BONES AND ALL

„Maybe love will set you free.“

Bones And All ~ USA/I 2022
Drected By: Luca Guadagnino

Virginia, um die Mitte der achtziger Jahre. Die Teenagerin Maren (Taylor Russell) lebt mit ihrem Vater (André Holland), der versucht, sie weitestgehend von Gleichaltrigen und der Gesellschaft überhaupt abzuschirmen, in einem kargen Bungalow. Als sich Maren eines Abends zu einer Freundin (Kendle Coffey) schleicht, um an einer Pyjama-Party teilzunehmen, kommt es zu einem befremdlichen Ereignis: Maren beißt einem der Mädchen selbstvergessen in den Finger und isst das Fleisch. Kurz darauf ist ihr Vater, dem Maren das Ganze zuvor beichtet, verschwunden. Außer ihrer Geburtsurkunde, ein wenig Bargeld und einer Cassette mit ausführlichen Erläuterungen ihres Dads darauf hinterlässt er ihr nichts. Maren beginnt eine lange Reise Richtung Minnesota, wo ihre ihr unbekannte Mutter Janelle (Chloë Sevigny) leben soll. Durch das Tape und die Begegnung mit einem kauzigen alten Drifter namens Sully (Mark Rylance) erfährt Maren, wer und was sie ist: Sie gehört zu einer genetisch mutierten Gemeinschaft kannibalistisch lebender Außenseiter, den sich selbst so nennenden „Eaters“, die von Zeit zu Zeit der unbändige Drang überkommt, Menschenfleisch zu verzehren und deren Phänotyp sich von Generation zu Generation weitervererbt. Als Maren während der Eiterfahrt auf den etwa gleichaltrigen Eater Lee (Timothée Chalamet) trifft, bahnt sich zwischen den beiden eine Romanze an, die Maren nach einem verstörenden Treffen mit ihrer psychiatrisch institutionalisierten Mutter jedoch wieder abbricht. Schließlich begreift sie, dass sie und Lee sich brauchen und kehrt zu ihm zurück. Gemeinsam beschließt man, sich eine konventionelle Existenz aufzubauen, doch das Schicksal meint es anders…

Mit „Bones And All“, der Adaption eines romantischen Jugend-Horrorromans von Camille DeAngelis, legt Luca Guadagnino ein elegisches, ebenso behutsam wie gemächlich erzähltes Road Movie vor, das den traditionellerweise eher garstig konnotierten Genretopos Kannibalismus (die Eaters könnten eine Art Nachfahren des mythologischen „Wendigo“-Dämons sein) auch für ein wohlfeil abgestecktes Arthouse-Publikum goutierbar werden lässt. Diese zugegebenermaßen etwas brüske Einordnung ist dabei keineswegs abschätzig gemeint, sondern soll vielmehr unterstreichen, in welche Richtung sich das Horrorkino in den letzten Jahren entwickelt. Filme wie dieser beweisen eindrucksvoll, dass die Gattung sich eine Form der Anerkennung und Mündigkeit erobert hat, die vor einem Vierteljahrhundert in dieser Ausprägung noch undenkbar gewesen wäre; raus aus dem schummrigen Dämmerlicht des stets als leicht schmuddelig verrufenen Exploitationhappenings für schwitzige Convention-Besucher hin zum respektierten Gesellschaftsdiskurs mit Blut und Eingeweiden. Wie James Grays just meinerseits genossene, überaus wesensverwandte Coming-of-Age-Bestandsaufnahme „Armageddon Time“ blickt auch „Bones And All“ zurück auf die den nordamerikanischen Kontinent ergreifende Verzweiflung der aufziehenden respektive bereits aufgezogenen Ära Reagan und reflektiert anhand dieser die nicht minder akute, zeitgenössischere Ratlosigkeit Trump-Jahre. Die in Anbetracht des sie nachhaltig verunsichernden Realitätsabgleichs in Abgründe starrende Maren und der jüngere New Yorker Paul Graff haben mancherlei gemein: Als Außenseiter einer zunehmend reaktionärer und repressiver agierenden Gesellschaft sehen sie sich, an biographischen Wegscheiden stehend, mit basalen Existenzfragen konfrontiert: Wie viel von mir darf ich überhaupt noch ausleben, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen? Wie viel unbequeme Individualität ist gestattet in einer Welt aus Angst und Hass? Der Kannibalismus als ultimatives Sozialtabu lässt sich da leicht als übergeordnetes Bild interpretieren für alles Mögliche, was der Konservativismus an Zielscheiben ausersieht; seien es Ressentiments gegen bestimmte Ethnien, sexuelle Orientierungen oder andere vermeintliche Unangepasstheiten. Das durchaus konsequente Ende erschien mir dann wie ein versöhnlich umgedeuteter Brückenschlag zu Eckhart Schmidts exakt vierzig Jahre älterem „Der Fan“ (mit dem eine gemeinsame Betrachtung vielleicht ohnehin gar nicht uninteressant wäre): Die komplette Einverleibung des Geliebten als ultimativer Treuebeweis.

9/10

THE CARD COUNTER

„All in.“

The Card Counter ~ USA/UK/CH/S 2021
Directed By: Paul Schrader

Nach achteinhalb Jahren Haft in Leavenworth nennt sich der vormalige PFC William Tillich (Oscar Isaac) nunmehr William Tell, reist von Casino zu Casino und verdient sein Geld als Kartenspieler beim Pokern und Black Jack. Die passenden Gewinnstrategien hat sich der einsame Drifter während seiner Gefängniszeit selbst beigebracht. Auf einem Kongress für Sicherheitstechnik begegnet er dem jungen Cirk (Tye Sheridan), der William unversehens seine Kontaktdaten übergibt. Cirk entpuppt sich als der Sohn von Roger Beaufort, der eine ganz ähnliche Vergangenheit wie William aufweist, an PTBS litt und sich das Leben genommen hat. Beide Männer dienten als Folterverhörspezialisten in Abu Ghraib unter dem Kommando von Major John Gordo (Willem Dafoe), der mittlerweile als Privatier reich geworden ist, während William und Roger as Sündenböcke herhalten und hohe Gefängnisstrafen absitzen mussten und mit ihren Erinnerungen nie fertig werden konnten. Cirk, für sein Alter recht hoch verschuldet, plant, sich an Gordo zu rächen, indem er ihn in der von ihm selbst vorexerzierten Weise foltert und tötet. William setzt sich zum Ziel, das zu verhindern und nimmt den jungen Mann, den er fortan „The Kid“ nennt, unter seine Fittiche. Gemeinsam mit der Spielerakquisiteurin La Linda (Tiffany Haddish), in die sich William verliebt, plant William, genug Geld für sich selbst und für Cirks Zukunft zu gewinnen und sich dann zur Ruhe zu setzen. Doch der Junge kann sich von seinen Rachegedanken nicht loslösen…

Paul Schrader schafft es auch in hohen Jahren und nachdem man hier und dort zwischenzeitlich bereits versucht war, ihn, ähnlich wie andere New-Hollywood-Veteranen wie Friedkin oder De Palma, als betagten Anti-Studio-Don-Quijote abzuwatschen, der den Kampf gegen die Geldgeber endgültig verloren hat, kleine Meisterwerke zu produzieren, ohne dabei auch nur einen Hauch seiner künstlerischen Signatur zu denunzieren. „The Card Counter“ steht als jüngster Film des calvinistischen auteurs in einer langen Motivgenealogie um schuldbeladene, einsame Männer, die sich in ihrer jeweiligen Profession strukturell einrichten und denen die tief im Inneren ersehnte Erlösung versagt bleibt. Erst ein vermeintlich sinnbeladener Gewaltakt scheint als Katalysator ihrer schlummernden, doch omnipräsenten Traumata der Katharsis Raum zu geben – notfalls auch um den Preis des eigenen, physischen Lebens. Durch die jüngeren Arbeiten zieht sich zudem immer wieder das Thema des Einsatzes der US-Streitkräfte im Irak nach 9/11 – früher war es Vietnam. William Tell, von Oscar Isaac in der mit Abstand besten Leistung, die ich bis dato von ihm gesehen habe, umwerfend gespielt, personifiziert in „The Card Counter“ erneut jenen Archetypus, dem man schon so häufig begegnet ist, den einamen Traumatisierten, der auf seinem Weg Herz und Lächeln eingebüßt hat und versucht, auf Erden zu bestehen – notfalls auch, indem er die Dinge auf eine wiederum verlustintensive Weise geradezurücken versucht. Schrader zeichnet den Weg Tillichs/Tells durch Motels und Casinos minutiös nach und schafft eine umfassende Charakteristik ohne viele Worte. Um Ruhe zu finden, kleidet William seine Zimmer stets sorgsam mit schneeweißen Laken aus und hängt alle Bilder ab; der Anschein äußerer Reinheit soll die innere bedingen. Er spielt nicht um des Spielens der gar des Nervenkitzels Willen, sondern um sich damit über Wasser zu halten, seiner Existenz eine sich selbst perpetuierende Alltagsstruktur zu verleihen – allesamt Facetten, die er am passiven Gefängnisleben zu schätzen gelernt hat. Gefühle für andere zuzulassen fällt ihm schwer, da sie zwangsläufig Unwägbarkeiten bedeuten und doch treten zwei Menschen in sein Leben, die schließlich so etwas wie das Miniaturmodell einer Familie repräsentieren. Wo jedoch die partnerschaftliche Liebe zögerlich erblüht (Schrader genehmigt sich hier eine wunderschöne Sequenz im beinahe psychedelisch beleuchteten Missouri Botanical Garden), wird die väterliche gewaltsam enttäuscht. Folter und Kasteiung bleiben unwiderrufliche Elemente in Williams Biographie. Robert Levon Beens sphärische Musik reichert die Sogwirkung von Schraders kontemplativer visueller Erzählweise nochmals an und verehrt „The Card Counter“ das letzte formale Finish. Brillant.

9/10

WEDLOCK

„You non-conformists are all alike.“

Wedlock ~ USA/UK 1991
Directed By: Lewis Teague

In naher Zukunft: Technikgenie Frank Warren (Rutger Hauer) wird nach einem groß angelegten Diamantenraub zunächst von seinen beiden Kompagnons Noelle (Joan Chen) und Sam (James Remar) hintergangen, hernach geschnappt und in das neue, privat organisierte Hochsicherheitsgefängnis „Camp Holliday“ überstellt, freilich nicht, ohne die Beute vorher in Sicherheit gebracht zu haben. In Camp Holliday erwartet Frank kein Zuckerschlecken: Wie alle dort einsitzenden Männer und Frauen erhält er ein hochtechnologisches Funkhalsband mit eingearbeitetem Plastikspengstoff, das explodiert, sobald es sich mehr als 100 Yards von seinem Gegenstück entfernt – wobei natürlich niemand weiß, wer sein/e oder ihr/e Wedlock-PartnerIn ist. Chef und Direktor Holliday (Stephen Tobolowsky) will Frank zudem mit allen Mitteln das Versteck der Diamanten entlocken und befleißigt sich dazu diverser, schäbiger Mittel. Insbesondere der hochaggressive Mitgefangene Emerald (Basil Wallace), der in Hollidays Diensten steht, drangsaliert Frank unentwegt. Unterdessen eröffnet ihm Tracy, dass ihr Halsband mit dem von Frank in Verbindung stehe, was dieser nicht recht glauben mag. Als es zum unausweichlichen Duell zwischen Frank und Emerald kommt, gelingt es Tracy, mit Frank zu fliehen. Nunmehr gilt es, gewissermaßen bombensicher aneinander gefesselt, vor der Polizei, vor Hollidays Leuten und auch vor Sam und Noelle, die mit Holliday zusammenarbeiten, zu fliehen. Und auf Frank wartet noch eine weitere, unangenehme Überraschung…

Dass „Wedlock“, den ich heuer erstmals gesehen habe, vor allem eine Actionkomödie ist, war mir nicht ganz klar. Ich hatte, in Unkenntnis des Inhalts ferner, eher ein futuristisches Knastszenario Marke „Fortress“ oder „No Escape“ erwartet, doch weit gefehlt. Tatsächlich steht eher die gemeinsame, turbulente Flucht und Paarbildung von Rutger Hauer und Mimi Rogers im Zentrum des mehr oder weniger temopreich inszenierten Geschehens, wobei infolge der wechselnden Stationen quer durch den Golden State auch klare Road-Movie-Elemente durchschimmern. Das Ganze ließe sich wohl am Ehesten als eine postmodernisierte Variation von Stanley Kramers „The Defiant Ones“ umreißen, minus dessen souialkritischen Impact und stattdessen „angereichert“ mit allerlei romantischen Verirrungen. Als relativ preisgünstig hergestellter HBO-Produktion fehlt es „Wedlock“ allerdings an Möglichkeiten: Sein futuristisches, in Teilen dystopisch angelegtes Szenario etwa bleibt weitgehende Behauptung. Mit Ausnahme der Tatsachen, dass der US-Strafvollzug infolge privatisierter Gefängnisse (ohne humanitäres Ethos) noch abenteuerlichere Züge annimmt als ohnehin schon sowie einer ab und zu kolportierten Wasserknappheit, sieht alles aus wie 1991. Die wenigen Actionszenen bleiben ziemlich bisslos und sein geringes Spannungspotenzial schöpft das Script aus zwei Sequenzen, in denen die Distanz zwischen Frank und Tracy zu groß zu werden droht. Man darf wohl vermuten, dass Teague, der sich im Rückblick nicht unzufrieden mit seiner Arbeit zeigt, das Bestmögliche aus seinen eingeschränkten Bedingungen herausholt. So zehrt „Wedlock“ primär von seinem antiproportional zu den production values zu verortendem, frisch aufspielenden Ensemble, das ein deutlich gesetzter wirkender, irgendwo zwischen larmoyanter Selbstironie und diebischer Spielfreude befindlicher (und somit sehr sehenswerter) Rutger Hauer souverän anführt.
Schade in jedem Falle, dass Lewis Teagues goldene Regiezeit auf die 1980er-Dekade (und somit immerhin ganze fünf schöne Filme) beschränkt bleibt und er danach fast ausschließlich Fernsehen machen musste.

6/10

SEIZED

„I never get my hands dirty.“

Seized ~ USA 2020
Directed By: Isaac Florentine

Nachdem Nero (Scott Adkins), der einst für den britischen Nachrichtendienst gearbeitet hat, verraten wurde, lebt er verwitwet, unter neuer Identität und als alleinerziehender Vater seines pubertierenden Sohnes Taylor (Matthew Garbacz) in Mexiko. Eines Tages wird Taylor von dem Kartellchef Mzamo (Mario Van Peebles) entführt und nur unter der Bedingung wieder frei gelassen, dass Nero als Mzamos Erfüllungsgehilfe sämtliche konkurrierenden Bosse mittels einer konzentrierten Großreinemachaktion aus dem Weg räumt. Nero lässt sich auf das Spiel ein, jedoch nicht ohne die Ankündigung, die Kidnapper am Ende selbst zur Rechenschaft zu ziehen…

Zu einem ziemlich langweiligen und zudem recht uninspirierten Resultat ist diese mittlerweile achte Zusammenarbeit von Regisseur Florentine und Scott Adkins gelangt: Letzterer schlägt sich als ehemaliger, nunmehr retirierter Superagent im Zuge der x-ten „Commando“-Variante durch eine unfreiwillige Terminierungsmission, die man gut und gern als verlockende Utopie aller mexikanischen Drogenkartellbosse bezeichnen möchte. Mario Van Peebles spielt diesen keinesfalls unsympathischen und neben einem breitkrempigen Cowboyhut auch mit einem hehren Ehrenkodex ausgestatteten Bösewicht als überaus menschlichen Ganoven mit karitativem Ansinnen – Erziehung, Bildung und Forschung wolle er subventionieren und könne dies eben am ungestörtesten leisten, wenn die lästige und sehr viel boshaftere Konkurrenz unter der Erde läge. Immerhin scheint Van Peebles die latente Ironie des Ganzen bewusst gewesen zu sein. Mit seiner Tongue-in-cheek-Performance bildet er den einzigen veritablen Lichtblick von „Seized“. Adkins als Nero mag derweil zwar nicht gern den erpressten Handlanger spielen, erledigt seine Tötungsaufträge jedoch trotzdem mit aller gebotenen Präzision und türmt hinter sich die Leichen zahlreicher böser Mexikaner auf. Am Ende trennen sich die beiden Widersacher schließlich gütlich – immerhin hatten sie gewissermaßen ja beide was von der ganzen Aktion, nicht zu unterschlagen, wie hoffnungslos albern die Vater-Sohn-Beziehung sich konturiert findet. Nun – Florentines und Adkins‘ B-Action-Biz ist gewiss nicht immer ganz einfach. Mit Kleinstbudgets für ein nicht allzu umfangreiches Zielpublikum arbeiten zu müssen, bedingt ja vermutlich diverse Zugeständnisse; wenn diese jedoch auf Kosten von Kreativität, Stil und Pacing gemacht werden, dann muss entsprechende Kritik erlaubt sein. „Seized“, mindestens so dümmlich wie oben teilweise eruiert, schleppt sich, unterbrochen von etlichen albernen Füllszenen und von hässlicher Digitalphotographie getragen durch seine kurze Spielzeit und kann nichtmal in punkto exzessiver Action punkten, denn auch diese bleibt stets verhalten und löst nichts von dem ein, was man sowohl von Florentine als auch von Adkins in der Vergangenheit schon sehr viel intensiver und druckvoller gesehen hat.
Neudeutsch nennt man das: lame.

3/10

THE WORLD’S FASTEST INDIAN

„Dirty old men need love too!“

The World’s Fastest Indian (Mit Herz und Hand) ~ NZ/USA/J 2005
Directed By: Roger Donaldson

Invercargill, Neuseeland, 1962. Burt Munro (Anthony Hopkins), ein recht betagter Herr, gilt zwar als etwas kauzig, ist mit seinem stets freundlichen Wesen jedoch bei jedermann in der kleinen Stadt beliebt. Sein ganzes Herz hängt an einem alten, 1920er Indian-Scout-Motorrad, an der er tagaus, tagein herumschraubt und das ein beachtliches Tempo erreicht. Burts größter Traum, die Spitzengeschwindigkeit seiner Maschine beim Bonneville Salt Flats in Utah zu testen, wird schließlich Wirklichkeit, als er dank einer Hypothek auf sein Häuschen, die finanziellen Mittel für den Trip beisammen hat. Eine billig ergatterte Schiffspassage bringt ihn und seine Indian Scout nach Kalifornien, ein günstig erstandener Gebrauchtwagen von dort aus beide nach Utah, wo Burt allen Vorbehalten zum Trotz nur den ersten von vielen noch folgenden Schnelligkeitsrekorden aufstellt.

Mit „The Worlds Fastest Indian“ stellte Roger Donaldson ein großes Herzensprojekt auf die Beine, an dem er zuvor bereits seit zwanzig Jahren gearbeitet hatte und dessen finale Produktion er schließlich in kompletter Eigeninitiative auf die Beine stellte. Nach diversen Filmen für die großen Hollywood-Studios bildet diese manifestierte Definition eines feel good movies ergo die persönlichste Arbeit des Regisseurs, dessen eigentlich so typisch unpassende deutsche Betitelung sich gewissermaßen als self fulfilling prophecy lesen lässt. Wie seine authentische Hauptfigur Burt Munro machte Donaldson damit vielleicht ein Stück unmöglich Gewähntes möglich. Das wunderbare Resultat, anders als seine teuren Auftragsarbeiten im weniger breiten 1,85:1-Format kadriert, erinnert ein wenig an die kontemplative Gelassenheit von David Lynchs „The Straight Story“ mit dem er manch basalen Zug teilt. Wie Alvin Straight ist auch Burt Munro ein innerlich ausgeglichener Mann, der trotz seiner hohen Jahre nicht allzu viel von der Welt außerhalb des alltäglichen Trotts gesehen hat, nunmehr jedoch seinen existenziellen Mikrokosmos aufbricht, um mit bescheidenen Mitteln ein weit entferntes Ziel zu erreichen. Natürlich kommt im vorliegenden Fall noch hinzu, dass dieses eine sportliche Herausforderung darstellt, die wiederum allerdings umso größer ist, als dass man sie ihrem Akteur aus Altersgründen nicht zutrauen mag. Doch wie jedes andere Problem beseitigt Burt Munro letzten Endes auch dieses durch sein gewinnendes Wesen – möglicherweise gerade bedingt durch seine Herkunft vom „Ende der Welt“ ist er ist das, was man einen Philanthropen nennen mag. Vorurteilsfrei beurteilt er die Menschen, die er trifft, nicht nach Ethnie, Sozialstatus oder sexueller Orientierung, sondern einzig nach ihrer Persönlichkeit. Diese simple Eigenschaft gewährt ihm allerorten Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit und macht ihn zum Gewinner der Herzen, wohin er auch kommt. Erwartbar, dass Burt Munro damit am Ende auch die private Herausforderung des speed record meistert.
Donaldson erzählt sein road movie mit einer rar gewordenen Gelassenheit, gibt jeder einzelnen, noch so aklimaktisch scheinenden Episode auf Burts Reise ausreichend Raum und hält im Herzen von „The World’s Fastest Indian“ für jeden einzelne seiner vielen Figuren ein Zimmer frei, ganz ohne sarkastische Brechungen. Vielleicht ist das alles dem einen oder anderen zu weichgespült, nicht hinreichend zynisch oder ermangelt eines gegenwärtig unerlässlichen, harten Realismus. Ich kann das nicht sagen. Mir und meinem Bauch hat dieser ziemlich wunderbare Film gut getan.

8/10

SENZA RAGIONE

Zitat entfällt.

Senza Ragione (Blutrausch) ~ I/UK 1973
Directed By: Silvio Narizzano

Drei Ganoven, der soziopathische Amerikaner Memphis (Telly Savalas), der kaum minder aufgedrehte Mosquito (Franco Nero) sowie dessen devote Freundin Maria (Ely Galleani), überfallen einen Juwelier (Giuseppe Mattei) in Rom. Auf der anschließenden Flucht durch ein paar enge Gassen schrotten sie ihren Wagen und stehlen stattdessen kurzerhand den Mercedes der Diplomatengattin Margaret Duncan (Beatrice Clary), auf dessen Rückbank sich Lennox (Mark Lester), der halbwüchsige Filius der Duncans, versteckt hält. Erst später registriert das Trio die Anwesenheit Lennox‘, womit die sich ohnehin planlos verlaufende, gen französische Grenze richtende Odyssee der Gangster vollends in eine Reise geradewegs ins verschneite Inferno verwandelt.

Für die mit Psychotikern ja geradezu gesäumten Flucht- und Amokgeschichten des italienischen Gangsterfilms der anni di piombo bildet „Senza Ragione“, dessen akurat übersetzter Titel eigentlich (und deutlich passender zudem) „Ohne Vernunft“ zu lauten hätte, nochmal einen kleinen Sonderfall dar. Das in Kooperation mit den Briten entstandene, wilde Road Movie kombiniert mit den Darstellern des Protagonistentrios ein lediglich auf den ersten Blick extravagant erscheinendes, für seine Entstehungszeit dann aber wiederum doch gar nicht mal so außerordentliches Antihelden-Kleeblatt. Selbst für das damalige darstellerische Œuvre Mark Lesters, des just auf seinem Zenit als Kinderstar befindlichen Filius des mitproduzierenden Michael Lester, bildet der psychologisch differenziert angelegte Part des zusehends aus seiner angestammten gesellschaftlichen Rolle fallenden Kidnapping-Opfers keine allzu spezifische Ausnahme.
Das zunächst noch als Quartett eingeführte Grüppchen gleicht rasch einer dysfunktionalen Familie, die durch die unberechenbaren gewaltvollen Ausbrüche ihres schwärzesten Schafs zunächst um ihren weiblichen Bestandteil dezimiert wird und dann immer weiter auf direktem Verderbniskurs navigiert. Ausnahmslos alles läuft von Anfang an schief für Mosquito und Memphis – insbesondere infolge der affektgesteuerten Unbeherrschtheit von letzterem, der im Laufe der Geschichte immer mehr unschuldige Opfer anhäuft, darunter einen Hirtenjungen und eine fünfköpfige deutsche Camperfamilie. Selbst eine dreibeinige Hündin, die Memphis treu nachläuft, bleibt nicht von ihm verschont. Dessen in direkter Folge fast immer höchst theatralisch geäußertes Bedauern über die jeweilige Gewalttat gehört gewissermaßen obligatorisch zum mörderischen Gesamtprocedere seines kopflosen Aktionismus. Ein verzweifelter Versuch von Mosquito und Lennox, sich von Memphis‘ abgründigem Weg zu emanzipieren, bleibt auf der Strecke, die (maskuline) Kernfamilie bleibt unweigerlich beisammen, bis zum bitterenden Ende. Dabei bevölkert sie ihre eigene Parallelwelt; sämtliche Personen außerhalb ihres Zirkels wirken wie Fremndkörper: die nur als phantomeske Staatsentität präsente Polizei, Lennox‘ desinteressierte Eltern, eine verblichene Adelige (Maria Michi), deren ruinöser, einsamer Palast Mosquito und Lennox nur sehr kurzzeitig als Sanktuarium dient.
Der ein ebenso überschaubares wie ungewöhnliches Regiewerk aufweisende Italo-Kanadier Narizzano inszeniert sein Werk analog zum chaotischen Trip seiner Figuren durchweg ruppig, ungeschliffen und teils sogar improvisiert scheinend. Wenn „Senza Ragione“ überhaupt eine wie auch immer geartete Form von „Schönheit“ aufweist, dann nimmt sich diese so vorsätzlich unelegant wie morbid aus. Dass der Film anders als viele seiner weitaus weniger prominent besetzten, zeitgenössisch entstandenen Gattungsgenossen sich irgendwie krampfhaft jeder hochgejubelten Wiederentdeckung sperrt, spricht Bände – zu unbequem, zu abstrakt, zu böse vielleicht, scheint er mir.
So wird in den meisten deutschsprachigen Reviews zu „Senza Ragione“ zudem gern und leidenschaftlich wider dessen Synchronfassung kolportiert, für die ich an dieser Stelle einmal ausnahmsweise in die Bresche springen möchte. Der erst 1983 anlässlich der hiesigen Videopremiere angefertigten Berliner Brunnemann-Vertonung von Michael Richter (der unter anderem auch für das legendäre „Söldnerkommando“ verantwortlich zeichnete, was den wiederkehrenden Begriff „Bratenbengel“ erklärt) wird vorgeworfen, sie kalauere unentwegt daher und zerstöre dadurch die melancholische Grundstimmung des Geschehens. In der Tat trägt feuert insbesondere der auf Savalas besetzte Edgar Ott seine oftmals monologischen Zeilen vor allem zu Beginn ab, als befände er sich in einem absurden Theaterstück. Das ist, zumal anfänglich, in dieser Form gewiss gewöhnungsbedürftig, ergänzt „Senza Ragione“ aber vielmehr nochmals um jene ganz besondere, eigene Kunstform des Synchronfachs, die sich dann im weiteren Verlauf irgendwann doch der zusehends nihilistischen Atmosphäre unterwirft und trotz aller halsbrecherischen Verbaldrescherei den Film niemals zur befürchteten, albernen Komödie degradiert.

8/10

LOVE AND MONSTERS

„Don’t settle. You don’t have to. Even at the end of the world.“

Love And Monsters ~ CAN/USA/AUS 2020
Directed By: Michael Matthews

In Abwendung eines drohenden Meteoriteneinschlags schießt die Menschheit biochemische Raketen ins All. Der anschließende Fallout sorgt dafür, dass sämtliche kaltblütigen Tiere zu gewaltigen, fressgierigen Monstern mutieren und die Erdbevölkerung von diesen dann doch noch stark dezimiert wird. Die verbliebenen Überlebenden schließen sich zu Kolonien zusammen, die sich, stets auf der Hut vor den Kreaturen, in hermetisch abgeriegelten Verstecken verbarrikadieren. Sieben Jahre nach der Apokalypse lebt der Midtwen Joel (Dylan O’Brien), der einst seine Eltern verloren hat, als einziger Single bei einer Kolonie unterirdisch hausender, junger Leute und begnügt sich dort mit einem eher ereignislosen Dasein als Suppenkoch. Als er eines Tages per Funk seine frühere Freundin Aimee (Jessica Henwick) aufspürt, reift in ihm der Wunsch, zu ihr zu gelangen, um die alte Liebe neu zu entflammen. Schließlich macht er sich zu Fuß auf die gefährliche Reise durch die Monsterwelt und findet am Ende etwas ganz anderes, als er erwartet hätte…

Nachdem ich bereits drauf und dran war, „Love & Monsters“ nach den ersten Minuten, in denen er sich geriert wie eine postapokalyptische nerd comedy im Stil des fürchterlichen „Zombieland“, flugs abzuhaken, holte mich Michael Matthews zweite Feature-Regie dann doch noch amtlich ab und nahm mich mit sich auf seine liebenswerte Reise. Spätestens in dem Moment, in der Joel seinen Hund Boy trifft und fortan mit ihm durch Dick und Dünn geht, hatte das hübsche Fantasymärchen auch euren Chronisten auf seiner Seite, bekanntermaßen ja großer Hundeliebhaber und insofern daraufhin voll bei der Stange. Doch natürlich ist der prächtige Boy nicht die einzige Attraktion, mit der der in Australien on location formidabel photographierte „Love And Monsters“ aufzuwarten weiß. Die glücklicherweise nicht inflationär, sondern als wohltemperierte Höhepunkte gesetzten Monsterkreationen gestalten sich durchweg grandios und sind von einer herzerfrischenden Kreativität, wie man sie im entsprechenden CGI-Bereich so selten findet. Dass die Viecher, zu denen man weitestgehend auch einen lädierten, Joel im Mittelteil über eine emotionale Durststrecke hinweghelfenden Roboter zählen kann, dann auch keinesfalls eindimensional, sondern sogar regelrecht nuanciert charakterisiert werden, zeugt von der gemeinhin recht anthroposophischen Weltsicht, die der Film trotz seines oberflächlich fatalistischen Themas zu transportieren schafft. Er liebt mit Ausnahme von den paar obligatorischen Bösewichtern am Ende seine menschlichen und tierischen Figuren und sogar seine Ungeheuer durch die Bank und setzt dem Zynismus der meisten Endzeitfilme damit ein geradezu kontrapunktives Signal. Auf blutige Details verzichtet „Love And Monsters“ dabei trotz deren eigentlich naheliegender Verwendung beinahe vollkommen und bietet sich somit gar als lohnenswertes Programm für etwas reifere Kinder an. Mein 9- oder 10-jähriges Ich hätte er jedenfalls zu frenetischen Begeisterungsstürmen hingerissen, doch auch die Fantasie im reiferen Manne kommt durchaus zu ihrem abenteuerlustigem Recht.
Dass Matthews – ob nun bewusst oder nicht – ganz nebenbei ein gar nicht mal so sehr auf den Kopf gestelltes Remake von Rob Reiners immergrünem Coming-of-Age-Klassiker „The Sure Thing“ liefert, welches aus Daphne Zunigas damaligem Part kurzerhand einen Australian Kelpie macht, ist ein weiterer Bonus dieses unerwartet schönen Films. Two thumbs up.

8/10

NOMADLAND

„What’s remembered lives.“

Nomadland ~ USA/D 2020
Directed By: Chloé Zhao

Das Städtchen Empire, Nevada stirbt mit der Schließung der hiesig ansässigen Gipsfabrik. Fern (Frances McDormand) hat zuvor bereits ihren Mann Bo, der ebenfalls dort arbeitete, an eine Krebserkrankung verloren. Mit einem kleinen Van, der ihr zudem als Wohnstatt dient, setzt sie sich in Bewegung, um fortan Teilzeitjobs anzunehmen und sich so finanziell über Wasser zu halten. Fern zählt damit zu den „nomads“, nicht-sesshaften, permanent auf Reisen befindlichen US-Bürgern, die, oftmals bereits im Rentenalter, ihr Leben „on the road“ verbringen. Auf ihrer Fahrt, die sie durch mehrere Staaten des Mittelwestens führt, begegnet Fern allerlei liebenswerten ExistenzgenossInnen, die sich nach Kräften bemühen, das Beste aus ihrem zumeist sehr entbehrungsreichen Alltag zu machen und ihm aller Widerstände zum Trotz die schönen Seiten abzugewinnen.

Leben und Sterben auf der Straße: Das sozialökonomische Phänomen der nomads ist für den ordinären Mitteleuropäer kaum nachvollziehbar oder gar bekannt, in den USA jedoch nicht so ungewöhnlich, wie man zunächst vermuten würde. Den klassischen Nomaden gleich ziehen aus unterschiedlichsten Gründen entwurzelte, nicht selten ältere AmerikanerInnen mit ihren zu mobilen Wohnungen umfunktionierten Kleinlastern über Land und vollziehen dabei im Jahrestakt zirkulierende Bewegungen, um sich immer wieder für einen begrenzten Zeitraum als Saison- und Teilzeitarbeiter zu betätigen und dann weiterzureisen. Die Filmemacherin Chloé Zhao findet für die Schilderung des Alltags der fiktiven Nomadin Fern dabei ein sehr passendes Timbre, indem sie den Verlockungen des Offensichtlichen komplett entsagt und sich einem wenig ereignisreichen, jedoch nie langweiligen Erzählfluss hingibt. Zhao hätte sich einer Vielzahl optionaler Versatzstücke und Klischees befleißigen können, um Ferns etwa ein erzähltes Jahr währenden Lebensausschnitt möglichst dramatisch oder melancholisch zu zeichnen, doch sie übt sich stattdessen in vergleichsweiser Askese. Fern wird zur Heldin ihres eigenen, sich zunehmend autark gestaltenden Seins. Ihr Weg bleibt konstant, ihre Straße trotz kleiner Umleitungen hier und da gerade. Der Film zieht in diesem Zusammenhang die als gewiss nicht gänzlich unproblematisch zu betrachtende Parallele zu den historischen Pionieren und Entdeckern; Menschen, die Unverbindlichkeit, Unabhängigkeit und die Abwesenheit von Verpflichtung als Freiheiten begriffen und sich stets dort zu Hause fühlten, wo ihr Hut am Abend lag. Dass nomads durchaus auch als durchs soziale Raster gefallene Verlierer des kapitalistischen Systems begriffen werden können und müssen, verschweigt „Nomadland“ zwar nicht, schreibt sich dessen kritische Würdigung jedoch auch nicht auf die Agenda. Fern, deren Geschichte das Zentrum des Films bildet, bieten sich nämlich auch andere Optionen. Um wieder „auf die Füße zu fallen“ könnte sie zur Vorstadtfamilie ihrer Schwester ziehen oder auch zu der von Dave (David Strathairn), der beschließt, sich vom Nomad-Dasein zu verabschieden und wieder seßhaft zu werden. Fern jedoch hält es nirgends länger als ein paar Tage, der Drang weiterzuziehen ist zur stärksten Antriebsfeder ihres Lebens geworden. Insofern ist Chloé Zhao vorgeworfen worden, das Leben der nomads auf unverhältnismäßige Weise zu romantisieren und ihre oftmals prekäre Lebensweise mit selbstgewählter Freiheit zu verwechseln. Dabei spielen fast alle in „Nomadland“ auftretenden nomads sich selbst und das mit spürbarem Enthusiasmus. Die letztgültige Wahrheit, so es eine solche überhaupt gibt, liegt hier vermutlich – wie so oft – irgendwo im Grau der Zwischenplätze. Oder, um im Bild des Films zu bleiben, in den pastellenen Windungen eines Prärie-Sonnenuntergangs.

8/10

MORTAL

„Fire“

Mortal ~ NO/USA/UK 2020
Directed By: André Øvredal

Ein junger Amerikaner namens Eric (Nat Wolff) zieht einsam, halbverwildert und obdachlos durch die norwegische Provinz. Ein Zwischenfall mit ein paar jugendlichen Bullys führt dazu, dass einer von ihnen (Arthur Hakhalati) auf geheimnisvolle Weise zu Tode kommt. Eric landet auf der nächsten Polizeiwache, wo sich die Psychologin Christine (Iben Akerlie) zunächst erfolgreich um sein Vertrauen bemüht. Während bereits der US-Geheimdienst, repräsentiert durch die besorgte Agentin Hathaway (Priyanka Bose), längst auf Eric aufmerksam geworden ist und ihn in Gewahrsam nehmen will, scheitern entsprechende Versuche – Eric setzt das Polizeirevier in Brand und bringt anschließend einen Helikopter zum Absturz. Wiederum sucht er Christine auf, um mit ihrer Hilfe das Geheimnis um die in ihm schlummernden, übernatürlichen Gewalten zu ergründen, die Verfolger stets auf den Fersen…

Ein wenig wie eine Abrechnung in eigener Sache kommt mir Øvredals fünfte Langfilm-Regiearbeit vor, als habe der Norweger versucht, einen zu seinem ganz persönlichen Leidwesen durch die Mainstreamkultur vulgarisierten Mythos heimzuholen. Der aus der nordischen Göttermythologie stammende Gott Thor, Sohn des asgardianischen Göttervaters Odin, Herr über Blitz und Donner sowie Beschützer der Menschenwelt Midgard, ist dem jüngeren globalen Publikum vor allem durch seine Inkarnation in den Marvel-Filmen des MCU, gespielt von Chris Hemsworth, bekannt. Darin gestaltet sich der altehrwürdige Nimbus der germanischen Gottheit zunehmend als comic relief; spätestens seit Taika Waititi den dritten nominellen „Thor“-Film (der vierte ist just in Arbeit) als buntes, selbstironisches Spektakel inszenierte und der Donnergott hernach zum biertrinkenden, fetten Konsolespielfan mit Dreadlocks mutierte, derweil die allermeisten seines ehrwürdigen Geschlechts Ragnarök zum Opfer gefallen waren, schien es endgültig vorbei mit der jahrtausendealten Hochachtung.
André Øvredal scheint diese Entwicklung nunmehr zumindest ein klein wenig umkehren zu wollen. Wie schwer es die alten Götter spätestens in der gegenwärtigen Zeit, eigentlich jedoch beginnend mit der Erschließung der Neuen Welt haben, wissen wir bereits seit Neil Gaimans „American Gods“. In „Mortal“ schickt sich nun ein junger, norwegischstämmiger US-Amerikaner an, dem unwiderstehlichen Ruf zu seinen Wurzeln zu folgen und erweist sich, auf dem Grund und Boden seiner Vorväter angelangt, als niemand Geringerer denn die Reinkarnation Thors selbst. Da jedoch aller Anfang schwer ist, begreift er zunächst weder, was mit ihm geschieht, noch welche Bedeutungen die sich immer konkreter manifestierenden Visionen der Weltenesche Yggdrasil vor seinem geistigen Auge besitzen. Seine ungeheure Macht kann Eric zunächst nicht kontrollieren, zudem fehlt ihm sein obligatorischer Hammer Mjölnir, der ja gewissermaßen auch als Katalysator seiner Kräfte fungiert. Und da der moderne Mensch, oder zumindest seine regierenden Repräsentanten und Machthaber, seine alten Götter mit Füßen zu treten pflegt, steht die nahende Katastrophe nicht lange aus. Øvredals Eric-Thor steht insofern auch in der Tradition von De Palmas Filmfiguren Carrie White und Gillian Bellaver (bzw. der kleinen Charlie McGee aus Mark Lesters King-Adaption „Firestarter“), deren Fähigkeiten wahlweise nicht erkannt und nicht ernstgenommen wurden oder missbraucht werden sollten, was sie jeweils mittels mörderischer Ausbrüche der ihnen inneschlummernden Gewalten quittierten. Die Reise bis zu jenem sich leider im Off ereignenden Ein-Mann-Kataklysmus nimmt sich teils irrwegig und teils einfältig aus, stellt jedeoch einmal mehr eine Hommage an das phantastische Kino der achtziger Jahre dar, in dem es ja ebenfalls häufig um die Flucht vor begriffsstutzigen, staatlichen Autoritäten ging. So ist das eigentliche Potenzial, das „Mortal“ birgt, durchaus präsent, wird aber nie zur Gänze eingelöst, was vielerlei Ursachen haben mag – ein zu geringes Budget für die tatsächliche Vision vielleicht; möglicherweise mangelndes Entscheidungsvermögen, welche Richtung „Mortal“ schlussendlich einschlagen sollte. Am Ende bleibt ein im Ansatz interessanter Film und die sich nach „Scary Stories To Tell In The Dark“ abermals einstellende Mutmaßung, dass die Qualität von Øvredals Arbeit abhängig von der Auswahl seiner Stoffe steht und fällt.

5/10

NEWS OF THE WORLD

„Straight forward.“

News Of The World (Neues aus der Welt) ~ USA/CN 2020
Directed By: Paul Greengrass

Texas, 1870. Während der Grenzstaat noch immer unter den schweren Nachwehen des verlorenen Sezessionskriegs darbt, zieht der frühere Drucker und Konföderierten-Offizier Jefferson Kidd (Tom Hanks) von Stadt zu Stadt, um den Leuten Zeitungsgeschichten vorzulesen. Auf seinem Weg überland entdeckt er ein kleines Mädchen (Helena Zengel), das er als Siedlerstochter „Johanna Leonberger“ identifizieren kann. Von ihrem „früheren Ich“ weiß Johanna so gut wie nichts mehr – sie lebte als einzige Überlebende eines Indianerüberfalls sechs Jahre und damit mehr als die Hälfte seines Lebens bei den Kiowa und soll nun im Auftrag des Büros für indianische Angelegenheiten zu ihrem Onkel und ihrer Tante verbracht werden. Da sein vormaliger Eskorteur rassistischer Lynchjustiz zum Opfer fiel und sich sonst niemand für sie verantwortlich, erklärt sich Kidd bereit, das zutiefst verängstigte und misstrauische Kind nach Südtexas zu begleiten. Auf der gefährlichen Reise erlebt das ungleiche Paar ein Land, dessen Bewohner den rechten Weg zwischen Verlust und Neuorientierung noch nicht gefunden haben.

Nun hat also endlich auch Tom Hanks seinen überfälligen Western bekommen – ein Filmgenre, das vermeintlich nicht nur bis heute im Œuvre eines jeden veritablen Hollywood-Qualitätsakteurs mindestens einmal reflexartig aufploppen sollte, sondern das zumal Hanks als inoffiziellem Jimmy-Stewart-Epigonen unbedingt zukommt. Doch Spaß beiseite – wer Bedenken hat, dass der Mittsechziger Hanks der amerikanischsten aller Kunstgattungen nicht gerecht werden könnte, der darf sich getrost entspannen. Mit der ihm eigenen, melancholischen Routine und Professionalität trägt Hanks als in mehrerlei Hinsicht kriegsversehrter Veteran, der einen neuen Sinn im Leben findet, auch Greengrass‘ schönen, gemächlich inszenierten Filmüber weite Strecken. Wobei man über Hanks ja in Bezug auf „News Of The World“ hierzulande ohnehin kaum etwas hört; den hiesigen Qualitätsgratmesser bestimmt vielmehr „unsere“ Nachwuchsdarstellerin Helena Zengel, seit Nora Fingerscheidts „Systemsprenger“ eine Hausmarke berührenden Kinderschauspiels. Mit „News Of The World“ betritt sie gleichsam die Weltbühne, wird gleich für die höchsten Preisweihen ins Spiel gebracht und bringt daheim Pilawa nebst übrigen erwachsenen Gästen zum Schmunzeln. Hier gibt sie „a real wild child“, mindestens so bös traumatisiert wie die kleine Benni, allerdings in einer Zeit und Welt, deren zivilationsentledigtes Gefüge erst gar keinen Atem aufbringt, sich um Traumakinder zu kümmern. Johanna Leonberger, die bei den Kiowa „Zikade“ hieß, muss als Wanderin zwischen den Welten selbst sehen, was sie aus sich und ihrem jungen Leben macht. Captain Kidd, physisch wie psychisch gezeichnet, weist diverse charakterliche Parallelen zu seinem unfreiwilligen Mündel auf – sein Vorkriegsleben zunächst tapfer ignorierend, hat er zwar eine neue Berufung gefunden (die ihm – nebenbei – wie vielen klassische Westernhelden der gefürchteten Sesshaftwerdung entbindet), mag sich den Dämonen der Vergangenheit jedoch nicht stellen. Anders als die Kiowa, die das Leben als ewigen, sich selbst erfüllenden Kreislauf betrachten, hat er sich für die Linearität entschieden, den Blick stets nach vorn gerichtet. Dass Greengrass seinen beiden ProtagonistInnen und auch uns, dem Publikum, ein denkbar märchenhaftes Ende gestattet, mag man so oder so sehen. Mir gefällt der zugegebenermaßen recht törichte Gedanke, dass mit Tom Hanks‘ und Helena Zengels „News Of The World“ beschließendem, gemeinsamen Ankommmen in der adoptiven Zweisamkeit auch ihren jeweiligen, früheren Film-Konterfeits Michael Sullivan und Benni Klaß die verspätete, ersehnte Erlösung gegönnt wird.
Das ist dann schon einiges an Balsam für die geschundene Filmromantikerseele.

8/10