…tick…tick…tick…

„I’m the sheriff. Not the white sheriff. Not the black sheriff. Not the soul sheriff. But the SHERIFF!“

…tick…tick…tick… ~ USA 1970
Directed By: Ralph Nelson

Jim Price (Jim Price) ist der neue, offiziell mehrheitlich gewählte Bezirkssheriff von Colusa County, einem prototypischen Südstaatennest. Widerwillig bis frustriert räumt sein Vorgänger John Little (George Kennedy) am Tag von Prices Amtsantritt seinen lange polierten Stuhl im Office; weniger, weil er Missgunst oder Neid empfindet, sondern weil Little ganz genau weiß: Mit Price als Sheriff steht Ärger ins Haus. Selbiger ist nämlich Afroamerikaner, eine Ungeheuerlichkeit in der noch immer halbheimlich von den guten alten Dixie-Werten und dem Einfluss des Ku-Klux-Klan geprägten Kleinstadt, in der people of colour zwar die Bevölkerungsmajorität stellen, jedoch wenig bis gar nichts zu melden haben. Und tatsächlich schlagen Price von Minute Eins an beinahe ausschließlich Ressentiments und Despektierlichkeiten entgegen: die vormaligen Deputys quittieren johlend den Dienst, die übrigen Weißen schauen ungläubig bis ablehnend drein. Vor allem der vormalige Hilfssheriff Springer (Don Stroud) mag sich so gar nicht mit dem neuen Ordnungshüter anfreunden. Und als Price „seiner“ Community versichert, er sei kein verlängerter Black-Power-Arm, ist er auch bei dieser untendurch. Als er einen betrunkenen Raser (Robert Random) aus dem Nachbarbezirk, der infolge eines selbstverursachten Unfalls ein kleines Mädchen auf dem Gewissen hat, festnimmt und einsperrt, gerät Price endgültig in Bedrängnis. Der Fahrer entpuppt sich als jüngster Filius des reichen und darüberhinaus rassistischen Patriarchen Braddock (Karl Swenson), der glaubt, über dem Gesetz zu stehen, zumal, da dieses vor Ort durch Price repräsentiert wird. Nunmehr ist jener nicht nur auf die Unterstützung seines frischgebackenen Deputys John Little angewiesen, sondern auf die sämtlicher Menschen der Kleinstadt, denn Braddock naht bereits mit einer Riesenkolonne, um den Sohnemann herauszuhauen…

Als durchaus domestizierter Anti-Rassismus-Polizeifilm in der Nachfolge zu Norman Jewisons „In The Heat Of The Night“ (aus dem gleich noch der hagere Anthony James zurückkehrt), dem man trotz der protagonistischen Mitwirkung des später genau in jenem Sektor reüssierenden Ex-Footballers Jim Brown kaum nachsagen kann, die gerade im Anrollen begriffene Blaxploitation-Welle zu antizipieren, bleibt „…tick…tick…tick…“ eher eine künstlerische Fußnote im Gesamtwerk seines Regisseurs Ralph Nelson. Mit dem nur etwa acht Monate später nachgeschobenen Western „Soldier Blue“, nicht zuletzt ja auch eine berühmte My-Lai-Paraphrase, trat Nelson mittels eines ungleich wütenderen und graphischeren Films nach, der seine Kritik am weißen amerikanischen Selbstverständnis völlig gnadenlos jedweder Versöhnlichkeit entledigte und Filmfiguren wie Publikum mit blankem Hass auf die fahlhäutigen Schlächter zurückließ. „…tick…tick…tick…“ wirkt da im Vergleich beinahe antithetisch; er predigt Akzeptanz, Toleranz, Verständnis und die Überwindung von Vorurteilen; Werte, die das gepflegt unglaubwürdige Finale nochmals gewinnend unterstreicht. Mit Ausnahme des unverbesserlichen Redneck-Proleten Springer helfen nämlich sämtliche Colusa-Männer, egal ob schwarz oder weiß, bei der (erfolgreich gewaltfrei praktizierten) Abwehr der üblen, frechen Selbstjustizler aus dem benachbarten County. Einigkeit macht, soviel immerhin darf als gesichert gelten, stark, zumal gegen die noch blöderen Hillbillys von jenseits des Flusses. Das erkennen sogar der greise Major Parks (Fredric March) und sein Hausboy Homer (Ernest Anderson), die insgeheim längst die Zeichen der jüngsten liberalism era erfasst haben. Mit Besonnenheit und Objektivität erwirtschaftet sich Sheriff Price also sein allseitiges Scherflein Respekt, dafür ganz ohne Häme oder gar Waffengewalt. Eine fromme, manchmal sogar zu verschmitzter Komik neigende Utopie, deren stets ausgleichend balancierende Liebenswürdigkeit die Realität, aber auch diverse Beteiligte und Nachzügler rasch Lügen straften: Nelson lieferte besagten „Soldier Blue“, Brown mischte unter anderem als waffenstarrender p.i. Jim Slaughter gleich zweimal weiße Mafiosi auf und Terence Young setzte vier Jahre später mit „The Klansman“ sein höchst persönliches, zutiefst versoffenes Südstaaten-Kleinstadt-Porträt nach, das zwar ungleich räudiger, aber auch wesentlich vitaler als „…tick…tick…tick…“ daherkam. Mit dem tatsächlichen Colusa in Kalifornien hat der Filmschauplatz trotz vor Ort abgelichteter Originalsets nebenbei nichts zu tun. Hier befinden wir uns zweifelsohne irgendwo in Kentucky, Georgia, Alabama oder Mississippi.

6/10

THE GIFT

„Kids are mean.“ – „Kids are honest.“

The Gift ~ USA 2015
Directed By: Joel Edgerton

Das Ehepaar Simon (Jason Bateman) und Robyn Callem (Rebecca Hall) zieht von Chicago nach Los Angeles, wo Simon einen aufstiegsversprechenden Posten angetreten hat. Während die beiden dabei sind, das neue Haus einzurichten, treffen sie in der Mall auf Gordon Moseley (Joel Edgerton), einen alten Schulkameraden von Simon, an den dieser sich jedoch nicht unmittelbar erinnert. Von diesem Moment an heftet sich Gordon, genannt „Gordo“, immer dichter an das Ehepaar, hinterlässt Geschenke und besucht Robyn häufiger, wenn Simon auf der Arbeit ist. Diesem werden Gordos Aufdringlichkeiten bald zuviel und im Zuge eines etwas seltsam verlaufenden Besuch in dessen Haus macht Simon Gordo klar, dass er ihn und Robyn künftig in Ruhe lassen soll. Obschon Gordo in einem Brief versichert, dass er sich dieem Wunsch fügen wird, kommt es zu immer bedrohlicheren Ereignissen im Haus der Callems: Der Hund verschwindet für ein paar Tage spurlos, Robyn, die meint, einen Fremden im Haus zu sehen, erleidet einen mehrstündigen Blackout. Als sie schließlich schwanger wird – zum zweiten Mal, nachdem sie einst eine stressbedingte Fehlgeburt hatte -, und Simon befördert wird, scheint sich alles zum Guten zu wenden. Eine Monate später stattfindende, zufällige Begegnung mit Gordo führt dazu, dass Robyn schließlich ihre eigenen Nachforschungen über dessen und Simons gemeinsame Vergangenheit anstellt. Diese offenbaren ihr vor allem eine Erkenntnis: Ihr Gatte ist nicht der Mann, den sie seit Jahren zu kennen glaubt…

Sein Langfilmdebüt als Autor und Regisseur konnte Joel Edgerton bei Blumhouse unterbringen, wobei „The Gift“ sich zumindest auf den ersten Blick durchaus konform in das genregeprägte Portfolio von Jason Blums Company eingliedert. In rein dramaturgischer Hinsicht arbeitet der Film nämlich zuvorderst mit zweierlei durchaus gängigen Suspense-Elementen: Der Evozierung einer von zunehmender Bedrohung geprägten Stalking-Atmosphäre sowie dem sorgsam vorbereiteten twist, der die vormals als halbwegs zuverlässig eingestufte Wahrnehmung der Rezipientenschaft mit der genüsslichen Weisheit der sich allmählich anbahnenden, eigentlich doch längst offensichtlichen Erkenntnis auf den Kopf stellt. Während mit Simon Callem und Gordo Moseley zwei männliche Antagonisten mit gemeinsamer, trüber Vergangenheit, die ganz genau um die sie unweigerlich aneinander schweißenden, lange zurückliegenden Ereignisse wissen, ihr heimliches Katz-und-Maus-Spiel entfesseln, ist man als ZuschauerIn auf die Perspektive der Protagonistin Robyn Callem angewiesen, einer von Rebecca Hall wie gewohnt als selbstbewusste, kluge und sympathische Person gespielten „Frau „woman with issues“. Denn auch diese gibt es, wie sich bald zeigt – Robyn litt vormals unter anscheinend paranoiden Episoden, die die Nutzung starker Beruhigungsmittel erforderten und wohl auch mitverantwortlich waren für den unfreiwilligen Schwangerschaftsabbruch. Der Umzug nach Kalifornien soll demnach auch für sie eine biographische Zäsur mit sich führen – zumindest dürfte dies dem Traum ihres Ehemannes von einem makellosen Familienleben zupass kommen. Doch ist Simon eben nur vorgeblich selbst frei von charakterlichem Dunst. Ob er am Ende, als er, schicksalsbedingter wie moralisch ausgebooteter Verlierer und finale Projektionsfläche seiner Ränkespiele, alles verloren hat, zur große Selbsterkenntnis befähigt sein wird, bleibt fraglich. Wenn jedoch in jüngeren psychologisch gefärbten Medienessays von Narzissten, Sozio- oder Psychopathen und Gaslightern die Rede ist, dann ist zumindest die Publikums-„Analyse“ schnell bei der Hand: Um so einen (oder vielleicht alles auf einmal) handelt es sich auch bei Simon Callem, der zeitlebens rücksichtslos verbrannte Erde hinterlässt, weil er es eben kann.
Simons Demaskierung nun geht, mit Ausnahme des Verlusts von ein paar Koi-Karpfen, stets in halbwegs zivilisierten Bahnen vonstatten; selbst der putzige Haushund Mister Bojangles baumelt nicht wie zunächst befürchtet am Apfelbaum im Garten, sondern kommt einfach zurück. Moseley erweist sich als geschickt genug, seine frühere Nemesis mit den eigenen Waffen zu schlagen, ohne dabei selbst zum Kapitalverbrecher zu werden. Timing und suggestive Verunsicherung genügen. Damit ist „The Gift“ womöglich der cleanste Rachethriller der letzten zehn Jahre.

7/10

PEARL

„I’m a star! Please, help me!“

Pearl ~ USA/CAN 2022
Directed By: Ti West

Texas, 1918. Für die Farmerstochter Pearl (Mia Goth) ist der ländliche Alltag ein veritabler Albtraum. Jung verheiratet, kämpft ihr Mann Howard (Alistair Sewell) an der Front in Europa, die Spanische Grippe hat die welt fest im Griff. Und dann sind da noch ihre Eltern. Pearls Vater (Matthew Sunderland) ist völlig paralysiert und pflegebedürftig, ihre Mutter Ruth (Tandi Wright) schwelgt in einer unablässigen Spießrute aus Ekel, Hass und Verbitterung. Pearl bleiben nurmehr ihre Tagträume, in denen sie als berühmte Tänzerin in den von ihr geliebten Hollywood-Kinofilmen auftritt. Dementsprechend tragen sämtliche Tiere auf der Farm die Namen ihrer Lieblingsstars, allen voran Theda, eine gefräßige Alligatorendame im Teich hinter dem Grundstück. Pearl ist nämlich auch eine Psychopathin, die nicht zulässt, dass ihr jemand ihre Illusionen abspenstig macht und deren unkontrollierbare Gewaltausbrüche bald einen blutigen Strudel entfachen…

Mit dem wunderbaren „Pearl“, seinem bisherigen Meisterwerk, gelingt Ti West das nonchalante Kunststück, der bereits sehr schönen 70s-Slasher-Hommage „X“ ein noch formvollendeteres, im selben Jahr entstandenes Prequel zuzusetzen, diverse zeitgenössisch tiefschlagende Covid-Seitenhiebe inbegriffen. Darin erfährt man einiges über die Hintergründe der im Vorwerk wütenden Seniorin Pearl, in deren Innerem kurz vorm Finale nochmal sämtliche Emotionen und Gelüste gegen das welke Fleisch der Vergänglichkeit rebellieren. Dass Pearl als junge Frau ein frappierend analoges Ebenbild des koksenden, aufstrebenden Pornostarlets Maxine abgab, respektive abgibt, hat man sich in Anbetracht von Mia Goths Doppelrolle bereits denken mögen – der endgültige Beweis dafür folgte dann quasi auf dem Fuße. Der große Benefit von „Pearl“ als zutiefst eigenständiges Werk trotz inhaltlicher Anbindung liegt insbesondere darin, dass er die Bürde, sich als Reminiszenz an ein beliebtes (Sub-)Genre zu verstehen, gänzlich abstreifen kann, bilden doch Zeit- und Milieukolorit in diesem Fall ein weitgehend unbeackertes Feld insbesondere im Horrorfilm. Pearl wirkt eher wie eine Art überreife Dorothy aus „The Wizard Of Oz“ in der 1939er-MGM-Musical- Adaption mit Judy Garland. Ihren ganz persönlichen sense of wonder fabuliert sie sich, gewissermaßen ebenso wie das berühmte Quasi-Vorbild, fahrradfahrend dem allseits frustrierenden Grau ihrer Sackgassenexistenz hinzu. Der gewaltige Orkan aus Kansas bleibt in Texas allerdings aus, zumindest gegenständlich, und ins zauberhafte Land trägt er Pearl erst recht nicht. Dennoch will sie alles, was ihr vorenthalten bleibt, und das so uneingeschränkt wie maßlos: bildschöne Bonbonfarben, ruchlosen Rausch, völlige Freiheit und lasterhafte Lust. Darum bendelt sie zunächst mit einer Vogelscheuche an, mit der sie einen explosiven Orgasmus erlebt und später mit dem sich smart gebenden Kino-Vorführer (David Corenswet) aus der Stadt, der ihr einen frühen Pornofilm zeigt und dann etwas von Europa und Berühmtheit vorfaselt. Als Pearl später mit Pauken und Trompeten bei einem Erfolg versprechenden Tanzwettbewerb durchfällt, den sie zum letzten Ticket aus der inneren und äußeren Einöde wähnt, ist es ohnehin längst zu spät für sie, denn da hat sie bereits drei Morde begangen (oder zumindest drei, von denen wir wissen können). Und auch der vierte lässt nicht lange auf sich warten nach einem der berückendsten Monologe, den das Kino der letzten Jahrzehnte bereithält und derweil ein madenzerfressendes Schwein auf der Veranda darbt als unwiderstehliches Bild für den rapiden Zerfall der letzten paar Fetzen von Pearls psychischer Stabilität. Dann kommt Howard aus dem Krieg zurück und trotz eines geflissentlich bizarren Empfangs daheim ist ja längst evident, dass er Verständnis aufbringen und alles tun wird, um sie zu schützen. Ein unwiderstehlich morbides happy end.

10/10

BONES AND ALL

„Maybe love will set you free.“

Bones And All ~ USA/I 2022
Drected By: Luca Guadagnino

Virginia, um die Mitte der achtziger Jahre. Die Teenagerin Maren (Taylor Russell) lebt mit ihrem Vater (André Holland), der versucht, sie weitestgehend von Gleichaltrigen und der Gesellschaft überhaupt abzuschirmen, in einem kargen Bungalow. Als sich Maren eines Abends zu einer Freundin (Kendle Coffey) schleicht, um an einer Pyjama-Party teilzunehmen, kommt es zu einem befremdlichen Ereignis: Maren beißt einem der Mädchen selbstvergessen in den Finger und isst das Fleisch. Kurz darauf ist ihr Vater, dem Maren das Ganze zuvor beichtet, verschwunden. Außer ihrer Geburtsurkunde, ein wenig Bargeld und einer Cassette mit ausführlichen Erläuterungen ihres Dads darauf hinterlässt er ihr nichts. Maren beginnt eine lange Reise Richtung Minnesota, wo ihre ihr unbekannte Mutter Janelle (Chloë Sevigny) leben soll. Durch das Tape und die Begegnung mit einem kauzigen alten Drifter namens Sully (Mark Rylance) erfährt Maren, wer und was sie ist: Sie gehört zu einer genetisch mutierten Gemeinschaft kannibalistisch lebender Außenseiter, den sich selbst so nennenden „Eaters“, die von Zeit zu Zeit der unbändige Drang überkommt, Menschenfleisch zu verzehren und deren Phänotyp sich von Generation zu Generation weitervererbt. Als Maren während der Eiterfahrt auf den etwa gleichaltrigen Eater Lee (Timothée Chalamet) trifft, bahnt sich zwischen den beiden eine Romanze an, die Maren nach einem verstörenden Treffen mit ihrer psychiatrisch institutionalisierten Mutter jedoch wieder abbricht. Schließlich begreift sie, dass sie und Lee sich brauchen und kehrt zu ihm zurück. Gemeinsam beschließt man, sich eine konventionelle Existenz aufzubauen, doch das Schicksal meint es anders…

Mit „Bones And All“, der Adaption eines romantischen Jugend-Horrorromans von Camille DeAngelis, legt Luca Guadagnino ein elegisches, ebenso behutsam wie gemächlich erzähltes Road Movie vor, das den traditionellerweise eher garstig konnotierten Genretopos Kannibalismus (die Eaters könnten eine Art Nachfahren des mythologischen „Wendigo“-Dämons sein) auch für ein wohlfeil abgestecktes Arthouse-Publikum goutierbar werden lässt. Diese zugegebenermaßen etwas brüske Einordnung ist dabei keineswegs abschätzig gemeint, sondern soll vielmehr unterstreichen, in welche Richtung sich das Horrorkino in den letzten Jahren entwickelt. Filme wie dieser beweisen eindrucksvoll, dass die Gattung sich eine Form der Anerkennung und Mündigkeit erobert hat, die vor einem Vierteljahrhundert in dieser Ausprägung noch undenkbar gewesen wäre; raus aus dem schummrigen Dämmerlicht des stets als leicht schmuddelig verrufenen Exploitationhappenings für schwitzige Convention-Besucher hin zum respektierten Gesellschaftsdiskurs mit Blut und Eingeweiden. Wie James Grays just meinerseits genossene, überaus wesensverwandte Coming-of-Age-Bestandsaufnahme „Armageddon Time“ blickt auch „Bones And All“ zurück auf die den nordamerikanischen Kontinent ergreifende Verzweiflung der aufziehenden respektive bereits aufgezogenen Ära Reagan und reflektiert anhand dieser die nicht minder akute, zeitgenössischere Ratlosigkeit Trump-Jahre. Die in Anbetracht des sie nachhaltig verunsichernden Realitätsabgleichs in Abgründe starrende Maren und der jüngere New Yorker Paul Graff haben mancherlei gemein: Als Außenseiter einer zunehmend reaktionärer und repressiver agierenden Gesellschaft sehen sie sich, an biographischen Wegscheiden stehend, mit basalen Existenzfragen konfrontiert: Wie viel von mir darf ich überhaupt noch ausleben, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen? Wie viel unbequeme Individualität ist gestattet in einer Welt aus Angst und Hass? Der Kannibalismus als ultimatives Sozialtabu lässt sich da leicht als übergeordnetes Bild interpretieren für alles Mögliche, was der Konservativismus an Zielscheiben ausersieht; seien es Ressentiments gegen bestimmte Ethnien, sexuelle Orientierungen oder andere vermeintliche Unangepasstheiten. Das durchaus konsequente Ende erschien mir dann wie ein versöhnlich umgedeuteter Brückenschlag zu Eckhart Schmidts exakt vierzig Jahre älterem „Der Fan“ (mit dem eine gemeinsame Betrachtung vielleicht ohnehin gar nicht uninteressant wäre): Die komplette Einverleibung des Geliebten als ultimativer Treuebeweis.

9/10

ROMEO IS BLEEDING

„You don’t own love. Love owns you.“

Romeo Is Bleeding ~ USA/UK 1993
Directed By: Peter Medak

Der im Zeugenschutzprogramm tätige Jack Grimaldi (Gary Oldman) gehört zur schlimmsten Sorte korrupter Cops. Gegen saftiges Entgelt verrät er die Aufenthaltsorte brisanter Kronzeugen an die Mafia und nimmt dafür auch in Kauf, dass bei den anschließenden Exekutionsaktionen seine eigenen Kollegen dran glauben müssen. Seine Ehefrau Natalie (Annabella Sciorra) betrügt er derweil mit der naiven Kellnerin Sheri (Juliette Lewis). Als Grimaldi von Berufs wegen die russische Profikillerin Mona Demarkov (Lena Olin) kennenlernt, gerät er zwischen alle Fronten. Während Mafiaboss Falcone (Roy Scheider) die Demarkov, mit der er früher ein Techtelmechtel hatte, tot sehen will und Grimaldi erpresserisch nötigt, den Auftrag auszuführen, verführt diese den irrlichternden Beamten und bringt ihn dazu, ihr dabei zu helfen, ihren eigenen Tod zu fingieren. Doch nicht nur, dass sie sich hernach weigert, Grimaldi zu bezahlen, wird die psychotische Mörderin für ihn selbst zur tödlichen Gefahr…

„Romeo Is Bleeding“ entstand im Zuge der Neo-Noir-Welle in den frühen bis mittleren Neunzigern, während derer eine ganze Reihe in Aficionadokreisen beleumundeter Filmemacher der allmählich aufziehenden Ratlosigkeit des zusehends blasierter werdenden Blockbuster-Kinos entsprechende Werke entgegensetzten. Loner und Drifter waren deren Antihelden, betrügerische Femmes fatales und korrupte Bullen, mutige Kleinstadtsheriffs, unbeirrbare Killer, obercoole Gangster und Pärchen auf der Flucht. Die gezeigte und suggerierte Gewalt nahm sich häufig übermäßig aus und selten kam es zu glücklichen Abschlüssen für die ProtagonistInnen. Quentin Tarantino profitierte bekanntermaßen ganz besonders von dieser Strömung, avancierte zu everybody’s darling und hernach zu deren vorderstem Leitwolf und Stichtwortgeber, indem er die zuvor noch bierernst durchgespielte Nostalgie der relativ dicht an die klassischen hardboiled stories angelehnten Krimis ironisch aufbrach und seinem ausgesprochen kalifornischen Märchengauneruniversum einverleibte. Zuvor jedoch gab es Filme wie den vorliegenden von Peter Medak, in dem der ungebremste, tiefe Fall der Hauptfigur im Zentrum steht, gänzlich unkomisch und ergänzend mit dem diegetischen Pathos des Off-Kommentars versehen.
Jack Grimaldi wird von Gary Oldman wie eine Art Vorstudie zu seinem kurz darauf interpretierten, noch hundertmal toxischeren Polizisten Stansfield aus Luc Bessons „Léon“ angelegt. Dessen endgültige Gewissenlosigkeit und haltlose Diabolik muss sich Grimaldi erst noch aneignen, vielleicht wird er später unter anderem Namen bei den New Yorker Narcs anfangen. Dabei ist sein abwärts gerichtetes Schicksal rundheraus selbst verschuldet: Dieser Polizist lügt, betrügt, übervorteilt und verkauft die eigene Seele, bis er allein in irgendeinem Kleinstadtkaff vergeblich auf die unter Garantie niemals eintretende Erlösung wartet. Dabei meint es auch das Fatum selbst alles andere als gut mit ihm; der sinistren Cleverness seiner Widersacherin etwa ist Grimaldi völlig unterlegen. Sie bringt ihn dazu, seine Frau aufzugeben, sein Betthäschen und später noch den hiesigen Paten umzubringen. Von seinen sorgsam angehäuften, im Garten verscharrten Müllsäcken mit schmutzigem Cash wird er nichts mehr haben. Der letzte Akt der Abrechnung schließlich kommt so verzweifelt wie persönlich daher, doch auch dieser kann Grimalds tote Träume nicht wieder zum Leben erwecken.

7/10

ARMAGEDDON TIME

„I want you to be better than me.“

Armageddon Time (Zeiten des Umbruchs) ~ USA/BRA 2022
Directed By: James Gray

Queens, New York im Herbst 1980. Der Teenager Paul Graff (Banks Repeta) ist ein Träumer, ganz zum Unwohlsein seiner Familie, die den mit Vorliebe Superhelden zeichnenden Jungen als „etwas langsam“ etikettiert. Einzig Pauls Großvater Aaron (Anthony Hopkins), der noch höchstselbst den sich sukzessiv steigernden Antisemitismus in der Alten Welt miterlebt hat, gelingt es, zu dem eigensinnigen Paul durchzudringen und ihm die eine oder andere Lebensweisheit mit auf den Weg zu geben. Die Zeiten sind demzufolge nicht einfach für Paul. Die Freundschaft zu seinem noch wesentlich ausgegrenzteren, afroamerikanischen Klassenkameraden Johnny (Jaylin Webb), der dem ihm unentwegt entgegenbrandenden Rassismus mit offener Rebellion begegnet, sorgt für mancherlei Ärger und führt schließlich dazu, dass Paul dieselbe elitäre Privatschule besuchen muss wie sein Bruder Ted (Ryan Sell), eine Brutstätte für weiße Oberklassenrepublikaner, die den just zum 40. US-Präsidenten gewählten Ronald Reagan als neuen Heilsbringer erachten. Dennoch bricht Pauls Freundschaft zu Johnny nicht wirklich ab; der verzweifelte Versuch, aus ihrer beider Trostlosigkeit auszubrechen, scheitert jedoch.

James Grays Filme sind, beginnend mit seinem 1994er Debüt „Little Odessa“, allesamt wunderbar und folgen einem ungebrochen gepflegten Autorenethos, der seiner zumindest in thematischer Hinsicht durchaus heterogenen Arbeit noch keinen Qualitätseinbruch beschert hat. Auch in seiner achten Langfilmregie kultiviert Gray, New-York-Chronist und ausgewiesener Melancholiker, aufs Neue seinen für ihn längst typischen, oftmals schwermütig anmutenden Hang zur Langsamkeit, die ihre Dramatik aus unspektakulär anmutenden Alltagsgeschehnissen bezieht. Jene halten für einen Jungen an der Schwelle zur Pubertät eine Vielzahl biographischer Zäsuren bereit. Gray bemüht dazu vor herbstlichen Sepiabildern diverse autobiographische Details und Anekdoten, die „Armageddon Time“ zu einem seiner bislang persönlichsten Filme machen. Viel passiert in diesem New Yorker November 1980: Paul registriert zunächst hilflos, dass er seinen Eltern (Anne Hathaway, Jeremy Strong) de facto mehr Kummer als Stolz bereitet – sein Freund Johnny bringt ihn parallel dazu pausenlos auf dumme Gedanken. Renitentes Verhalten gegenüber dem überforderten Klassenlehrer (Andrew Polk), eine Tour auf eigene Faust durch Manhattan, schließlich ein Joint auf dem Schulklo. Genug, um den Vater zur Verabreichung einer gehörigen Tracht Prügel zu veranlassen, den Besuch der öffentlichen Bildungsanstalt dringlichst abzuwürgen und Paul stattdessen auf die „Forest Manor“ zu schicken, eine von Fred C. Trump (John Diehl) beschirmherrte Privatschule mit entsprechender Klientel. Sowohl Trump (Donalds Vater) als auch seine Tochter Maryanne (Jessica Chastain) lassen es sich nicht nehmen, die Schülerschaft allenthalben durch ideologisch verbrämte Ansprachen „auf Kurs“ zu bringen, analog zu Reagans sich abzeichnendem Wahlsieg. Ethnische Minderheiten gelten an der Forest Manor wenig bis nichts; Paul fühlt sich unwohl, verspürt zugleich aber dennoch die Notwendigkeit, dazu gehören zu müssen. Als sein geliebter Großvater Aaron an Konchenkrebs stirbt, erschüttert dies die gesamte Familie derart bis in die Grundfesten, als sei ihr Rückgrat gebrochen. Doch aus der geplanten Flucht nach vorn, einem Ausriss mit Johnny Richtung Florida, wird nichts. Paul verliert den Freund und muss sich den Unebenheiten und Ungerechtigkeiten des Erwachsenwerdends fügen.
Seinen Titel verdankt „Armageddon Time“ zweierlei: zum einen dem inflationären Gebrauch des Terminus durch Reagan, der seinerzeit mit den dräuenden Ängsten vorm atomaren Weltende jonglierte wie ein Schimpanse mit Bananen, zum anderen der B-Seite der Clash-Single „London Calling“, einer wunderbar dub-infizierten Coverversion des Willie-Williams-Songs „Armagideon Time“. Entsprechend leitmotivisch verfolgt der Track Paul und den Film vom Anfang bis zum Ende.

8/10

INEXORABLE

Zitat entfällt.

Inexorable (Eiskalter Engel) ~ B/F 2021
Directed By: Fabrice du Welz

Just als die reiche Verlegerin Jeanne (Mélanie Doutey) mit ihrem Gatten, dem einst von ihr berühmt gemachten Autoren Marcel Bellmer (Benoît Poelvoorde) und der gemeinsamen kleinen Tochter Lucie (Janaina Halloy) auf das stattliche Familienanwesen in der Provinz zurückzieht, macht die Familie die Bekanntschaft der verloren erscheinenden Gloria (Alba Gaïa Bellugi). Gloria gewinnt rasch Lucies Sympathien. Auch Jeanne und Marcel schenken ihr bald Vertrauen und stellen die junge Frau als Hausmädchen ein. Doch pflegt Gloria ihre ganz persönliche Agenda, die in einer dunklen, gemeinsamen Vergangenheit mit Marcel fußt und die das familiäre Idyll geradewegs in den Abgrund führt.

Seinen steten Hang zur Erkundung menschlicher Abseitigkeiten pflegt der Belgier Fabrice du Welz auch in seiner jüngsten Regiearbeit wieder aufs Neue. Obschon die durchaus klassisch anmutende Grundkonstellation, in der es um die umfassende Vergeltung einer um ihre Existenz geprellten und verratenen Frauen-, respektive Tochterfigur geht, vergleichsweise tradierte Tropen bedient, gelingt es du Welz dennoch, seiner Inszenierung eine tiefe Abgründigkeit zu verleihen, die andere Filmemacher in dieser Konsequenz möglicherweise gescheut hätten. Jener böse Fatalismus resultiert nicht zuletzt aus dem „Inexorable“ inhärenten Welt- und Menschenbild, in dem es im Prinzip nur zwei rundheraus unschuldige Figuren gibt: das noch im Grundschulalter befindliche Mädchen Lucie und den schneeweißen, zu Beginn des Films aus dem Tierheim adoptierten Schäferhund Odysseus. Dieser symbolisiert gewissermaßen den Dreh- und Angelpunkt für Glorias zunächst noch diffusen Plan. Indem sie sich das Vertrauen von Hund und Kind erschleicht, öffnen sich Gloria Tür und Tor zu ihrem eigenen Vorhaben, das bei aller Perfidie auf einer tief gestörten, autoaggressiv geprägten Borderline-Persönlichkeit gründet. Doch auch das Ehepaar krankt an Lügen und Trugbildern. Weder ist Marcel in Wahrheit der als genialisch gefeierte Literat, den alle Welt in ihm wähnt, noch vermag Jeanne seine vermeintlich mittelfristig stagnierende Kreativität durch ihre offenen, sexuellen Avancen zu befördern. Lucie legt auf ihrer eigentlich als soziale Initiation geplanten Geburtstagsparty ein empörliches Black-Metal-Playback hin; auf den armen, braven Odysseus wartet die Todesspritze. Der höhlende Wurm steckt da längst im Apfel; Gloria muss ihn nurmehr um ein paar wenige Häppchen nähren und ans Tageslicht locken. Am Ende ihrer destruktiven Bemühungen steht dann tatsächlich die Auflösung der Bastion Familie; die Karten liegen auf dem Tisch, das blutige Duell zweier reziprok entkernter Seelen endet mit einem Remis. Die Überlebenden werden diese sinistren Ereignisse noch lange beschäftigen.

8/10

AMAZING GRACE

„Your life is a thread. It breaks, or it doesn’t break.“

Amazing Grace ~ UK/USA 2006
Directed By: Michael Apted

England, 1782. Der junge Parlamentarier William Wilberforce (Ioan Gruffudd) exponiert sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit öffentlich als leidenschaftlicher Gegner des Sklavenhandels. Auch sein bester Freund, der spätere Premierminister William Pitt (Benedict Cumberbatch), steht, obgleich politkarrieristisch wesentlich ambitionierter, auf Wilberforces Seite. Pitt ist es auch, der Wilberforce einem kleinen Zirkel von abolitionistischen Aktivisten vorstellt, darunter der Theologe Thomas Clarkson (Rufus Sewell) und der Ex-Sklave Olaudah Equiano (Youssou N’Dour). Zunächst erweisen sich Wilberforces Bemühungen im Unterhaus als zwecklos; allzu gewichtig ist der Widerstand der an der Sklaverei verdienenden Lobby. Viele Jahre des unermüdlichen Kampfes und der Überzeugungsarbeit stehen Wilberforce bevor, bis am 25. März 1807 ein Gesetz zum Verbot des Sklavenhandels im britischen Machtbereich mit großer Mehrheit durchgesetzt und erlassen wird. Nur drei Tage nach der endgültige Abschaffung der Sklaverei in Großbritannien stirbt Wilberforce am 29. Juli 1833.

Michael Apteds Biopic über einen der der maßgeblichen Abolitionisten in Europa verzichtet anders als viele historisch grundierte Filme über die Sklavereiganz bewusst darauf, die inhumanen Zustände vor Ort, also in Afrika, auf den Schiffen oder in den Kolonien zu bebildern und unterscheidet sich allein dadurch in beträchtlicher Weise von den diversen, oft deutlich populäreren Kino- und TV-Klassikern zum Thema. Wilberforce, ein Kind der Aufklärung und der damit einhergehenden, humanistischen Strömungen, bezieht seine Maximen höchstselbst nicht aus unmittelbaren Zeugnissen der global grassierenden Unmenschlichkeit, sondern aus dem, was ihm mündlich und schriftlich zugetragen wird. Als ein maßgeblicher Faktor ergibt sich die Bekanntschaft mit dem alternden Ex-Sklavenschiffskapitän John Newton (Albert Finney), der, innerlich geläutert und zum Christ geworden, erst Jahrzehnte der Buße und Einkehr benötigt, bevor er als mittlerweile Erblindeter seine Memoiren zu Diktat gibt.
Bis zur körperlichen Aufzehrung widmet sich Wilberforce seinem Ziel; er wird krank und süchtig nach Laudanum. Erst die Heirat mit der starken Barbara Spooner (Romola Garai) verleiht ihm die Kraft, weiter für die Abschaffung der Sklavenhandels einzutreten. Dabei gelingt es ihm, mehr und mehr auch prominente Stimmen wie den Lebemann Lord Fox (Michael Gambon) für seine Zwecke zu gewinnen.
„Amazing Grace“ wirkt in seiner gelassenen, akribischen und dennoch spannenden Art des Erzählens wie eine Fortführung der Welle biographischer Filme der dreißiger und vierziger Jahre aus Hollywood und England, von denen diverse etwa von William Dieterle inszeniert wurden. Diese pflegten ihre Titelcharaktere als getriebene und demzufolge oftmals auch anfällige Visionäre zu porträtieren, deren (geistige, technische oder materielle) Errungenschaften ihnen einen Platz im Pantheon großer Geister sicherten. Hier wie dort gab und gibt es eher wenig Platz für Kritik an den Protagonisten, derweil sie in besonderem Maße die Summe ihrer Fürsprecher, Unterstützer und natürlich Widersacher darstellen. Zu konstatieren, „Amazing Grace“ sei ein wenig aus der Zeit gefallen, wäre also sicherlich nicht ganz verfehlt. Für mich ist das neben vielen anderen jedoch eine seiner Hauptqualitäten.

8/10

DON’T WORRY DARLING

„Keep calm and carry on!“

Don’t Worry Darling ~ USA 2022
Directed By: Olivia Wilde

Dass irgendetwas nicht stimmt in der hermetisch abgeschotteten Firmenkommune Victory mit ihrer pastellfarbenen Fünfzigerjahre-Bonbonidylle nebst überkandidelter Werbeästhetik scheint die an der Oberfläche glücklich anmutende Alice (Florence Pugh) insgeheim längst registriert zu haben. Als ihre Freundin Margaret (KiKi Layne) sich im Sinne der wohlfeil organisierten Gemeinschaft zudem plötzlich höchst seltsam benimmt, diverse ortsgebundene Regeln übertritt und nach einem Selbstmordversuch spurlos verschwindet, manifestieren sich schließlich auch Alices Bedenken. Analog dazu als sie beginnt, die gleichförmige Alltagskulisse von Victory zu hinterfragen, im Trüben zu stochern und ihr nach dem Company-Patriarchen Frank (Chris Pine) und dessen Frau Shelley (Gemma Chan) auch noch ihr eigener, geliebter Mann Jack (Harry Styles) die Gunst entzieht, bricht sich ihr Unterbewusstsein Bahn…

Olivia Wildes zweiter Film „Don’t Worry Darling“ möchte leider wesentlich cleverer sein als er es letzten Endes zu sein bewerkstelligt. Seine dezidiert twistorientierte Ausrichtung, auf die mit aller Gewalt hingearbeitet wird, erweist sich als Konglomerat diverser mental anverwandter (Genre-)Vorläufer und/oder Archetypen, die vermutlich nur dann halbwegs effektiv funktioniert, wenn sie auf ein entsprechend unbeflissenes Publikum trifft. Andernfalls schießen einem geradezu unwillkürlich rasch etliche, mögliche Inspirationsquellen durch den Kopf, mit denen Script und Regie ausgiebig Schlitten fahren, um daraus ein immerhin mäßig launiges Feminismuspamphlet zu stricken. Man stelle sich vor, die urhebenden Damen haben ein großes Süppchen angerührt aus: „The Stepford Wives“, „Skeletons“, „Dark City“, „Pleasantville“, „The Truman Show“, „The 13th Floor“, „The Matrix“ bis hin zu „Antebellum“ sowie natürlich David Lynchs albtraumhaften Vorstadt-Zerrbildern nebst Artverwandtem und das Ganze hernach in eine zeitgemäß aufgebrezelte, zumindest ambitioniert und kompetent inszenierte Form gegossen.
Die plotinterne VR, die Victory-Realität nämlich, entpuppt sich also als durch und durch misogyn und patriarchalisch geprägte virtual reality im technischen Wortsinne (und nicht etwa in ihrer plastisch konstruierten Form wie etwa bei Levin/Forbes, DeCoteau oder Weir), innerhalb der mit ganz wenigen Ausnahmen nur die Männer wissen, dass ihre Körper im abgeschalteten Ruhezustand schlummern, während „ihre“ dauersedierten Frauen unfreiwillig einem obsoleten, archaischen Rollenverständnis zum Opfer gefallen sind. Dabei inszeniert sich der ominöse, grauenhaft ölige Frank (eine ironische, nominelle Reminsizenz an Dennis Hoppers gleichnamige Figur in „Blue Velvet“ möglicherweise…?) als eine Art gönnerhafter Sektenguru, der im Zuge pompöser Auftritte predigt, was seine fehlgeleiteten Testsosteronfollower von ihm erwarten, bis ihm irgendwann, als die ganze Geschichte implodiert, die eigene Gattin schließlich enerviert den Versagerstöpsel zieht.
„Don’t Worry Darling“ ist kein schlechter Film und beinhaltet sogar eine amtliche Regieleistung. Er vermag seine RezipientInnenschaft abzuholen und über die gesamte Distanz mitzunehmen, trägt schlussendlich jedoch die nicht zu unterschätzende Bürde der kompromisslosen Durchschaubarkeit, die nach einigem Abstand zur Betrachtung doch recht viel heiße Luft hinterlässt.

6/10

THE NIGHT HOUSE

„You were right. Here is nothing. You’re safe now.“

The Night House (The House At Night) ~ USA/UK 2020
Directed By: David Bruckner

Vom einen auf den anderen Tag ändert sich das Leben für die High-School-Lehrerin Beth (Rebecca Hall) radikal: ihr Mann Owen (Evan Jonigkeit) schießt sich nächtens gänzlich unerwartet in den Kopf – dabei galt doch sie selbst stets als der labile, depressive Part innerhalb ihrer Beziehung. Die nunmehr allein in dem von Owen in Eigenarbeit gebauten, pittoresken Seehaus in Upstate New York lebende Beth ist nach einigen paranormalen Erlebnissen schon bald der festen Überzeugung, dass Owens Geist noch präsent ist und ihr etwas mitteilen möchte, das über die kurzen drei Sätze in seiner schriftlich hinterlassenen Abschiedsnachricht hinausgeht. Ihre Recherchen fördern bald Vieles zutage, das sie nicht über Owen wusste, ihn respektive als noch mysteriöser erscheinen lässt. So findet Beth diverse Handyfotos, die Frauen zeigen, die ihr selbst physisch sehr ähnlich sind und entdeckt auf der gegenüberliegenden Seeseite ein leerstehendes, verlottertes Haus, dessen Grundriss dem ihren fast exakt gleicht – nur, dass dort alles spiegelverkehrt ist…

Das Jenseitige als Inversion des Diesseits mit dem Spiegel als Tor in die Zwischenwelt – dieses Bild wurde schon häufig als effektives Gimmick im Genrekino genutzt. Man denke an entsprechende Sequenzen aus Raimis „The Evil Dead“ oder Carpenters „Prince Of Darkness“, in denen Wandspiegel ihre physikalische Zuverlässigkeit einbüßen und in eine unergründliche, anderweltliche Chaosdimension münden. David Bruckners schöner „The Night House“ gründet auf diesem Topos gewissermaßen seine gesamte Geschichte – ein viele Jahre zurückliegendes Nahtoderlebnis der Protagonistin Beth erweist sich als keineswegs so substanz- und folgenlos, wie die gemeinhin als skeptische Atheistin bekannte Frau es sich selbst stets weiszumachen trachtete. Zumindest wurde sie bei ihrem Kurzausflug auf die andere Seite entdeckt und wahrgenommen, obschon ihre eigene Wahrnehmung ihr dies offenbar verschwieg. Mit welcher Vehemenz ebenjene Entität seither versucht, sich ihrer zu bemächtigen, das bekommt sie nach Owens überraschendem Suizid bald selbst zu spüren. Dass ihr Gatte zumindest über weite Phasen seines Privatlebens hinweg nicht der war, der er zu sein vorgab, gehört ebenso zur Entschlüsselung dieses Geheimnisses wie gleichermaßen zunehmend bedrohliche wie verwirrende Erlebnisse, die allmählich die Grenzen zwischen Traum und Realität aufzulösen beginnen. Bruckners gelassener, in entscheidenden Momenten allerdings gekonnt die Daumenschrauben anziehender Erzählduktus mit einigen glänzenden audiovisuellen Einfällen vertraut sich dabei ganz der Perspektive der von Rebecca Hall einnehmend gespielten Hauptfigur an. In diesem Zuge entspinnt sich ein hübscher Mysterythriller von angenehm ernster Gestalt, ein Horrorfilm zudem für ein ausgewiesen erwachsenes Publikum.
Dabei hat die eigentlich schönste Szene wenig mit der sich später herausschälenden Genreausprägung zu tun und liegt ziemlich am Anfang. BerufsgenossInnen werden wissen, welche ich meine…

8/10