ARMAGEDDON TIME

„I want you to be better than me.“

Armageddon Time (Zeiten des Umbruchs) ~ USA/BRA 2022
Directed By: James Gray

Queens, New York im Herbst 1980. Der Teenager Paul Graff (Banks Repeta) ist ein Träumer, ganz zum Unwohlsein seiner Familie, die den mit Vorliebe Superhelden zeichnenden Jungen als „etwas langsam“ etikettiert. Einzig Pauls Großvater Aaron (Anthony Hopkins), der noch höchstselbst den sich sukzessiv steigernden Antisemitismus in der Alten Welt miterlebt hat, gelingt es, zu dem eigensinnigen Paul durchzudringen und ihm die eine oder andere Lebensweisheit mit auf den Weg zu geben. Die Zeiten sind demzufolge nicht einfach für Paul. Die Freundschaft zu seinem noch wesentlich ausgegrenzteren, afroamerikanischen Klassenkameraden Johnny (Jaylin Webb), der dem ihm unentwegt entgegenbrandenden Rassismus mit offener Rebellion begegnet, sorgt für mancherlei Ärger und führt schließlich dazu, dass Paul dieselbe elitäre Privatschule besuchen muss wie sein Bruder Ted (Ryan Sell), eine Brutstätte für weiße Oberklassenrepublikaner, die den just zum 40. US-Präsidenten gewählten Ronald Reagan als neuen Heilsbringer erachten. Dennoch bricht Pauls Freundschaft zu Johnny nicht wirklich ab; der verzweifelte Versuch, aus ihrer beider Trostlosigkeit auszubrechen, scheitert jedoch.

James Grays Filme sind, beginnend mit seinem 1994er Debüt „Little Odessa“, allesamt wunderbar und folgen einem ungebrochen gepflegten Autorenethos, der seiner zumindest in thematischer Hinsicht durchaus heterogenen Arbeit noch keinen Qualitätseinbruch beschert hat. Auch in seiner achten Langfilmregie kultiviert Gray, New-York-Chronist und ausgewiesener Melancholiker, aufs Neue seinen für ihn längst typischen, oftmals schwermütig anmutenden Hang zur Langsamkeit, die ihre Dramatik aus unspektakulär anmutenden Alltagsgeschehnissen bezieht. Jene halten für einen Jungen an der Schwelle zur Pubertät eine Vielzahl biographischer Zäsuren bereit. Gray bemüht dazu vor herbstlichen Sepiabildern diverse autobiographische Details und Anekdoten, die „Armageddon Time“ zu einem seiner bislang persönlichsten Filme machen. Viel passiert in diesem New Yorker November 1980: Paul registriert zunächst hilflos, dass er seinen Eltern (Anne Hathaway, Jeremy Strong) de facto mehr Kummer als Stolz bereitet – sein Freund Johnny bringt ihn parallel dazu pausenlos auf dumme Gedanken. Renitentes Verhalten gegenüber dem überforderten Klassenlehrer (Andrew Polk), eine Tour auf eigene Faust durch Manhattan, schließlich ein Joint auf dem Schulklo. Genug, um den Vater zur Verabreichung einer gehörigen Tracht Prügel zu veranlassen, den Besuch der öffentlichen Bildungsanstalt dringlichst abzuwürgen und Paul stattdessen auf die „Forest Manor“ zu schicken, eine von Fred C. Trump (John Diehl) beschirmherrte Privatschule mit entsprechender Klientel. Sowohl Trump (Donalds Vater) als auch seine Tochter Maryanne (Jessica Chastain) lassen es sich nicht nehmen, die Schülerschaft allenthalben durch ideologisch verbrämte Ansprachen „auf Kurs“ zu bringen, analog zu Reagans sich abzeichnendem Wahlsieg. Ethnische Minderheiten gelten an der Forest Manor wenig bis nichts; Paul fühlt sich unwohl, verspürt zugleich aber dennoch die Notwendigkeit, dazu gehören zu müssen. Als sein geliebter Großvater Aaron an Konchenkrebs stirbt, erschüttert dies die gesamte Familie derart bis in die Grundfesten, als sei ihr Rückgrat gebrochen. Doch aus der geplanten Flucht nach vorn, einem Ausriss mit Johnny Richtung Florida, wird nichts. Paul verliert den Freund und muss sich den Unebenheiten und Ungerechtigkeiten des Erwachsenwerdends fügen.
Seinen Titel verdankt „Armageddon Time“ zweierlei: zum einen dem inflationären Gebrauch des Terminus durch Reagan, der seinerzeit mit den dräuenden Ängsten vorm atomaren Weltende jonglierte wie ein Schimpanse mit Bananen, zum anderen der B-Seite der Clash-Single „London Calling“, einer wunderbar dub-infizierten Coverversion des Willie-Williams-Songs „Armagideon Time“. Entsprechend leitmotivisch verfolgt der Track Paul und den Film vom Anfang bis zum Ende.

8/10

SAMARITAN

„Things start to fall apart when you stop caring, and I stopped caring a long time ago.“

Samaritan ~ USA 2022
Directed By: Julius Avery

Granite City: Vor vielen Jahren verschwanden die beiden sich bekämpfenden Superwesen Samaritan und Nemesis, zwei für das Gute respektive das Böse einstehende Zwillingsbrüder, nach einer gewaltigen Kraftwerksexplosion. In der Gegenwart wird der dreizehnjährige Sam (Javon ‚Wanna‘ Walton) auf seinen betagten Nachbarn, den als Müllmann arbeitenden Joe Smith (Sylvester Stallone), aufmerksam. Eines Tages knöpft sich dieser ein paar Schläger vor, die es auf Sam abgesehen haben und prügelt sie windelweich. Für den Jungen steht fest: Joe muss der verschollene Samaritan sein. Während der Gangsterboss Cyrus (Pilou Asbæk), ein glühender Verehrer von Nemesis, versucht, Sam unter seine Fittiche zu nehmen, bemüht sich dieser, dem grummeligen Joe die Wahrheit über seine Identität zu entlocken. Als Cyrus sich schließlich anschickt, Granite City in Chaos und Anarchie zu ersäufen, tritt Joe aus den Schatten…

Samaritan und Nemesis, das sind nicht zuletzt auch zwei längst existente, jedoch völlig voneinander unabhängig kreierte Comic-Schöpfungen. Ersterer bildet das „Superman“-Pendant in Kurt Busieks glücklicherweise nicht tot zu kriegender, wunderhübscher Image-Superheldenparaphrase „Astro City“; den Namen Nemesis trugen indes seit Jahrzehnten bereits viele Figuren. Die zum vorliegenden Film passendste Maßgabe wäre wohl ein komplett weißgewandeter Anarcho-Superschurke, den Mark Millar vier Ausgaben lang in einer 2010er-Miniserie für das Marvel-Imprint-Label Icon wüten (und sterben) ließ.
Da beide Bezeichnungen hinlänglich gebräuchliche Termini bilden, musste hier wohl kein Rechtsstreit vermutet werden, denn die Film-Samaritan und -Nemesis haben mit ihren graphischen Namensvettern bestenfalls ganz wenig zu tun.
Als VoD bei Amazon gestartet, hängt sich „Samaritan“ eher an die Gattung der kleinen, vorlagenfreien Bypass-Superhelden-Filme, die seit dem großen Marvel-Launch immer wieder kurz aufblitzen. Gedacht dürfte das Ganze primär gewiss als ein weiteres Vorzeigealterswerk für seinen Hauptdarsteller sein, der seine vielfach erprobte und nachgewiesene Schlagfertigkeit jetzt durch Superkräfte ergänzt und sich in diesem Zuge gleich noch viele kleine Reminszenzen an die eigene Ikonographie und vor allem das eigene Œuvre gestattet. Sein Titelcharakter, der urban anonymous Joe Smith, der berufs- und hobbymäßig Mülltonnen leert und, gewissermaßen als Traumabewältigung, gern weggeworfene, kleine elektronische und mechanische Dinge repariert, könnte freilich ein enger Verwandter von Rocky Balboa sein; Habitus und Gestus jedenfalls ähneln sich auffallend. Geht es in Aktion, lugen derweil eher die Großreinemacher vergangener Tage hervor, was im Finale sogar in einer hübschen Hommage an „Cobra“ gipfelt. Dazwischen müht sich „Samaritan“ redlich (obschon nicht immer wirklich erfolgreich), althergebrachte, überkommene Schwarzweiß-Schemata zu relativieren und dieser Botschaft mit der jungen Hauptfigur des Sam Cleary (von Javon Walton glücklicherweise glänzend dargeboten) gleich noch einen didaktischen Überbau zu verleihen. Im Grunde passt auch dieses Bestreben sich recht genuin Stallones ewiger Eigenkultivierung an.
In der Summe ergibt all das einen erwartungsgemäß wenig innovativen, dafür aber umso liebenswerteren Spätbeitrag zum stolzen Schaffen seines Stars, einem, der das Strahlen par tout nicht verlernen mag.

7/10

THE BLACK PHONE

„I almost let you go.“

The Black Phone ~ USA 2021
Directed By: Scott Derrickson

North Denver, Colorado, 1978. Der Jugendliche Finney Shaw (Mason Thames) leidet unter den Attacken diverser Bullys an seiner Schule. Zudem kanalisieren sich die Depressionen seines alleinerziehenden Vaters (Jeremy Davies) in Form von Gewaltausbrüchen, die er und seine jüngere Schwester Gwen (Madeleine McGraw) zu erdulden haben. Mit dem wehrhaften Robin (Miguel Cazarez Mora) gewinnt Finney immerhin einen schlagkräftigen Freund, doch auch dieser Lichtblick schwindet bald wieder – Robin wird Opfer des „Grabber“ (Ethan Hawke), eines als Zauberer verkleideten Kidnappers, der in der Gegend Jungen im Teenager-Alter verschleppt und spurlos verschwinden lässt. Eines Tages gerät auch Finney in die Fänge des Verbrechers und erfährt nach und nach die schreckliche Wahrheit über den ihm ausschließlich maskiert gegenübertretenden Psychopathen, der vor Finney bereits fünf Kids in seinem Keller gefangen gehalten und ermordet hat. Über ein in jenem Verlies befindliches, anschlussloses Telefon erhält Finney bald darauf Anrufe seiner „Vorgänger“, die ihm aus einer Art Zwischendimension heraus dabei helfen wollen, dem Grabber zu entkommen…

Mit „The Black Phone“, einer weiteren Blumhouse-Produktion, wildert nun auch Scott Derrickson im offenbar noch lange nicht versiegten Reservoir der immer zahlloser werdenden Retro-Genre-Produktionen, die sich so überaus darin gefallen, die siebziger und achtziger Jahre als periodische Kulisse für ihre mehr oder minder innovativen Storys zu nutzen. Dieses Vorgehen gelingt analog dazu, zumal in Anbetracht seines inflationären Einsatzes, in wechselnd ansprechender Form, wobei das reanimierte Zeitkolorit zusehends selten wirklich zweckmäßig erscheint. Immerhin liefert selbiges einen beständigen Vorwand, ein paar knackige Rocksongs der Ära auf die Tonspur zu zaubern.
Derrickson, der in Bezug auf die Qualität seiner Filme ein bis dato relativ heterogenes Werk aufweist und binnen relativ kurzer Zeit sowohl Ordentliches („Sinister“) als auch harsch Enttäuschendes („Deliver Us From Evil“) vorlegte, begibt sich mit „The Black Phone“ schnurstracks in den mediokren Sektor jener Welle. Zwischen altbekannten Versatzstücken, vom Telefon als Kommunikationsmittel ins Jenseits über den Kidnappingplot und die übersinnlich begabte Schwester bis hin zum identitätsgestörten Serienmörder, der sein gewalttätiges alter ego vornehmlich über das Tragen einer Maske definiert, befleißigt sich Derrickson recht hausbackener Elemente, um sein jüngstes Gattungsstück an Frau und Mann zu bringen. Zwar gelingt es ihm vereinzelt, durchaus schöne Momente zu schaffen (so verändert sich der spirituelle Zustand der vormaligen Opfer-Geister jeweils rückwirkend zur zeitlichen Distanz ihres Todestags) und sein Publikum trotz des eher kurzfilmtauglichen Narrativs behende am Ball zu halten, das stets zuverlässige Auffangnetz der Konventionalität verlässt er de facto jedoch zu keiner Sekunde.
So bleibt „The Black Phone“ mit dem Abstand von ein paar Tagen als passabler, wenngleich wenig aufregender Mosaikstein seiner Alltagsprovenienz im Gedächtnis, der als modernisierte „Hänsel-&-Gretel“-Variation mit seinen rar gesäten Ausreißern nach oben kaum wirklich protzen kann.

6/10

MAIS NE NOUS DÉLIVREZ PAS DU MAL

Zitat entfällt.

Mais Ne Nous Délivrez Pas Du Mal (Und erlöse uns nicht von dem Bösen) ~ F 1971
Directed By: Joël Séria

Die beiden besten Teenager-Freundinnen Anne (Jeanne Goupil) und Lore (Catherine Wagener) haben längst den festen Entschluss gefasst, samt und sonders alles, das sowohl ihre streng katholische Erziehung in einem Nonneninternat als auch ihre bourgeoisen Elternhäuser für unverzichtbare moralische Wegweiser auf dem Pfad zum Erwachsenwerden halten, abgrundtief zu verachten und rundheraus ins Gegenteil zu verkehren. Vor allem die beziehungsdominante Anne heckt einen boshaften Streich nach dem anderen aus, wobei sich deren Tragweite und Folgenreichtum immer weiter verschärfen, bis es während der Sommerferien, die Anne mit Ausnahme des Gesindes allein auf dem elterlichen Château verbringt, zur Katastrophe kommt. Doch selbst damit sind die Mädchen noch nicht am Gipfel angelangt…

Joël Sérias kleiner, unabhängig produzierter Film, der sich, wie Jahre später Peter Jacksons „Heavenly Creatures“, zumindest in Grundzügen an dem berühmten neuseeländischen Parker-Hume-Mordfall von 1954 orientiert, entwickelte sich im zeitgenössischen Frankreich zu einem mittelschweren Scandalon. Dem noch in den Nachwehen der Studentenunruhen liegenden Land kam jene Geschichte, in der zwei Mädchen im mittleren Teenageralter in einer Mischung aus existenzieller Orientierungslosigkeit und postinfantiler Anarchie völlig amoralische Verhaltensweisen entwickeln, dem Katechismus abschwören, sich Satan zuwenden und zunehmend boshaftere Aktionen bis hin zum öffentlichkeitswirksamen Doppelsuizid vollziehen, alles andere als zupass. Umso umwegsamer die Veröffentlichungsgeschichte dieses erst relativ spät wiederentdeckten, filmischen Beelzebubs, der als im Prinzip todtraurige Coming-of-Age-Story natürlich sehr viel einfühlsamer und poetischer daherkommt, als alle hochherrschaftlichen Verschwörer es dereinst glauben machen wollten. „Mais Ne Nous Délivrez Pas Du Mal“ setzt zwar ganz auf die Ich-Erzählperspektive der zutiefst verstörten Anne, eignet sich jedoch zu keiner Sekunde ihre persönliche Agenda an. Vielmehr ergeht sich Séria, der mit der Hauptdarstellerin Jeanne Goupil seine zukünftige Ehefrau kennenlernte, in einem weitestgehend unkommentierten Abriss eines fatalen Sommers, in dem die fehlgeleitete Anne sich selbst überlassen ist und dabei endgültig zur Missetäterin wird. Sie und die ihr auf dem Fuße folgende Lore bestimmen Rimbaud und Lautréamont, innerhalb ihres sozialen Mikrokosmos zutiefst verpönte Literaten, zu ihren maßstäblichen Ethiklieferanten; nutzen ihre sexuelle Wirkung ungerührt auf deutliche ältere, zumeist weit im kognitiven Abseits stehende Männer und „rächen“ sich für deren unbeholfene Reaktion mittels bösartiger bis grausamer Gegenwehr. Als sie schließlich, wiederum infolge gezielt ausgespielter Provokation, doch noch an „den Richtigen“ geraten, einen zunächst arglosen, mit seinem Wagen auf der Straße liegengebliebenen Familienvater (Bernard Dhéran), entgeht Lore nur dadurch einer Vergewaltigung, dass Anne den Wüstling erschlägt. Damit ist zugleich das Schicksal der Mädchen besiegelt, die den Totschlag zwar notdürftig verschleiern können, jedoch bald kurz vor der Entdeckung stehen, was gleichermaßen ihre Trennung wie die Übergabe in staatliche Autorität bedeutete. Also dient ihre letzte große Inszenierung auf offener Bühne unter Baudelaire-Zitaten der buchstäblichen rituellen Selbstverbrennung – eine Protesthandlung, ganz nach dem ikonischen Vorbild des buddhistischen Mönchs Thích Quảng Đức. Dass es auch hier erstmal einige lange Sekunden dauert, bis die begeistert applaudierende Elterngeneration begreift, was sich da tatsächlich vor ihren Augen abspielt, validiert Sérias finalen, galligen Kommentar.
Ein kleines, bitteres und recht unbequemes Meisterwerk, das in geschriebener Form vermutlich längst Einzug in jeden Schullektüre-Kanon gehalten hätte.

9/10

ONDSKAN

Zitat entfällt.

Ondskan (Evil) ~ S/DK 2003
Directed By: Mikael Håfström

Stockholm in den späten Fünfzigern. Der intelligente Teenager Erik Ponti (Andreas Wilson) fällt immer wieder durch brutale Schlägereien und andere kriminelle Aktionen auf, allesamt wohl umwegige Reaktionen auf die körperlichen Misshandlungen durch seinen gewalttätigen Stiefvater (Johan Rabaeus). Als er schließlich polternd der Schule verwiesen wird, sieht Eriks Mutter (Marie Richardson) die letzte Chance für ihren Filius, einen Abschluss zu bekommen, in einem Internatsplatz. Nachdem sie diverses Mobiliar veräußert hat, meldet sie Erik an der Eliteschule Stjärnsberg an. Dort herrscht eine traditionsreiche Hackordnung, die darin besteht, dass die Primaner die jüngeren Schüler mittels allerlei selbstherrlicher Regeln herumkommandieren, drangsalieren und erniedrigen. Erik verweigert jedoch jedweden Gehorsam und macht sich so zum obersten Hassobjekt des Schülersprechers Silverhielm (Gustaf Skarsgård) und seines Adlatus Dahlen (Jesper Salén). Deren Unterdrückungsversuche, die bald dazu dienen sollen, ihn aus der Reserve zu locken und ihn somit fliegen zu lassen, prallen samt und sonders an Erik ab, insbesondere, nachdem dieser die Schulmeisterschaft im Schwimmen gewinnt. So entwickelt man diverse alternative Strategien, darunter die, Eriks sanften Zimmergenossen Pierre (Henrik Lundström) zu tyrannisieren…

Der bereits 1981 erstveröffentlichte, autobiographische Roman „Ondskan“ des schwedischen Journalisten und Erfolgsautors Jan Guillou zählt zu den meistgelesenen muttersprachlichen Büchern im Land und erhielt auch Einzug in den deutschen Schulliteraturkanon. Bis zur weitestgehend kongenialen Filmadaption dauerte es dennoch einige Jahre, wobei die Wartezeit sich als lohnend erwies: Mikael Håfströms „Ondskan“ präsentiert sich als vielschichtiges Coming-of-Age-Drama, dessen diskursive Essenz sich vor allem auf den Topos „Selbstbehauptung innerhalb eines restriktiv-repressiven Systems“ kapriziert. Erik Ponti, „der Neue“, oder „die Ratte“, wie er von den Primanern um den sadistischen Silverhielm bald höhnisch gerufen wird, steckt nämlich in einem schweren Identitätsdilemma. Als durchaus selbst gewaltaffiner, erfahrener Schläger, dem es ein leichtes wäre, auch den älteren Fatzkes von Stjärnsberg unvergessliche Lektionen zu erteilen, darf er um keinen Preis zurückschlagen, denn das würde ihn den kostspieligen Schulplatz sowie den Abschluss kosten und seiner Mutter das Herz brechen. Es bedarf also anderer Mittel und Wege, um sich durchzusetzen, ohne zum Ausgestoßenen zu werden. Eriks nun folgender Weg gestaltet sich entsprechend mühsam und entbehrungsreich. Die Strafexerzizien von Silverhielm und seinem Gefolge werden zunehmend exzessiv und perfid, analog zu Eriks gleichbleibend stoischer Renitenz ihnen gegenüber. Der Lehrkörper indes schaut, obschon es durchaus liberal und fair denkende Didaktiker darunter gibt, gezielt weg und vertraut ganz auf das pädagogische Prinzip der „Selbsterziehung“ unter den Eleven – schließlich „funktioniert“ selbiges schon seit Jahrzehnten.
Allerdings ergibt sich aus Eriks stetig weiter kultiviertem Heldenstatus (und damit auch Guillaus Selbstbeweihräucherung) zugleich ein latentes Problem innerhalb des Narrativs, verfolgt es trotz aller treffender Anklagepunkte in Richtung Faschismus, Filz und Dünkelhaftigkeit doch eine unverhohlen darwinistische Denkweise. Erik kann am Ende nämlich nur reüssieren, weil er genügend Stärke, Cleverness und vor allem Resistenz besitzt, um sich durchzusetzen. Ein intellektuell geprägtes Individuum wie sein Freund Pierre Tanguy, Befürworter von Gandhis weg des gewaltfreien Widerstands oder Strindbergs Arbeiten, scheitert an den Repressalien der Älteren. Zu weich, zu verkopft – kurzum: zu schwach ist er, um Ungerechtigkeit und Despotismus langfristig ertragen zu können. Erik derweil macht aus seinen offenkundigen Vorbildern Elvis, Brando, Dean schon äußerlich keinen Hehl und wird wie sie schlussendlich rebellisch und findig genug sein, um den Spieß umdrehen zu können.
Man mag das mehr oder weniger genießbar finden – „Ondskan“ ist infolge diverser untadeliger Qualitätsmerkmale von der Inszenierung bis hin zu den darstellerischen Leistungen insgesamt ein starker Film, der zumindest zeigt, wie wichtig es vor allem für Heranwachsende ist, eine stabile moralische Agenda zu entwickeln.

8/10

LE JEUNE AHMED

„In schā‘ Allāh.“

Le Jeune Ahmed ~ BE/F 2019
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne

Der dreizehnjährige Ahmed (Idir Ben Addi) wächst in einer weitgehend säkularisierten Familie auf. Seine alleinerziehende Mutter (Claire Bodson) verzichtet auf den Hijab und trinkt zum Essen ein Glas Wein, seine ältere Schwester (Cyra Lassman) kleidet sich figurbetont. In Imam Youssouf (Othmane Moumen), der eine strenge, radikale Interpretation des Koran predigt, findet Ahmed, dessen Cousin als IS-Märtyrer gestorben ist und von der einschlägigen Internet-Community als Märtyrer verehrt wird, eine Art Ersatzvater. Ahmeds eigene Radikalisierung dauert nur wenige Wochen und geht sowohl mit strengstens praktizierten Riten als auch einer wachsenden, sich zunächst richtungslos aufbauenden Aggression einher. Sein Hass kanalisiert sich schließlich auf die Person einer der Lehrerin Madame Inès (Myriem Akkheddiou), die jungen, muslimischen Immigranten umgangssprachliches, vom Koran abgewandtes Arabisch beibringen möchte und dabei zudem „unkonventionelle“ Methoden wie Musikunterricht einfließen lässt. Auch Imam Youssouf ist die progressiv denkende Frau ein Dorn im Auge. Für Ahmed steht fest, dass es seine Aufgabe als eherner Gotteskrieger ist, Inès zu töten. Der umgehend geplante und ausgeführte Versuch misslingt jedoch und Ahmed landet in einer Besserungsanstalt. Es bedarf jedoch erst eines spürbaren Schicksalsschlags um ihn zu echter Reue zu bewegen.

Der vorletzte Film der Frères Dardenne wurde vom internationalen Feuilleton so kontrovers aufgenommen wie keiner zuvor. Die so zuverlässig kunstfertigen, seit nunmehr über zwei Dekaden für bewegendes Autorenkino stehenden Filmemacher schienen also mit Mitte 60 urplötzlich die Chuzpe, sich eines aktuellen, dazu akut dräuenden politischen Themas anzunehmen, das ziemlich weit über ihren bislang so wohlfeil gepflegten, sozialkritischen Duktus hinausschoss und mit selbigem scheinbar so gar nichts mehr zu tun haben mochte; eines Themas zudem, das doch bereits in den Jahren zuvor so ergiebig von anderen Kunstschaffenden verhandelt wurde. Eine ausgefeilte Psychologisierung des Protagonisten befände sich da in lässlicher Ermangelung, die Perspektive auf den komplexen Topos sei eine entschieden tendenziöse. Das die Läuterung implizierende „Schicksalsende“ schließlich käme hilflos bis banal daher. Die Dardennes befleißigten sich sogar gezielter „Horrormechanismen“, um Ahmed als emotionslosen, bösen Wechselbalg dastehen zu lassen. In Anbetracht dieser seltsam uniform anmutenden, mitunter unglaublich daneben liegenden Rezensionen bleibt nur der Schluss, dass eine auch nur ansatzweise auteuristische Sicht auf „Le Jeune Ahmed“ zugunsten salonlinker Selbstproduktion der AutorInnen fast schon stoisch ausgespart wurde. Der Hauptfehler besteht zunächst darin, dem Film einen politisch relevanten Ansatz zu unterstellen. Eine solche rezeptorische Prämisse muss zwangsläufig ins Leere laufen, denn darum geht es wenn überhaupt nur allerhöchst partiell. Diverse Sujets und Elemente früherer Dardenne-Filme finden sich stattdessen unschwer auffindbar in „Le Jeune Ahmed“, der wie jeder weitere Film der Brüder aus dem immergleichen, dabei in steter Bewegung befindlichen Motivpool schöpft, um dessen bewusste Topoi nurmehr aufs Neue zu repetieren und zu variieren. Lässt man die narrative, im Prinzip völlig austauschbare Folie des radikalisierten Nachwuchsmuslim kurzerhand beiseite, bleibt im Nukleus die Geschichte eines verwirrten, haltlosen Jungen an der Schwelle zur Pubertät, der sich ebenso nach erwachsenen, dezidiert männlichen Bezugspersonen sehnt wie nach Verständnis, Zärtlichkeit und Liebe und im Angesicht von deren jeweiliger Versagung eine falsche Abzweigung nimmt. Als denkbar greifbarste und naheliegendste Emotion, die ihn aus der Orientierungslosigkeit herausführt, wählt Ahmed jene verhängnisvolle Kombination aus extremistischer Disziplin und gezielt projiziertem Hass, die den im Diffusen geführten Djihad für entsprechend anfällige Kinder und Jugendliche so reizvoll macht. Auch ein Katalysator ist rasch bei der Hand – die ebenso aufopferungsvolle wie weltoffene Lehrerin Inès, die sich besonders engagiert um ihre Schützlinge kümmert und von Ahmed (dessen akute Wandlung ihr natürlich nicht verborgen bleibt) erwartet, dass er ihr zum Abschied die Hand gibt. Seine erklärte Mission, Inès im Auftrag Gottes zu töten, trägt Ahmed fortan durch die Tage, Wochen und Monate und verliert trotz aller Bemühungen seitens Sozialarbeit, Psychologie und Rehabilitation niemals an Gewicht. Ahmed verschließt sich in sich selbst, bleibt höflich, aber stets reserviert im Umgang und wahrt geschickt seine klar konturierten Scharia-Prinzipien zwischen harām und halal, ohne Verdacht zu erregen. Als die Farmerstochter Louise (Victoria Bluck) Ahmed gesteht, dass sie sich in ihn verliebt hat und ihn küsst, kulminiert die hormonelle Konfusion des Jungen abermals, woraufhin er den Mord an Inès zum nunmehr dritten und entscheidenden Mal in die Tat umzusetzen sucht. Es bedarf, wie bereits bei Ahmeds Alters- und Leidensgenossen Cyril in „Le Gamin Au Vélo“ erst einer buchstäblich geraumen Fallhöhe, um ihn zum endgültigen Umdenken zu bewegen. Ob dies von Dauer sein wird, bleibt wie üblich der guten Hoffnung des Publikums überlassen. Anders als die Erkenntnis, dass die Dardennes ungebrochen exzellente Arbeit liefern.

8/10

THE LITTLE GIRL WHO LIVES DOWN THE LANE

„What about school?“ – „School is having people tell you what life is and never finding out by yourself.“

The Little Girl Who Lives Down The Lane (Das Mädchen am Ende der Straße) ~ CAN/F 1976
Directed By: Nicolas Gessner

Die dreizehnjährige Rynn Jacobs (Jodie Foster) lebt erst seit kurzem in einem kleinen, einsam gelegenenen Haus an der neuenglischen Küste. Das pittoreske Heim hat ihr Vater, ein Berufsautor, der mit Rynn zuvor jahrelang in England lebte, gemietet. Es dauert nicht lang, bis die Leute der dazugehörigen, kleinen Stadt auf Rynn aufmerksam werden, darunter die biestige Vermieterin Mrs. Hallet (Alexis Smith), deren hinlänglich als pädophil berüchtigter Sohn Frank (Martin Sheen) oder der Streifenpolizist Miglioriti (Mort Shuman) So besucht das überaus kluge, selbstbewusste Mädchen etwa keine Schule und lässt sich kaum in der Öffentlichkeit sehen. Ihr Vater macht sich sogar noch rarer; entweder will er bei seiner Arbeit nicht gestört werden oder ist auf Reisen, wie Rynn jedem, der nach ihm fragt, versichert. Mit dem Außenseiter Mario (Scott Jacoby) hat sie immerhin bald einen Freund, dem sie aufrichtig Liebe und Vertrauen entgegenbringen kann. Doch die Erwachsenen lassen Rynn nicht in Ruhe…

Nicolas Gessners auf einem Bühnenstück und später dazu verfassten Roman von Laird Koenig basierendes Drama erweist sich als ebenso spannend erzähltes wie vielschichtig dimensioniertes Kino, das dem Publikum ein gerüttelt Maß an diskursiver und auch philosophischer Eigenarbeit abverlangt. So erfährt man erst nach etwa der Hälfte der Spielzeit, welche Umstände Rynn wirklich in ihre gegenwärtige Lage getrieben haben: Der Vater hat sich, gezeichnet durch schwere Krankheit und dem Tode nah, im Atlantik ertränkt; die in England zurückgelassene Mutter, offenbar eine garstige, vereinnahmende Frau, fand Lynn später vor Ort und wurde dann von dem Mädchen mit dem ausdrücklichen Segen des Vaters vergiftet und ihre Leiche im Keller des Hauses versteckt. Um das Ansinnen des Vaters betreffs der Entwicklung seiner Tochter aufrecht erhalten zu können, muss das Mädchen ergo zur Mörderin werden – mehrfach, wie sich nach und nach erweisen wird.
Unser autoritär geprägtes, Jugendlichen keinerlei Mündigkeit zugestehendes Gesellschaftssystem lässt es schlichterdings nicht zu, dass ein Mädchen wie Rynn ihr eigenes, autonom gestaltetes Leben führen darf. „How old do you have to be before people start treating you like a person?“ fragt sie einmal und bringt damit die gesamte Crux ihrer individuellen Situation zum Ausduck. Entgegen aller ethischen Verträge und unter dem posthumen Appell des Vaters verteidigt sie ihre Selbstständigkeit bis aufs Blut und zumindest zunächst auch hinreichend geschickt, um unter dem Radar des beschirmten Rechtsauges damit durchkommen zu können. Die hexenartige Mrs. Hallet fällt einem Unfall in Rynns Haus zum Opfer -; die Umstände verlangen von dem Mädchen, dass sie die Leiche verschwinden lässt. Dazu – und nicht nur dazu – lässt ihr der etwas ältere teen outcast Mario seine unvoreingenommene Hilfe zukommen; er hilft ihr, Spuren zu verwischen und ihre Illusion vom noch lebenden Vater aufrecht zu erhalten. Wie Rynn ist Mario ein Sonderling. Gezeichnet durch eine spät ausgebrochene Kinderlähmung hinkt er und wenn die anderen Jugendlichen der Gegend sich beim Football vergnügen, gibt er Zaubervorstellungen auf Kindergeburtstagen. Rynn und Mario verstehen sich, verlieben sich und schlafen miteinander, eine weitere Unpässlichkeit wider jedwedes soziale Normativ. Das pure Böse schlägt jedoch abermals zu – in der Person von Mrs. Hallets Sprössling Frank, einem kleinen Mädchen nachstehenden Tunichtgut und Sadisten von wiederum überaus intelligentem, aber ebenso offen diabolischem Wesen. Aus einer Laune heraus quält er Rynns Hamster zu Tode, bedroht und erpresst das Mädchen später, ihm, während Mario im Krankenhaus liegt, hörig zu sein. Wiederum ist Rynn zur gewalttätigen Entledigung eines erwachsenen Störfaktors gezwungen und während sie dem tödlich vergifteten Frank Hallet beinahe reglos beim Sterben zusieht, laufen bereits die end credits. Koenig und Gessner entlassen uns mit diesem einerseits durchaus befriedigenden, schicksalsträchtigen Selbstjustizakt in ein konsequentes Dilemma – wenngleich Rynns Chancen, auch diesen Mord (oder besser: Todesfall?) zu vertuschen, höchst gering ausfallen, wünscht man ihr insgeheim, dass alles gut gehen möge, dass ihr Mario wieder gesund wird und das Paar auf eine gemeinsame, stabile Zukunft bauen kann. Andererseits ist diese Zukunftsprojektion wohl so romantisch wie naiv. Obwohl wir sie als kluge, eloquente Kindfrau erleben, wird Rynn langfristig keinen Chancen haben, sich sozial zu etablieren und einem (durchaus verdient) ungestörten Leben nachgehen zu können. Die Vergangenheit wird ihr immer wieder auflauern und ein Lebensstil, wie ihr Vater und sie selbst ihn für sich wünschen, dürfte langfristig unmöglich sein, aus vielerlei offensichtlichen Gründen. Ob Rynn mit ihrem freiheitlichen Selbstverständnis nun nicht reif ist für unsere Gesellschaft oder vice versa, mit dieser Entscheidung darf man sich schlussendlich tragen.
Vor allem jener bestimmte Verzicht auf jede Form moralinsaurer Tendenziösität macht „The Little Girl Who Lives Down The Lane“ nachträglich zu einem kleinen Meisterwerk.

9/10

LE GAMIN AU VÉLO

Zitat entfällt.

Le Gamin Au Vélo (Der Junge mit dem Fahrrad) ~ BE/F/I 2011
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne

Cyril (Thomas Doret), ein Junge von vielleicht 12, 13 Jahren, lebt im Heim. Als er registriert, dass sein Vater Guy (Jérémie Reiner) nicht nur sang- und klanglos den Wohnort gewechselt, sondern auch Cyrils geliebtes Fahrrad verkauft hat, hat, wird sein Verhalten noch renitenter als ohnehin schon. Verzweifelt versucht er, den Kontakt zu Guy wieder aufzunehmen. Durch Zufall begegnet Cyril bei seinen Nachforschungen der Friseurin Samantha (Cécile de France), die sich ohne zu zögern des Jungen annimmt, ihm sein Fahrrad zurückkauft und ihn sogar an Wochenenden in ihre Obhut nimmt. Nachdem Cyril nach einem gemeinsam Besuch mit Samantha bei seinem Vater, der eine neue Lebensgefährtin (Selma Alaoui) hat und in deren Restaurantküche arbeitet, aufs Schmerzlichste erfahren muss, dass Guy keinen Kontakt mehr mit ihm wünscht, gerät er an den kriminellen, jugendlichen Rattenfänger Wes (Egon Di Mateo), der Cyril zu einem Raubüberfall auf einen Zeitungsverteiler (Fabrizio Rongione) anstiftet. Mit allen Mitteln versucht Samantha, den Kontakt zwischen Cyril und Wes zu unterbinden – doch vergebens. Der Junge zieht den Überfall durch und wird dabei erkannt. Straffällig geworden, muss Cyril gleich in mehrfacher Weise Verantwortung für sein Handeln übernehmen.

„Le Gamin Au Vélo“ führt die Dardennes erneut ein kleines Stück weiter an den Gebrauch konventionellerer Mittel heran – mit Cécile de France leisteten sie sich erstmals eine bereits international etablierte Hauptdarstellerin und sogar eine kleine musikalische Weise darf mehrfach (insgesamt viermal) ertönen, die jeweils die Funktion einer Art Kapitelüberleitung übernimmt. Motivisch bewegt man sich indes auf etabliertem Terrain – eine Coming-of-Age-Story, in der ein/e bereits biographieversehrte/r ProtagonistIn sich den Wirrnissen des Lebens stellen muss, sich in diesen (vorübergehend) verliert und schließlich an eine existenzielle Weggabelung gerät, hatten die Dardennes ja bereits mehrfach angeordnet und auskultiert. Insoweit stellt Cyril eine weitere Facette jenes vormals eingehend behauenen Charaktertotems dar, dessen Ausprägungen auch Figuren wie Igor, Rosetta, Bruno und ansatzweise auch die verirrte Lorna hervorbrachte. Und wiederum gibt es Avancen an klassische Literaturvorbilder. Wie einst Oliver Twist an den üblen Fagin gerät Cyril an den „Organisator“ Wes und wie Pinocchio seine gute Fee findet Cyril die ihm gegen alle Widerstände beistehende Samantha. Einzig ihre wie aus heiterem Himmel fallende, kompromisslose Zuneigung und Liebe ermöglicht Cyril eine Begradigung seiner verwundeten Persönlichkeit und vermutlich auch ein krisenentledigteres Erwachsenwerden. Allerdings lassen die Dardennes an Cyril auch eine letzte, physisch spürbare Sanktion nicht vorübergehen, gewissermaßen eine möglicherweise notwendige Lebenslektion, die den Jungen erst auf ganzer Linie „begradigen“ wird. Inwieweit diese letzte „Tracht Prügel“ sowohl für Cyril als auch für den Film notwendig ist oder ob sie lediglich dazu angedacht war, ein klimaktisches Finale zu setzen und das Publikum noch ein letztes Mal emotional zu affizieren, erschließt sich mir nicht ganz. Dennoch ist man nunmehr aufrichtig davon überzeugt, dass Cyril seine Lektion gelernt hat.

8/10

I SAW WHAT YOU DID

„I saw what you did and I know who you are.“

I Saw What You Did (Es geschah um 8 Uhr 30) ~ USA 1965
Directed By: William Castle

Die zwei gelangweilten Provinzteenagerinnen Libby (Andi Garrett) und Kit (Sara Lane) treffen sich eines Abends bei Kit, deren Eltern (Leif Erickson, Patricia Breslin) bei einem Geschäftsfreund (Douglas Evans) zu Gast sind. Gemeinsam mit Kits kleiner Schwester Tess (Sharyl Locke) vertreibt man sich die Zeit mit Scherzanrufen bei willkürlich ausgesuchten „Opfern“ aus dem Telefonbuch. Die eingangs zitierte Formel wird dabei gebetsmühlenartig wiederholt – mit unterschiedlichsten Effekten. Nach einiger Zeit gerät das Prankster-Trio jedoch an den buchstäblich Falschen: Der wahnsinnige Steve Marak (John Ireland) hat nämlich just seine Frau (Joyce Meadows) ermordet, deren Leiche entsorgt und fühlt sich nun zu Unrecht ertappt. Während auch Maraks Nachbarin (Joan Crawford) in tödlicher Gefahr schwebt, versucht der Killer, die Identität der Anruferin herauszubekommen – mit Erfolg…

William Castles sieben Jahre zuvor mit „Macabre“ abgejizzter Gimmick-/Drive-In-Cinema-Stern begann bereits zu sinken, als „I Saw What You Did“ debütierte. Die Gründe dafür erscheinen in Anbetracht des Films als einigermaßen nachvollziehbar. Was basierend auf der inhaltlichen Grundprämisse einen hübschen Terror- oder Suspense-Stoff hätte abgeben mögen, arrangiert Castle infolge seines latenten Bedürfnisses, ein primär junges Publikum anzusprechen, nämlich zu einem relativ seichten Teeniekrimi um, der mit fluffigem Score (Van Alexander) und einem einer schwarzpädagogischen Warngeschichte für Kleinkinder entsprungenen Bösewicht hausiert. Die die Besetzungsspitze anführende Pepsi-Witwe Joan Crawford spielt in ihrem zweiten und letzten Castle-Engagement eine fast vollkommen redundante Nebenrolle als knitterige Nebenbuhlerin, die mit ihrer aufdringlichen Art den Messermörder John Ireland eine Spur zu intensiv reizt und ihn damit gleich mal zum Serienkiller werden lässt. Ansonsten legt „I Saw What You Did“ allzu viel Fokussierung auf die Abengestaltung der zwei unreifen Backfische und ihrem noch rotzigeren Schützling, was beinahe jede Spannungsavance zunichte macht. Ganz possierlich wird es dann immerhin noch zum Finale hin, wenn Ireland wegen eines dummen Zufalls doch noch seinem Blutdrang nachgibt und die beiden Schwestern attackiert.
Als mentale Frühform des späteren slasher movie – ein fehlgeleiteter Streich resultiert in tödlicher Gefahr – bekleidet der durchweg auf dem Universal Backlot gefilmte „I Saw What You Did“ immerhin einen kleinen filmhistorischen Status, ohne jedoch das Zeug zum veritablen Klassiker aufzuweisen. Castle light.

5/10

EXPLORERS

„Shut up, Heinlein!“

Explorers ~ USA 1985
Directed By: Joe Dan
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In einem verschlafenen Kleinstädtchen in Maryland finden sich drei Außenseiterjungs zusammen, um eine interstellare Reise zu unternehmen: Der aus behütetem Hause stammende Ben Crandall (Ethan Hawke) liebt neben der Schulschönheit Lori Swenson (Amanda Peterson) ganz besonders die Invasionsfilme der fünfziger Jahre und träumt eines nachts von einem Trip ins All. Sein bester Kumpel Wolfgang Müller (River Phoenix), ein präpubertärer Einstein und Computernerd, ist bestens dafür geeignet, Bens Visionen in handfeste Materie zu überführen. Der etwas verlotterte Darren Woods (Jason Presson) schließlich hat das Herz am rechten Fleck. Gemeinsam baut das Trio mit Schrottplatzutensilien ein kleines Raumschiff, das mithilfe einer aus dem All stammenden Energiekugel tatsächlich fliegen kann. Was die Freunde schließlich jenseits der Erdatmosphäre erleben, gestaltet sich recht unerwartet…

Joe Dante hat ja eigentlich ausschließlich echte Herzensfilme gemacht. Nach „Gremlins“ auf dem Höhepunkt seiner kommerziellen Auswertbarkeit angelangt, wählte der pulpkulturbeflissene Meister für seinen nächsten, bei Paramount entstandenen Film ein prototypisches Mittachtziger-Sujet, das ebensogut aus der Spielberg-Factory hätte stammen mögen und dann auch in zeitnaher Konkurrenz (mit fünf Wochen Abstand, um genau zu sein) zu Richard Donners „The Goonies“ gestartet wurde. Wo Donners Film letztlich reüssieren konnte, weil er mit viel Humor und Action ein breitgefächertes Publikum anzusprechen vermochte, blieb „Explorers“ eher eine wohlbehütete Preziose, ein Film primär von, über, mit und für Geeks. Wie gewohnt propfen Dante und Scriptautor Eric Luke ihre Geschichte voll mit Reminiszenzen an die gute alte Zeit der Drive-In-Kinos, Pulpcomics und SciFi-Klassiker und kombinieren diese mit den heimlichen Phantasmagorien der ersten Gamergeneration und dem Überfluss des in den USA bereits inflationären TV-Angebots. Folglich spielen der Computer, dazu passend computerbasierte Effekte und eben die zu jener Zeit quantitativ bereits beträchtliche Fernsehhistorie eine wesentliche Rolle innerhalb der von Dante porträtierten, popkulturellen Schnittmenge.
Ein wenig verliert man über diesen beinahe totalitären Referenzialitätscharakter des Ganzen das Innenleben der Protagonisten aus dem Blick – Ben, Wolfgang und Darren treiben natürlich nicht nur spaßbasierte Abenteuerlust um, sondern mindestens genau so sehr all die anderen Dinge, die Kids in ihrem Alter so beschäftigen, von der ersten großen Liebe über unverständige bis unfähige Eltern und gedankliche Instabilitäten bis hin zur ewigen Wegscheide des Coming of Age. Entsprechende inhaltliche Eckpunkte hätten sich angeboten, bleiben jedoch zumeist in den Startlöchern hängen. Man muss allerdings gleichsam hinzufügen, dass Dante nicht seine definitive Schnittfassung fertigstellen konnte, da das Studio hinsichtlich eine beschleunigten Release im Sommer insistierte und diverse eigentlich gefilmte Szenen außen vor bleiben mussten. Diese Inkonsistenz merkt man „Explorers“ nachhaltig an. Dennoch bleibt die conclusio – orientierungssuchende Teenager von unterschiedlichen Planeten mit ziemlich analogen Nöten und Träumen haben ein Meeting im All, werden Freunde und zeigen, dass vermeintliche Differenzen oftmals nur aus einem oberflächlichen Moment irriger Ersteindrücke resultieren – schlussendlich so charmant wie universell: Eine wohltuende Vorstellung, dass auch Aliens nur Menschen sind.

8/10