GLASS ONION: A KNIVES OUT MYSTERY

„I’ve learned through bitter experience that an anonymous invitation is not to be trifled with.“

Glass Onion: A Knives Out Mystery ~ USA 2022
Directed By: Rian Johnson

Gemeinsam mit einigen anderen mehr oder weniger wertigen Gästen findet sich der weltbeste Privatdetektiv Benoit Blanc (Daniel Craig) auf der sonnenverwöhnten, privaten Ägäis-Insel des exzentrischen Multimilliardärs Miles Bron (Edward Norton) wieder. Dieser hat seinen erlesenen Freundeszirkel für ein Exklusivwochenende in seinen luxuriösen Wohnkomplex „Glass Onion“ eingeladen, um dort ein gleichfalls partyseliges wie kriminalistisch herausforderndes Wochenende zu verbringen, mit ihm selbst als Mordopfer und der sich daraus ergebenden Frage um den Täter und dessen Motiv. Da mit Ausnahme des Detektivs alle Anwesenden gleichermaßen in einem perfiden Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem „Freund“ und Gastgeber stehen, kommt jeder in Frage, doch Blanc, der, wie sich bald herausstellt, mitnichten auf Brons Wunsch hin vor Ort ist, torpediert dessen Spiel kurzum und nonchalant. Bald jedoch gibt es eine wirkliche Leiche…

Benoit Blancs wiederum von Rian Johnson geschriebenes und inszeniertes zweites Filmabenteuer wird aktuell direkt von bzw. via Netflix lanciert, was eigentlich auch ganz gut passt zu dem sich bereits jetzt als strukturgewohnt abzeichnendem Kriminal-Serial. Seine satireaffine Poirot-Liebe bringt Johnson abermals in Höchstmaßen zu Geltung; wer die Kinostücke um Peter Ustinov kennt, weiß grob umrissen bereits, was Daniel Craig alias Benoit Blanc zu bieten hat: mondäne Schauplätze, luxuriöses Ambiente, spektakuläre Architektur und Interieurs. Dazu ein zumindest halbwegs prominent besetztes Ensemble, das genussvoll eine Schar grober, von Egozentrik, Gier und Arroganz zerfressener Unsympathen darbietet, an deren Spitze – natürlich – das (in diesem Fall eigentlich nur potenzielle) Mordopfer steht. Als recht witzig entpuppen sich die diersen Seitenhiebe in Richtung der Covid-Pandemie und des zeitweiligen Umgangs mit ihr, die darüberhinaus zahllos okkurierenden Popkultur- (und Selbst-)referenzen zu entdecken, überlässt Johnson findigen Zuschauern noch als zusätzliches Bonmot. Wesentlich mehr jedoch bleibt sich über den allseitig professionell (und demzufolge gediegen überrschungsfrei) gehandhabten „Glass Onion“, der seinen etwas unsinnigen Untertitel wohl ausschließlich zur Steigerung des Wiedererkennungseffekts trägt, kaum zu sagen. Das Beziehungsgeflecht der illustren Beteiligtenschar nimmt sich ebenso vordergründig kompliziert wie obsolet aus und dient allein dem Alibi der großzügigen Erzählzeit. Es hagelt MacGuffins in Hülle und Fülle, sowohl in Objektform, als auch in narrativen Finten. Spaß macht „Glass Onion“ nichtsdestotrotz schon, zumal er in kommenden Jahren vielleicht als endgültige Initiation einer Art internationaler „Traumschiff“-Variante für die Festtagssaison gelten mag. Einen Blanc alle zwei, drei Jahre zu Weihnachten, hell, schick und ein kleines bisschen hohl, fände ich durchaus erträglich. Den als einziges Ingredienz völlig aus dem Rahmen fallenden, schlurrigen Kifferhippie Derol (Noah Segan), der erfreulicherweise gar keine Funktion besitzt (außer vielleicht die, findigen Freizeitdetektiven frustrierte Fragezeichen zu entlocken), sollte man allerdings als künftigen running gag gern beibehalten.

7/10

INEXORABLE

Zitat entfällt.

Inexorable (Eiskalter Engel) ~ B/F 2021
Directed By: Fabrice du Welz

Just als die reiche Verlegerin Jeanne (Mélanie Doutey) mit ihrem Gatten, dem einst von ihr berühmt gemachten Autoren Marcel Bellmer (Benoît Poelvoorde) und der gemeinsamen kleinen Tochter Lucie (Janaina Halloy) auf das stattliche Familienanwesen in der Provinz zurückzieht, macht die Familie die Bekanntschaft der verloren erscheinenden Gloria (Alba Gaïa Bellugi). Gloria gewinnt rasch Lucies Sympathien. Auch Jeanne und Marcel schenken ihr bald Vertrauen und stellen die junge Frau als Hausmädchen ein. Doch pflegt Gloria ihre ganz persönliche Agenda, die in einer dunklen, gemeinsamen Vergangenheit mit Marcel fußt und die das familiäre Idyll geradewegs in den Abgrund führt.

Seinen steten Hang zur Erkundung menschlicher Abseitigkeiten pflegt der Belgier Fabrice du Welz auch in seiner jüngsten Regiearbeit wieder aufs Neue. Obschon die durchaus klassisch anmutende Grundkonstellation, in der es um die umfassende Vergeltung einer um ihre Existenz geprellten und verratenen Frauen-, respektive Tochterfigur geht, vergleichsweise tradierte Tropen bedient, gelingt es du Welz dennoch, seiner Inszenierung eine tiefe Abgründigkeit zu verleihen, die andere Filmemacher in dieser Konsequenz möglicherweise gescheut hätten. Jener böse Fatalismus resultiert nicht zuletzt aus dem „Inexorable“ inhärenten Welt- und Menschenbild, in dem es im Prinzip nur zwei rundheraus unschuldige Figuren gibt: das noch im Grundschulalter befindliche Mädchen Lucie und den schneeweißen, zu Beginn des Films aus dem Tierheim adoptierten Schäferhund Odysseus. Dieser symbolisiert gewissermaßen den Dreh- und Angelpunkt für Glorias zunächst noch diffusen Plan. Indem sie sich das Vertrauen von Hund und Kind erschleicht, öffnen sich Gloria Tür und Tor zu ihrem eigenen Vorhaben, das bei aller Perfidie auf einer tief gestörten, autoaggressiv geprägten Borderline-Persönlichkeit gründet. Doch auch das Ehepaar krankt an Lügen und Trugbildern. Weder ist Marcel in Wahrheit der als genialisch gefeierte Literat, den alle Welt in ihm wähnt, noch vermag Jeanne seine vermeintlich mittelfristig stagnierende Kreativität durch ihre offenen, sexuellen Avancen zu befördern. Lucie legt auf ihrer eigentlich als soziale Initiation geplanten Geburtstagsparty ein empörliches Black-Metal-Playback hin; auf den armen, braven Odysseus wartet die Todesspritze. Der höhlende Wurm steckt da längst im Apfel; Gloria muss ihn nurmehr um ein paar wenige Häppchen nähren und ans Tageslicht locken. Am Ende ihrer destruktiven Bemühungen steht dann tatsächlich die Auflösung der Bastion Familie; die Karten liegen auf dem Tisch, das blutige Duell zweier reziprok entkernter Seelen endet mit einem Remis. Die Überlebenden werden diese sinistren Ereignisse noch lange beschäftigen.

8/10

DON’T WORRY DARLING

„Keep calm and carry on!“

Don’t Worry Darling ~ USA 2022
Directed By: Olivia Wilde

Dass irgendetwas nicht stimmt in der hermetisch abgeschotteten Firmenkommune Victory mit ihrer pastellfarbenen Fünfzigerjahre-Bonbonidylle nebst überkandidelter Werbeästhetik scheint die an der Oberfläche glücklich anmutende Alice (Florence Pugh) insgeheim längst registriert zu haben. Als ihre Freundin Margaret (KiKi Layne) sich im Sinne der wohlfeil organisierten Gemeinschaft zudem plötzlich höchst seltsam benimmt, diverse ortsgebundene Regeln übertritt und nach einem Selbstmordversuch spurlos verschwindet, manifestieren sich schließlich auch Alices Bedenken. Analog dazu als sie beginnt, die gleichförmige Alltagskulisse von Victory zu hinterfragen, im Trüben zu stochern und ihr nach dem Company-Patriarchen Frank (Chris Pine) und dessen Frau Shelley (Gemma Chan) auch noch ihr eigener, geliebter Mann Jack (Harry Styles) die Gunst entzieht, bricht sich ihr Unterbewusstsein Bahn…

Olivia Wildes zweiter Film „Don’t Worry Darling“ möchte leider wesentlich cleverer sein als er es letzten Endes zu sein bewerkstelligt. Seine dezidiert twistorientierte Ausrichtung, auf die mit aller Gewalt hingearbeitet wird, erweist sich als Konglomerat diverser mental anverwandter (Genre-)Vorläufer und/oder Archetypen, die vermutlich nur dann halbwegs effektiv funktioniert, wenn sie auf ein entsprechend unbeflissenes Publikum trifft. Andernfalls schießen einem geradezu unwillkürlich rasch etliche, mögliche Inspirationsquellen durch den Kopf, mit denen Script und Regie ausgiebig Schlitten fahren, um daraus ein immerhin mäßig launiges Feminismuspamphlet zu stricken. Man stelle sich vor, die urhebenden Damen haben ein großes Süppchen angerührt aus: „The Stepford Wives“, „Skeletons“, „Dark City“, „Pleasantville“, „The Truman Show“, „The 13th Floor“, „The Matrix“ bis hin zu „Antebellum“ sowie natürlich David Lynchs albtraumhaften Vorstadt-Zerrbildern nebst Artverwandtem und das Ganze hernach in eine zeitgemäß aufgebrezelte, zumindest ambitioniert und kompetent inszenierte Form gegossen.
Die plotinterne VR, die Victory-Realität nämlich, entpuppt sich also als durch und durch misogyn und patriarchalisch geprägte virtual reality im technischen Wortsinne (und nicht etwa in ihrer plastisch konstruierten Form wie etwa bei Levin/Forbes, DeCoteau oder Weir), innerhalb der mit ganz wenigen Ausnahmen nur die Männer wissen, dass ihre Körper im abgeschalteten Ruhezustand schlummern, während „ihre“ dauersedierten Frauen unfreiwillig einem obsoleten, archaischen Rollenverständnis zum Opfer gefallen sind. Dabei inszeniert sich der ominöse, grauenhaft ölige Frank (eine ironische, nominelle Reminsizenz an Dennis Hoppers gleichnamige Figur in „Blue Velvet“ möglicherweise…?) als eine Art gönnerhafter Sektenguru, der im Zuge pompöser Auftritte predigt, was seine fehlgeleiteten Testsosteronfollower von ihm erwarten, bis ihm irgendwann, als die ganze Geschichte implodiert, die eigene Gattin schließlich enerviert den Versagerstöpsel zieht.
„Don’t Worry Darling“ ist kein schlechter Film und beinhaltet sogar eine amtliche Regieleistung. Er vermag seine RezipientInnenschaft abzuholen und über die gesamte Distanz mitzunehmen, trägt schlussendlich jedoch die nicht zu unterschätzende Bürde der kompromisslosen Durchschaubarkeit, die nach einigem Abstand zur Betrachtung doch recht viel heiße Luft hinterlässt.

6/10

BLUE SKY

„You’re not Brigitte Bardot, remember?“

Blue Sky (Operation Blue Sky) ~ USA 1994
Directed By: Tony Richardson

Hawaii, 1962. Weil das exaltierte Verhalten der Offiziersgattin Carly Marshall (Jessica Lange) der hiesigen Kommandatur ein Dorn im Auge ist, wird Major Hank Marshall (Tommy Lee Jones) mitsamt Carly und ihren beiden Teenagertöchtern Alex (Amy Locane) und Becky (Anna Klemp) nach Alabama versetzt. Vor Ort erweist sich Carlys Gebahren als weiterhin nachgerade ungezähmt; sie identifiziert sich mit glamourösen Filmdiven, hat psychotische Episoden und sorgt für einen Minieklat nach dem anderen. Hank plagen derweil noch ganz andere Sorgen: als Experte für Fragen der Nukleartechnik wird er kurzfristig nach Nevada beordert, um dort den ersten „Blue Sky“-Test zu überwachen, ein Verfahren, bei dem die Atombombe unterirdisch gezündet wird. Als Hank vom Helikopter aus in unmittelbarer Nähe des Testgeländes zwei Cowboys (Timothy Scott, Timothy Bottoms) ausmacht, wird er über den Vorfall zu strengster Geheimhaltung verpflichtet. Um ihn auch tatsächlich mundtot zu machen, entspinnt sein Vorgesetzter Colonel Johnson (Powers Boothe) eine perfide Intrige gegen ihn, die dazu führt, dass Hank stark sediert in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik landet. Nun ist es an Carly, die an Hanks Schassung eine große Mitschuld trägt, ihrem Gatten beizustehen…

Der letzte Film des aus der neorealistischen, britischen Kitchen-Sink-Strömung hervorgegangenen Tony Richardson lag nach seiner Fertigstellung im Herbst 1991 drei Jahre auf Eis, bevor er dann doch noch in die Kinos kam. „Blue Sky“ war Teil der Konkursmasse der zwischenzeitlich pleite gegangen Produktionsgesellschaft Orion Pictures und insofern ein Opfer ungeklärter Rechtslage. Basierend auf dem einzigen, autobiographisch gefärbten Filmdrehbuch der Scriptautorin Rama Laurie Stagner entwirft der Film ein gleichermaßen klassisch geprägtes wie behende mit naheliegenden Klischees spielendes Militärdrama vor dem historischen Hintergrund der Hochphase des Kalten Krieges. Stagner schielt dabei auch zu großen Vorbilden, von „From Here To Eternity“ bis hin zu diversen Williams-Dramen. Primär bildet die Geschichte dabei das Porträt einer sich allen Konventionen entgegenstellenden Frau, deren Changieren zwischen hysterischer Trübnis und Promiskuität vermutlich das Resultat einer frühgeprägten, bipolaren Störung ist: Über Carlys Kindheit und Jugend in Virginia erfährt man nicht viel Eindeutiges, außer, dass sie der Zustand des „Unerwünschtseins“ offenbar schon seit eh und je verfolgt. Sie versucht, ihr Unglück durch kleine Skandälchen zu kompensieren; zeigt sich einer Hubschrauberstaffel am Strand oben ohne und becirct sämtliche Offizierspatentträger, die ihr zu nahe kommen. Ihr streng logisch agierender Mann Hank trägt all das mit stoischer Gelassenheit und Fassung, bis irgendwann doch die eine, natürlich im Zuge eines Ränkespiels wohlweislich herbeigeführte Eskapade das Fass zum Überlaufen bringt. Hier hat Carly dann die Möglichkeit, sich großflächig zu rehabilitieren, indem sie dem zwischenzeitlich kaltgestellten Hank aus der Patsche hilft und ihre wilde Entschlossenheit ausnahmsweise in moralisch unzweifelhafte Fahrwässer lenkt.
Inwieweit Richardson, der nur kurze Zeit nach der Komplettierung des Films verstarb, am final cut beteiligt war, respektive die vorliegende Fassung seiner künstlerischen Vision entspricht, lässt sich auf die Schnelle nicht eruieren. Tatsache ist, dass „Blue Sky“ vor allem im letzten Drittel oftmals überhastet wirkt und übereilig montierte Szenen auf Kosten seiner erzählerischen Fluidität gehen, gerade so, als habe man eine festgezurrte Spielzeit unbedingt einhalten wollen. Der demzufolge teils fast schon elliptisch wirkenden Narration steht eine gelegentlich unbehende wirkende Dramaturgie gegenüber, etwa, wenn Johnsons ja doch recht komplexe Intrige binnen weniger Filmmomente bricht und auf ihn selbst zurückrollt oder wenn das übereilt, in Anbetracht des traumatischen Potenzials der zuvor entrollten Geschehnisse, fast schon ein wenig surreal wirkende happy end den Film nach knapp 100 Minuten schließt. Dennoch: die schauspielerische Brillanz der Beteiligten, allen voran natürlich Jessica Lange, für die ihre dann auch mit dem Oscar prämierte Rolle geradezu maßgeschneidert wirkt, machen aus „Blue Sky“ den interessanten, um nicht zu sagen: sehenswerten Schwanengesang eines großen, wichtigen Filmemachers des zwanzigsten Jahrhunderts.

7/10

DIAZ – DON’T CLEAN UP THIS BLOOD

Zitat entfällt.

Diaz – Don’t Clean Up This Blood ~ I/RO/F 2012
Directed By: Daniele Vicari

Genua, in der Nacht vom 21 auf den 22. Juli 2001. Die wegen ungeheuerlicher Vorgänge im Polizeiapparat bereits ins Röcheln geratene Demokratie gerät für die kommenden 72 Stunden in einen todesgleichen Atemstillstand: Die Esuola Diaz ist während des tags zuvor zu Ende gegangenen G8-Gipfels für Demonstrierende geöffnet. Etliche verschiedene Sprachen sind zu hören, die teilnehmenden Globalisierungsgegner, von denen die allermeisten bereits abgereist sind, kommen aus aller Herren Länder. Auch Indymedia, eine Erste-Hilfe-Station und Rechtsberater für angeklagte Protestler gastieren im Gebäude. Die vornehmlich jungen Leute liegen größenteils bereits friedlich schlummernd auf ihren Isomatten und in ihren Schlafsäcken, als um die Mitternachtsstunde eine große Gruppe italienischer Polizisten das Gebäude stürmt und mit ihren Gummiknüppeln wahllos auf alles eindrischt, was nach Mensch aussieht. Am Boden Liegende werden mit Fußtritten traktiert. 60 DemonstrantInnen werden teils schwer verletzt auf Tragen in umliegende Hospitäler verbracht. Andere landen in der Polizeikaserne Nino Bixio im Stadtteil Bolzaneto. Dort werden sie per Filzstift mit X-en markiert, sämtlicher Bürgerrechte beraubt, erniedrigt und gefoltert. Erst viele Stunden später erhalten die Gefangenen wieder die Möglichkeit, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Ein Skandal, der bis heute nicht zufriedenstellend aufgearbeitet wurde.

Der in Dokumentationssachen bereits erfahrene Daniele Vicari arbeitete mit seinem fünften Spielfilm „Diaz – Don’t Clean Up This Blood“ eine der größten politischen Ungeheuerlichkeiten im Westeuropa unseres noch jungen Jahrtausends auf. Für die kurze Zeit des von der Regierung Berlusconi damals stolz ausgerichteten G8-Gipfels fand sich ein altes, längst verdrängtes Schreckgespenst reanimiert – das des Faschismus. Die beiden Episoden um die Diaz-Schule und die Nino-Bixio-Kaserne stehen dabei im Zentrum von Vicaris wütendem Zelluloidpamphlet, einem, soviel gleich vorweg, Meilenstein des politischen Kinos. Gewissermaßen kulminiert in jenen etwa 72 Stunden all das, was zuvor durch das Innenministerium und einen entsprechend gebrieften und angespitzten Polizeiapparat emsig vorbereitet wurde. Durch diverse Zeitzeugen ist belegt, dass der vermeintliche „Schwarze Block“ von Polizeiagenten mindestens durchsetzt war. Die vermummten Chaosstifter, unter denen sich auch rechte Hooligans der internationalen Szene befanden, konnten ihr Zerstörungswerk, darunter brennende Autos und zerstörte Ladenfassaden, unter den Augen der längst großräumig angerückten Polizei und von dieser unbehelligt entfesseln. Vereinzelt wurde beobachtet und dokumentiert, wie angebliche Autonome Rücksprache mit Polizisten hielten und in einem Fall sogar eindeutig Befehle erteilten. Da die übrigen, von vielen Zehntausenden organisierten und besuchten Demonstrationen eher einem friedlichen Happening mit allerlei Kunst und Folklore glich, musste das unbedingte Durchsetzungsvermögen der rechtsregierten Staatsgewalt ergo in anderer Weise veranschaulicht werden. Der zunächst unfassbare Schluss liegt somit nahe, dass die Polizei in Gemeinschaft mit gewaltbereiten Faschisten höchstselbst für das Gros der Zerstörungen verantwortlich und die hernach gegen die de facto unbewaffneten Restdemonstrierenden gerichtete Vergeltungsaktion nichts anderes war als eine vormals gezielt provozierte Strafexpedition. Dafür sprechen auch gefälschte Beweise in Form zweier von der Polizei höchtselbst in der Diaz-Schule deponierten Molotov-Cocktails, die in direkter Folge öffentlichkeitswirksam ausgesstellt wurden und als Hauptanklagepunkt fungieren sollten. Die Situation in der Nino Bixio glich nach dem blutigen Überfall auf die unbewaffneten Nachtgäste schließlich der in südamerikanischen Militärgefängnissen unter Pinochet oder Videla, binnen derer die vor Ort befindlichen BeamtInnen sich unverblümt als Neonazis zu erkennen gaben.
Mit dem hohen aufklärerischen Anspruch etwa eines Costa-Gavras beackert Vicari diese schlimmen Ereignisse, fokussiert sich dabei nach höchst sorgfältiger Vorbereitung in Form von etlichen Stunden Protokollsichtungen und Interviews blitzlichtartig auf einige wenige Opfer und Beteiligte, deren Filmfiguren jeweils andere Namen, aber dieselben Initialen tragen wie ihre realen Pendants. Chronologische Sprünge dienen dabei keineswegs als selbstgerechte, formale Extravaganzen oder gar der Zuschauerverwirrung, sondern arbeiten in kongenialer Weise nach und nach unterschiedliche Schwerpunkt- und Schlüsselereignisse auf, wie die Erschießung des 23-jährigen Demonstranten Carlo Giuliani durch einen drei Jahre jüngeren Carabiniere oder die Involvierung ranghoher Politiker in die Geschehnisse. „Diaz – Don’t Clean Up This Blood“ steht somit trotz des großen zeitlichen Abstands in seinem Bestreben um fiktionalisierte, aber dennoch minutiöse Aufbereitungsarbeit und Wachrüttelung in direkter Tradition zu Costa-Gavras‘ politischem Hauptwerk und erreicht dabei mindestens denselben Grad an Zuschauerinvolvierung. Gerade wegen der Authentiziät des Geschilderten erreicht sein Film eine selten gewordene Intensität, die das Publikum gleichermaßen abholt wie niedermäht. Wenn es so etwas gibt, wie politdidaktisches Pflichtkino zur Demokratieerziehung – „Diaz – Don’t Clean Up This Blood“ wäre einer der vordringlichsten Kandidaten. Ergänzend zum Film lohnt ferner die nachträgliche Betrachtung der preisgekrönten 2002er-WDR-Dokumentation „Die Stoy: Gipfelstürmer – Die blutigen Tage von Genua“, die hier auf youtube angesehen werden kann.

10/10

LA CRIME

Zitat entfällt.

La Crime (Wespennest) ~ F 1983
Directed By: Philippe Labro

Der renommierte Wirtschaftsanwalt d’Alins (Jacques Dacqmine) wird in seinem Büro im Justizpalast von zwei als Gendarmen verkleideten Killern (Charlie Nelson, Bernard Tixier) erschossen. Commissaire Martin Griffon (Claude Brasseur), Vorsitzender einer Sonderabteilung, macht sich im direkten Auftrag des Innenministeriums an die hochbrisanten Ermittlungen. Dabei wird ihm als Anstands-Wauwau sein alter Kollege Rambert (Jean-Claude Brialy) zur Seite gestellt. Während d’Alins‘ linkischer Sohn Philippe (Daniel Jégou) den Anschein erwecken möchte, sein Vater sei das Opfer irgendeines rachsüchtigen, früheren Klienten geworden, ist Griffon rasch davon überzeugt, dass wesentlich mehr hinter der Sache steckt. Gemeinsam mit der Jungjournalistin Sybille (Gabrielle Lazure) beginnt er tiefer zu bohren und stößt auf eine gewaltige Mauer des verschleiernden Widerstands, die noch weitere Tote mit sich bringt.

Ein sonderbarer Film ist Philippe Labros „La Crime“, und das ganz gewiss nicht aufgrund seines durchaus konventionellen Kriminalplots nebst allem Dazugehörigen von Verschwörung über Korruption bis hin zum Verrat. Vielmehr wirkt er wie der leicht irrläufige Versuch, den klassisch-finsteren Polar der Vorgängerdekade an die insbesondere durch Delon und Belmondo stark modifizierten, kommerzialisierten Genrestrukturen der achtziger Jahre zu adaptieren. Claude Brasseur als Hauptdarsteller steht ganz für die innere Zerrissenheit von „La Crime“: in einer Mischung aus systembedingter Resignation, persönlicher Depression und Lakonie als Selbstschutz bewegt er sich, belgisches Bier trinkend (jede Flasche wird mit den Zähnen geöffnet), Kette rauchend und hustend von Setting zu Setting, interviewt, verhört, verachtet lässt jede/n seine rotzige Geringschätzigkeit spüren mit Ausnahme eines jungen, aufrechten Kollegen (Luc-Antoine Diquéro), der als einziger noch seinen Anstand wahrt. Das Ganze inszeniert Labro mit einem beinahe analog scheinendem Eklektizismus: manche Einstellungen wirken beinahe aufreizend unbetreiligt bis lustlos, gerade so, wie für eine x-beliebige TV-Serie inszeniert, wieder andere scheinen ultradramatischen Seufzern gleich, so etwa die, in der die Prostituierte Suzy (Dayle Haddon), just, als sie auf dem Wege ist, um reinen Tisch zu machen, in einem Fahrstuhl mit Benzin übergossen und angezündet wird, untermalt vom berühmten 2. Satz aus Beethovens 7. Sinfonie. Typen wie der verzweifelt strampelnde Philippe d’Alins, der einmal eine Dose Eierravioli serviert, wirken beinahe wie ein comic relief, derweil Trintignant nach einem prägnanten Kurzauftritt Seppuku mit einem Schälmesser begeht.
„La Crime“, immerhin ein sehr interessantes, durchaus launiges Werk (und von Dominik Graf wohl sehr geschätzt), lässt also schon das eine oder andere Fragezeichen aufploppen, die sich dann auch bewusst aller Antwort verweigern.

7/10

THE DAY OF THE JACKAL

„What codename will you use?“

The Day Of The Jackal (Der Schakal) ~ UK/F 1973
Directed By: Fred Zinnemann

Im September 1962: Nachdem das Attentat von Petit-Calmart auf den französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle gescheitert ist und dessen Mitinitiator Bastien-Thiry (Jean Sorel) zum Tode verurteilt wird, weigern sich die entkommenen, führenden Köpfe der rechtsnationalen OAS, kleinbeizugeben. Sie engagieren einen englischen Profikiller (Edward Fox), der fortan unter dem Codenamen „Schakal“ solitär die gesamte Organisation eines weiteren Anschlages plant. Minutiös und ohne Rücksicht auf zwischenzeitliche Hürden, dabei stets verfolgt von dem als besonders geschickt bekannten Ermittler Claude Lebel (Michael Lonsdale) und einer ganzen Batterie internationaler Unterstützer, bahnt sich der Schakal seinen Weg immer näher zu de Gaulle, bis er, fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem letzten Attentat, seine Mission zu erfüllen trachtet.

Der Killer als Held: Zur Entstehungszeit von „The Day Of The Jackal“, seiner drittletzten Regiearbeit, war der etwa 66-jährige Fred Zinnemann bereits ein recht spärlich arbeitender Filmemacher, der sich nurmehr noch vergleichsweise selten für ein Projekt einspannen ließ. Sieben Jahre zuvor hatte er für die Robert-Bolt-Adaption „A Man For All Seasons“ seinen zweiten Oscar gewonnen und war seither nicht mehr in Erscheinung getreten. Für diese Verfilmung eines Romans von Frederick Forsyth kehrte er auf den Inszenierungsstuhl zurück. „The Day Of The Jackal“ gliedert sich dabei passgenau in den umfangreicher werdenden Korpus zeitgenössischer, vornehmlich europäischer Thriller ein, die aus primär linker Perspektive mal mehr, mal weniger authentische Staatsstreiche, Verschwörungen und Politdystopien verhandelten. Nicht von ungefähr erinnert Zinnemanns hier befleißigter Stil häufig besonders an den von Costa-Gavras. Entgegen früherer, nicht selten von einer starken emotionalen Involvierung des Publikums geprägten Herangehensweisen ging Zinnemann diesmal nämlich höchst konzentriert und diszpliniert, mit fast asketischer Genauigkeit zu Werke. Eine beinahe dokumentarisch anmutende Akribie, eine allen Schmuckes entledigten Bildsprache nutzend und ohne Verwendung von extradiegetischer Filmmusik schildert er die sich über fast ein Jahr hinziehenden Vorbereitungen des Killers, der, trotz einer großen Menge ihn zentrierender Szenen für den Zuschauer ein biographisch und auch weitgehend psychologisch unbeschriebenes Blatt bleibt. Der damals noch unbekannte Edward Fox spielt die Titelrolle in einer ganz eigenen Mixtur aus Charisma, diabolischer Intelligenz und Zielstrebigkeit, die sein unnachgiebiges Vorwärtskommen glaubhaft werden lässt. Mehrfach einkalkulierte und durchgeführte Identitätswechsel zählen ebenso dazu wie die Fähigkeit, jeder noch so brisanten Situation zu entgehen. Dass er so schnell wie emotionslos tötet, wer ihm im Wege ist, lässt den Schluss zu, dass seine Skrupellosigkeit mindestens von soziopathischen Persönlichkeitszügen profitiert. Wer versucht, ihn zu übervorteilen, wie ein genuesischer Ausweisfälscher (Ronald Pickup), stirbt umgehend, zudem lotet der Schakal rigoros die Schwächen von WegeskreuzerInnen aus, um sie sich nutzbar zu machen. Eine nur oberflächlich kühle, ausgehungerte Strohwitwe (Delphine Seyrig), deren Landvilla der Killer als Unterschlupf ausersieht, muss daraufhin ebenso das Zeitliche segnen wie ein Homosexueller (Anton Rodgers), in dessen Pariser Wohnung er sich zwischenzeitlich versteckt hält. Sein Engagement wird ihm dabei irgendwann zur Privatsache, augenscheinlich sogar unabhängig von der Bezahlung seiner zweiten Auslobungshälfte: Zwischenzeitlich immer wieder eingekreist oder identifiziert, verzichtet der Schakal auf jede sich ihm bietende Option zur Flucht und behält die Erfüllung der Mission stoisch im Blick, was ihn letzten Endes das Leben kosten wird. Hernach wird er anonym in einem schmucklosen Grab beigesetzt, seinen erfolgreichen Widersacher Lebel als einzigen Beerdigungsgast.
Dabei liegt Zinnemanns paradoxestes Verdienst vielleicht darin, den villain, der so viel mehr sinistren Sex vorschützt als der schlaffe Lonsdale, zum dramaturgischen Helden zu deklarieren – vielleicht wünscht man dem Schakal nicht eben, dass es ihm gelingt, de Gaulle zu erschießen, dennoch tut es einem irgendwie leid um ihn, der sich doch über fast zweieinhalb Erzählstunden diese immense Mühe gemacht hat.

9/10

MALICE

„You want something done right, you call a teacher.“

Malice ~ USA 1993
Directed By: Harold Becker

Grundschullehrerin Tracy (Nicole Kidman) und ihr Gatte, College-Dozent Andy Safian (Bill Pullman), versuchen, sich, wenngleich nicht sonderlich wohlhabend, als junges Ehepaar gemeinsam eine solide Existenz in einem kleinen Städtchen Massachusetts aufzubauen. Einzig ihr Kinderwunsch mochte sich bislang noch nicht erfüllen. Zudem trübt sich das junge Glück dergestalt, dass ein verrückter Serientäter junge Studentinnen angreift und teilweise ermordet. Als jedoch ein früherer Highschool-Mitschüler von Andy, der mittlerweile als höchst renommiert geltende Chirurg und Filou Jed Hill (Alec Baldwin), sich in ihrem Haus als Untermieter einnistet, beginnt das eigentliche Unglück. Tracy, die seit längerem unter starken Unterleibsschmerzen leidet, muss eines Nachts von Hill notoperiert werden. Der Eingriff resultiert in einer unfreiwilligen Sterilisation Tracys, die daraufhin das Krankenhaus erfolgreich auf hohen Schadenersatz verklagt und Andy gekränkt verlässt. Doch dieser gibt sich mit dem frustrierenden Ausgang der Dinge nicht zufrieden, zumal er feststellt, dass sich einiges an der ganzen Angelegenheit als höchst nebulös entpuppt. Er sucht Tracys früheren Frauenarzt auf und erlebt eine herbe Überraschung…

„Malice“ ist eine schicke, oberflächenglänzende Noir-Variation, wie es sie in der ersten Hälfte der Neunziger zu Dutzenden gibt – ein aus ausschließlich hochbefähigten professionals bestehendes Team hinter und vor der Kamera garantiert für Krimi-Kurzweil ohne jedwede Nachhaltigkeit. Der nach Rob Reiners lehrbuchmäßig gescriptetem „A Few Good Men“ just reüssierende Aaron Sorkin verfasste hierfür sein zweites Drehbuch, Regisseur Harold Becker hatte seine Qualitäten unter anderem durch drei hervorragende Polizeifilme, zwei davon nach Joseph Wambaugh, unter Beweis stellen können. Der Score mit einigem Wiedererkennungswert geht auf das Kerbholz eines wie zumeist brillanten Jerry Goldsmith und Gordon Willis, ein Schlüssel-dp New Hollywoods, photographierte das Ganze. Ein Trio aufstrebender, gut aussehender Jungstars, darunter Nicole Kidman auf dem peak ihrer sexyness, dürfte derweil ein größeres Publikum attrahiert haben, derweil ihr Support aus einer Mischung von Altstars (Anne Bancroft, George C. Scott) in Kleinstrollen sowie frischen Gesichtern mit Zukunftspotenzial (Gwyneth Paltrow, Tobin Bell) bestand. Dass ein solch gerüttelt Maß an Hollywood-Power einen dennoch bestenfalls mediokren Film zuwege brachte, dürfte unter anderem ein Indiz für die Irrwege jener oftmals lust- und motivationslos werkelnden Studioära sein, die – oftmals verzweifelt – versuchte, mit Serienkiller- und/oder Erotikthrillern eine sich rasch totlaufende Genrenische zu bedienen. „Malice“ lebt zuvorderst von seinem selbstberauscht-„genialen“ Twist, der Jed und Tracy als couple fatal offenbart, dass einen siebenstelligen Millionenbetrag absahnen und damit durchbrennen will, derweil der brave, moralisch intakte Uni-Professor mit ausgebeulten Cordhosen und herausgerissenem Herzen in die Röhre gucken soll.
Eine Storyklitsche, die, mit Ausnahme ihrer perfiden Durchführung vielleicht, wahrhaftig kein kriminalistisches Neuland aufzubieten weiß. Damit nicht genug baut Sorkin zur Streckung der Spielzeit einen überkandidelten Subplot um besagten Mörder ein, als welcher sich Campus-Hausmeister Tobin Bell mit mehreren lockeren Schrauben entpuppt. Jener wird natürlich um die Mitte des Plots von Andy entlarvt und gestellt, derweil die ganze Sache im Prinzip bloß die eine Funktion hat, eine bedeutsame Spermaprobe hervorzuzaubern. Bei aller Konstruktionsfreude lässt Sorkin es auf der anderen Seite immer wieder an Schlüssigkeit und Logik vermissen, was schlussendlich für ein geradezu ärgerlich anmutendes Missverhältnis der Dinge sorgt.

5/10

THE HANDS OF ORLAC

Zitat entfällt.

The Hands Of Orlac (Die unheimlichen Hände des Dr. Orlak) ~ UK/F 1960
Directed By: Edmond T. Gréville

Just auf dem Wege zu seiner Hochzeit in Paris crasht das privat gecharterte Flugzeug des gefeierten Konzertpianisten Steven Orlac (Mel Ferrer) im dichten Nebel. Ausgerechnet die filigranen Hände des Musikgenies werden dabei schwer beschädigt. Nur durch das eifrige Insistieren seiner Verlobten Louise (Lucile Saint-Simon) wird eine eilends anberaumte Notoperation möglich, die der Chirurg Professor Volchett (Donald Wolfit) durchführt: Er transplantiert Orlac die Haut der Hände des unmittelbar zuvor hingerichteten Frauenmörders Vasseur. Nachdem Orlac aus dem Krankenhaus entlassen ist, begeht er mit seiner Braut die Flitterwochen an der Côte d’Azur. Doch der brillante Pianist ist nicht mehr derselbe: Seine „neuen“ Hände scheinen ein unheimliches Eigenleben zu führen und ihren Besitzer zu sinistren Taten anzustiften, anstatt wie vor dem Unfall die Muße erklingen zu lassen. Bevor es zu einem größeren Unglück kommen kann (die Hauskatze wurde bereits mit gebrochenem Genick aufgefunden), flieht Orlac nach Marseille und stürzt sich incognito in das verruchte Nachtleben des hiesigen Hafenviertels. Dort werden der abgehalfterte Varieté-Zauberer Nero (Christopher Lee) und seine ihm hörige Gehilfin Li Lang (Dany Carrel) auf den Verzweifelten aufmerksam und wollen seinen instabilen Zustand ausnutzen.

Die dritte Adaption von Maurice Renards berühmtem Schauerroman entstand als englisch-französische Koproduktion in Konkurrenz zu den just im Erstarken begriffenen Horrorfilmen von Studios wie Hammer oder Anglo-Amalgamated, die häufig psychologischen Grusel mit campigem Grand Guignol zu vermengen pflegten. Dazu passte auch Renards Stoff, der streng genommen keinerlei übernatürlichen Duktus besitzt: Orlacs allmählich aufkeimender Wahn ist lediglich seiner psychischen Labilität sowie neurotischen Imagination geschuldet und wird von dem eigentlichen Unhold Nero noch zusätzlich forciert. Im Gegensatz zu Robert Wienes expressionistischer Version von 1924 und Karl Freunds MGM-Horrordrama „Mad Love“ (das ohnehin eine ganz andere inhaltliche Entwicklung vornimmt) geriert sich der Plot als zusehends konfus: Wie der finstere Nero an Orlacs Vermögen kommen will, bleibt weithin nebulös; auch sein Plan, den irrlichternden Musikus zum Mord an seiner Frau Louise anzustiften, misslingt. Orlac kann noch rechtzeitig in Erfahrung bringen, dass sein Organspender Vasseur gar kein Mörder war und unschuldig exekutiert wurde, womit er selbst zugleich von allem potenziellen Wahnsinn sowie jedweder Schuld entlastet wird. Immerhin bekommt Nero noch sein gerechtes Fett weg – nicht ohne zuvor öffentlichkeitswirksam auf der Bühne seine abtrünnige Partnerin ermordet zu haben, was ihn endgültig zum veritablen Bösewicht stempelt.
Die Konstellation Ferrer/Lee ist noch das Sensationellste an Grévilles über weite Strecken etwas ziellos vor sich her mäanderndem Film: die zwei Darsteller befinden sich auf dem jeweiligen Zenit ihrer Kunst und besonders Lee kann abseits seiner diversen Monster- und Mörderrollen unter dicker Maske zeigen, was wirklich in ihm steckt. Nicht zu vergessen Donald Pleasence in einer Minirolle als leicht entglittener Künstler, der Orlacs Hände modellieren will. Gewiss ist fürderhin auch der charmante Spekulationsfaktor nicht zu unterschätzen, der besonders in den Marseille-Szenen mit ihren schummrigen Matrosenspelunken zum Tragen kommt, in denen Ferrer seine dräuende Verkommenheit mittels Dreitagebart, speckigem Jacket und angetrunkenem Schlafzimmerblick simuliert. Natürlich rettet die Liebe am Ende alles, nur die arme Katze, die bleibt tot. Aber das könnten auch die Zigeuner gewesen sein.

6/10

SEEKING JUSTICE

„The hungry rabbit jumps.“

Seeking Justice (Pakt der Rache) ~ USA 2011
Directed By: Roger Donaldson

Will Gerard (Nicolas Cage) ist Englischlehrer an der Rampart High in New Orleans und glücklich verheiratet mit der schönen Musikerin Laura (January Jones). Den fortschreitenden Absturz der schönen Stadt in die Kriminalität registriert Will eher beiläufig – bis zu dem schicksalhaften Abend, als Laura vergewaltigt und schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wird. Dort taucht bald auch ein mysteriöser Unbekannter (Guy Pearce) auf, der sich Will als „Simon“ vorstellt und ihm das Angebot unterbreitet, den Missetäter (Alex Van) seiner privaten Justiz auszuliefern und diesen somit ohne den ordentlichen Rechtsweg kurzerhand zu exekutieren. Im Gegenzug würde Will irgendwann um einen kleineren Gefallen gebeten. Der emotional aufgewühlte Ehemann willigt zaghaft ein und erhält tatsächlich bald die Nachricht vom Tode des Vergewaltigers. Es dauert nicht lang, bis sich Simon wieder meldet und Will mit der Observierung und schließlich der Ermordung des angeblichen Kinderpornographen Alan Marsh (Jason Davis) zu beauftragen. Der verzweifelte Will weigert sich zunächst, doch Simons Mittel und Wege, sich Menschen gefügig zu machen sind überaus perfid. Als Will Marsh zu konfrontieren versucht, stirbt dieser durch einen selbstverursachten Unfall. Will findet heraus, dass Marsh mitnichten ein Krimineller war, sondern ein investigativer Journalist, der Simons Vigilantenzirkel auf die Spur gekommen ist…

Um es gleich vorwegzunehmen: „Seeking Justice“ empfand ich als die schwächsten Arbeit innerhalb meiner kleinen Roger-Donaldson-Werkschau. Zwar konnte der Filmemacher sich nunmehr rühmen, dass auch Nicolas Cage sich der stattlichen Galerie seiner vielen leading men anschloss, dass dieser aber um 2011 herum bereits längst sein letztes Karrierehoch hinter sich gelassen hatte und vornehmlich in eher halbseidenen Filmen auftrat, passt zugleich zum brüchigen Gesamteindruck des Werks. Darin spielt Cage eine Figur von klassisch-hitchcock’schem Format, einen aufrechten Bürger, der infolge eines moralischen Fehltritts im angreifbarsten aller Momente unversehens in ein Wespennest gerät, das schließlich ihn und seine gesamte Existenz zu verzehren droht. Die Grundkonstellation ist dabei ein wenig an die von „Strangers On A Train“ angelehnt, verlagert sich dann jedoch rasch auf den Topos der völlig entfesselten, übergebührlich agierenden Bürgerwehr, deren Initiator Eugene Cook alias „Simon“ auf seinem Feldzug längst der eigenen Hybris erlegen und zum Faschisten avanciert ist. Dies wiederum hat zur Folge, dass nicht nur durch die Maschen der Gerichtsbarkeit geschlüpfte Gewaltverbrecher sterben müssen, sondern jede/r, der Cooks Organisation durch Aufdeckung oder Verrat gefährlich werden könnte.
Die Idee einer sich auf verhängnisvolle Weise verselbstständigenden Parajustiz ist natürlich nicht neu und zieht sich auch nicht erst durch das Genre, seit Harry Callahan in „Magnum Force“ bereits 38 Jahre vor „Seeking Justice“ einigen metaexekutiv zu Werke gehenden Polizeikollegen die Leviten zu lesen hatte. Nun ist Will Gerard kein reaktionärer Cop, sondern ein Poesie und Grammatik zugetaner Feingeist, der sich und seine Frau aus der zumindest teilverschuldeten Schlinge retten muss. Dass die Tentakel von Cooks Vigilantenzirkel bereits wesentlich weiter greifen als es zunächst den Anschein hat, legt sich das Script von „Seeking Justice“ selbst als clevere Enthüllung im Stil von „Fight Club“ aus, nur dass sämtliche Beteiligten bzw. Eingeweihten statt eines blauen Auges die Kenntnis der Geheimparole vorweisen können. Damit – und nicht nur damit – schneidet sich der formal mit der üblichen Sorgfalt gestaltete und nichtmal unspannende Film jedoch tief ins eigene Fleisch und demontiert sein Konzept zu großen Teilen selbst. Durch die nämlich bis in höchste gesellschaftliche Institutionen fortgeschrittene Partizipierung hoher gesellschaftlicher Institutionen – ein Police-Lieutenant (Xander Berkeley) gehört dazu, ein Chefredakteur (Mike Pniewski) und sogar Wills bester Freund und Schulrektor Jimmy (Harold Perrineau) – hat sich die so bitter befürchtete Sicherheit von Cooks Geheimorganisation längst selbst rissig gemacht und führt sich der gesamte Film somit ad absurdum. Die Folge davon ist, dass „Seeking Justice“ sich den eigenen Teppich unter den Füßen wegreißt; eine empfindliche Störung jedweder Logik und Kausalität, die sich, gerade unter Inbetrachtziehung eines Regisseurs, der sehr genau weiß, was er wie zu inszenieren hat, auch nicht durch einen etwaig gewähnten Status als „Pocornkino“, „guilty pleasure“ oder Befleißigung ähnlichen Behelfsvokabulars apologisieren lässt.
„Seeking Justice“ wird für mich somit primär als redundante Verschwendung von Talent im Gedächtnis bleiben.

5/10