beschränkt sich auf selbstaufgenommene „Quiz-“ und Aufgabencassetten, selbstaufgenommene Videofilme und alte Schallplatten. Die Idee des Vaters, die sexuellen Bedürfnisse des Sohnes entgeltlich mithilfe von Christina (Anna Kalaitzidou), einer Sicherheitsmitarbeiterin seiner Firma zu befriedigen, führt schließlich über Umwege in die Abkapselung der älteren Tochter. Diese gerät über Christina an ein paar Videos und sieht heimlich „Rocky“ und „Jaws“. Der Anfang vom Ende.

Gewiss hat man Yorgos Lanthimos schon seit Jahren als feste Größe auf der cinephilen Weltkarte, doch ging es mir in seinem Fall wie mit vielen anderen bestimmt exzellenten Filmemachern und ihren Werken, die mir noch „fehlen“: Mit wachsender Werkzahl, analog zu den hier und da immer wieder aufblitzenden Vernehmlichkeiten in der Filterbubble, steigt der heimliche Respekt vor ihnen und bilden sich irrationale Ängste vor ihrem Schaffen.
Wenn ich an das griechische Kino denke, fallen mir spontan drei Filme ein: Michael Cacoyannis‘ „Alexis Sorbas“, Nico Mastorakis‘ „Ta Paidia Tou Diavolou“ sowie Niko Nikolaidis‘ „Singapore Sling: O Anthropos Pou Agapise Ena Ptoma“, darunter also zwei auf ihre jeweilige Art immens transgressive Werke. Zumindest „Kynodontas“, mit dem es anzufangen galt, versprach ein ebensolches zu sein. Eine korrekte Vermutung. Dennoch oder gerade deshalb – ein jeder setze sein individuelles Kreuzchen – zählt er gleich nach der (wie so oft verspätet erfolgten) Erstbetrachtung für mich ab sofort zu den innovativsten und mutigsten Filmen der letzten zwei Jahrzehnte.
Lanthimos kreierte für seinen dritten Film eine dystopische, soziologische Versuchsanordnung, bis in winzigste Details bravourös durchdacht und bestenfalls durch kleinere, unlogische Zugeständnisse angekratzt. Das Publikum schubst er ohne Vorwarnung, einerseits mit akribischer Genauigkeit und doch wie von einer dokumentarischen Gleichmut befleißigt, mitten in hinein in das Unglaubliche. In langen Einstellungen und oftmals bewegungslosen Bildrahmungen wechseln sich Groteske, schwarzer Humor und blanker Horror ab, wenn man dem hochpathologischen Alltag der drei weltentlehnten „Kinder“ hinter ihrem Gartenzaun und den entsprechenden Bemühungen des sich als unfassbarerweise immer noch geisteskranker zu werden scheinenden Vater folgt. Dessen motivische Gemengelage offenbart sich nur einmal ganz kurz, als er der „entlassenen“ Christina zur Strafe ihren VHS-Recorder über den Schädel zieht: Er wolle seine Kinder vor den Verderbnissen der Außenwelt beschützen, ihnen die obligatorische „Persönlichkeitsstörung“ (offenbar spricht er da aus eigener Erfahrung) ersparen. Der Rest ergibt sich dann durch die einmal (mittelbar ausgerechnet durch Filmklassiker) ausgelöste Dynamik des familiären Zusammenbruchs – oder wahlweise des unheimlichen „coming of age“ der ältesten Tochter, die, zusätzlich zu allen anderen lebenslangen Entbehrungen auch noch zum inzestuösen Vergewaltigungsopfer degradiert, endlich zum verzweifelten Aufbegehren schreitet. Den kathartischen Epilog überlässt Lanthimos dann seinem geradezu als aufreizend mündig deklarierten Rezipienten. Dafür kann man nurmehr „Danke“ sagen, wie für diesen ganzen, wunderbaren Film.

9/10

CAMPFIRE TALES

„You’re so immature.“

Campfire Tales ~ USA 1997
Directed By: Matt Cooper/Martin Kunert/David Semel

Auf dem nächtlichen Rückweg von einem Konzert haben Cliff (Jay R. Ferguson), Eric (Christopher Masterson), Lauren (Christine Taylor) und Alex (Kim Murphy), die vier jungen Insassen eines PKW, einen Unfall infolge von Cliffs verantwortungslosem Fahrverhalten. Da der Wagen nicht mehr verkehrstüchtig ist und um die Zeit bis zum Morgen zu überbrücken, entzündet das Quartett ein kleines Lagerfeuer abseits des Highway und erzählt sich gegenseitig Gruselgeschichten:
1.) Zwei Flitterwöchner (Ron Livingston, Jennifer MacDonald) landen mit ihrem Camper in der tiefsten Provinz. Obwohl sie von einem mysteriösen Fremden (Hawthorne James) gewarnt werden, verlassen sie das Areal nicht – ein tödlicher Fehler. 2.) Am Vorabend ihres Geburtstags ist die zwölfjährige Amanda (Alex McKenna) allein im Haus der Familie, als sie mit Entsetzen feststellen muss, dass ihre vermeintliche Internet-Chatroom-Freundin Jessica in Wahrheit ein geistesgestörter Psychopath (Jonathan Fuller) mit ganz besonderen Vorlieben ist. 3.) Der Motorrad-Aussteiger Scott (Glenn Quinn) entdeckt ein abgelegenes Landhaus, in dem er die folgende Nacht bei der seltsamen, stummen Heather (Jacinda Barrett) verbringt. Als bald darauf auch Heathers Vater (Denny Arnold) auftaucht, wird Scott Zeuge eines uralten Fluchs.

Diesen charmanten Episoden-Horror (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen 91er-Titel von William Cooke und Paul Talbot), der anno 1997 mit seinen im Stil urbaner Legenden erzählten Kurzgeschichten eigentlich fernab der vorherrschenden Genretrends seiner Zeit lag, hatte ich seit VHS-Zeiten nicht mehr gesehen, erinnerte mich jedoch, dass er mir schon damals recht gut zu gefallen wusste (für Grusel-Omnibusse habe ich seit jeher ohnehin ein spezielles Faible). Dieser Eindruck bestätigte sich unlängst, mit kleineren Einschränkungen, die den wenigen, glücklicherweise nur selten okkurrierenden Unzulänglichkeiten von Script und Regie geschuldet sind. Über die Eleganz klassischer Kinobeiträge oder auch die visuelle Deftigkeit jüngerer Werke wie „Tales From The Darkside“ oder „Necronomicon“ verfügt der von drei Regisseuren co-inszenierte „Campfire Tales“ nicht, dafür jedoch über eine Reihe schöner Einfälle, anhand derer sich die persönliche Liebe der Kreativköpfe zur Gattung sehr schön ablesen lässt. Schon das vom Restfilm losgelöste, kurze Eingangssegment, im Grunde nicht mehr als ein schwarzweißes Bonmot vor Fifties-Kulisse, in dem zwei Turteltäubchen (James Marsden, Amy Smart), die nachhaltig wirkende Bekanntschaft eines Hakenhand-Killers machen, spricht dafür, ebenso wie die zu einer ebenso unerwartbaren wie tollen conclusio geführte Rahmenhandlung (mitsamt Ambrose-Bierce-Verweis) die ja ohnehin stets ein, wenn nicht gar das Sahnehäubchen auf Episoden-Filmen sein sollte. Die drei auf der Metaebene erzählten Segmente besitzen derweil keine durchgängig gehobene Qualität: Die erste Story „The Honeymoon“ kolportiert eine teilweise ungelenk dargebrachte, erklärungsscheue Erzählung um für den Zuschauer unsichtbar bleibende, möglicherweise übernatürliche Killer (offenbar einer Kannibalensippe) und mag keine rechte Spannung erzeugen. Sehr viel interessanter ist Episode 2 („People Can Lick Too“), eine ziemlich freche, schwarzhumorige Geschichte um einen pädophilen Internet-Predator, der gern die Hunde kleiner Mädchen abmurkst, sich unter deren Betten versteckt um ihnen die Finger abzuschlecken, eine nicht zuletzt in Anbetracht der Generation „TikTok“ offenbar zeitlose didaktische Parabel und mein privates Highlight. Im letzten Segment „The Locket“ gibt es dann noch eine sehr klassisch konnotierte Romanze um ein verfluchtes Geistermädchen, das seit hundert Jahren nach Erlösung strebt – hübsch und adrett, aber nicht ganz von der bitterbösen Güte der Vorgänger-Story. Summa summarum ergibt das für Gernhaber von Omnibus-Horrorfilmen eine noch immer lohnens- und sehenswerte Angelegenheit, die sich durchaus aus der Mottenkiste des Vergessens zu bergen lohnt.

7/10

UNA FARFALLA CON LE ALI INSANGUINATE

Zitat entfällt.

Una Farfalla Con Le Ali Insanguinate (Das Messer) ~ I 1971
Directed By: Duccio Tessari

Im Stadtpark von Bergamo wird die junge Studentin Françoise Pigaut (Carole André) ermordet. Sämtliche Beweise deuten felsenfest auf den vormals unbescholtenen TV-Journalisten Alessandro Marchi (Giancarlo Sbragia) hin, der Fall scheint eindeutig. Doch kurz nach dessen lebenslänglicher Aburteilung und Inhaftierung geschehen zwei weitere Morde nach exakt demselben Schema. Offenbar handelt es sich um einen Serientäter. Der Fall wird von Marchis Anwalt Cordaro (Günther Stoll) neu aufgerollt, um entlastende Indizien ergänzt und Marchi freigesprochen. Doch ist Marchi wirklich unschuldig? Und wie passt der junge, exzentrische Pianist Giorgio (Helmut Berger) ins Bild, der mit Marchis Tochter Sarah (Wendy D’Olive) liiert ist, die ihrerseits wiederum mit Françoise befreundet war?

„Una Farfalla Con Le Ali Insanguinate“ sollte ursprünglich in der Wallace-Reihe der Rialto veröffentlicht werden, musste dann am Ende jedoch auf die Schirmherrschaft der deutschen Produktionsbeteiligung verzichten. Zumindest erklärt jenes ursprüngliche Vorhaben die Beteiligung der deutschen Akteure Berger, Stoll und Wolfgang Preiss, der sich als Staatsanwalt die Ehre gibt. Den anderen zeitnah entstandenen, co-italienisch hergestellten Beiträgen zur Wallace-Serie wie „L’Uccide Dalle Piume Di Cristallo“Sette Orchidee Macchiate Di Rosso“ und „Cosa Avette Fatto A Solange?“ steht Tessaris ebenso wie jene dem Giallo anverwandter Kriminalfilm nicht nach – seine sich sonst vergleichsweise selten dem Thriller-Segment widmende Inszenierungskunst präsentiert sich als so mitreißend, vereinnahmend und vital, wie es der Gattung gemeinhin zukommt. Gewiss erfordert die nebst minutiös durchgespielter Gerichtsverhandlung und Polizeiarbeit dargestellte Aufbereitung des Falles nebst seiner zunächst kaum erahnbaren Auflösung und den psychologisch nicht immer gänzlich stimmigen Portraits der Beteiligten die übliche kognitive Nachsicht des Publikums; ebenso bestimmend lässt sich jedoch konstatieren, dass davon noch keiner der wirklich guten Italokrimis dieser Ära irreparabel beschädigt worden wäre.
Erfreulicherweise lässt Tessari sich im Zuge seiner konzentrierten Arbeit weder dazu hinreißen, seine Inzenierung der übermäßigen Grelle zu überantworten noch sonstwie exploitativ zu Werke zu gehen. Diese Entscheidung belässt dem Film einiges an sich positiv ausnehmender Seriosität. „Una Farfalla“ (wer nebenbei mit der Titelbezeichnung des „Schmetterlings mit blutigen Flügeln“ gemeint sein soll, darf der Zuschauer am Ende selbst entscheiden) bleibt ruhig, bei sich und besonnen. Es gibt drei unspektakuläre Mordopfer und später noch einen ebenfalls visuell gemäßigten, finalen Gewaltakt; die beunruhigendsten Momente gehören vielmehr Giancarlo Sbargia, der sich vom zunächst unscheinbaren bis zurückhaltenden, sogar sympathisch anmutenden Fernsehmacher, dem man seine Unschuld geradezu instinktiv einräumt, im weiteren Verlauf immer mehr das Bild des veritablen maniaco sessuale vervollständigt, der infolge all seiner moralischen Verworfenheit wohl tatsächlich einer höher insinuierten Form der Rechtsprechung bedarf…

8/10