KING OF THE KHYBER RIFLES

„The scales are balanced now. There is no past.“

King Of The Khyber Rifles (Der Hauptmann von Peshawar) ~ USA 1953
Directed By: Henry King

Die North West Frontier, 1857. Hauptmann Alan King (Tyrone Power) wird in eine Garnison nahe Peschawar versetzt. Seine Herkunft als Sohn eines englischen Offiziers und einer muslimischen Inderin macht ihm das Leben in der Armee nicht eben leicht, dennoch erweist er sich immer wieder als formvollendeter Soldat, selbst, als Susan (Terry Moore), die offenherzige Tochter des kommandierenden Generals Maitland (Michael Rennie), heftig um ihn wirbt und immer wieder in Gefahr gerät. Während die rebellischen Kräfte im ganzen Land brodeln angesichts einer bevorstehenden Großoffensive gegen die Kolonialmacht, muss King erkennen, dass es sich bei dem Hauptaufrührer Karram Khan (Guy Rolfe) in den Chaiber-Bergen um niemand anderen handelt als seinen Jugendfreund Hassan. Zwischen Liebe und Pflichterfüllung stehend, macht sich King auf eigene Faust daran, einen Anschlag auf Karram Khan zu verüben…

Die vierte CinemaScope-Produktion der Fox und Henry Kings erste Regiearbeit in und mit dem spektakulären Breitwand-Format bildete dieses vergleichsweise bescheiden ausgestattete Kolonialabenteuer nach einem Roman von Talbot Mundy, eine weitere von diversen Kollaborationen des Regisseurs und seines Stars Tyrone Power in einer für ihn typischen Rolle. Vor dem Hintergrund des großen Aufstands spielend, beinhaltet der Film auch jene authentische Episode um die Weigerung der muslimischgläubigen Soldaten in der Armee, mit den brandneu hergestellten Khyber Rifles zu schießen, da zuvor das Gerücht gestreut wurde, deren Projektile, die vor dem Laden aufgebissen werden müssen, seien mit Schweinefett eingeschmiert. Natürlich erledigen King und seine wackeren Mannen die ihnen auferlegte Mission auch mit dem lediglichen Gebrauch ihrer Messer.
Ein paar ebenso schöne wie liebenswerte Scriptideen sichern „King Of The Khyber Rifles“ abseits seiner oftmals hervorstechenden zeitgenössisch bedingten Einfalt allerdings einige Erinnerungswürde. Da wären zunächst Kings Kampf mit den rassistischen Ressentiments seiner Kommandantur, die ihm etwa die Teilnahme an einem Geburtstagsball zu Ehren Königin Victorias versagt. Als Reaktion darauf tanzt die liebesdürstende Susan Maitland einen Walzer mit ihm abseits des Ballsaals auf der nächtlichen Terrasse. Kings Sympathie und Respekt für die einheimische Kultur erweisen sich schließlich als so gewichtig, dass er die Entscheidung seiner Untergebenen, die angeblich verunreinigten Geschosse zu benutzen, nicht nur akzeptiert, sondern sogar eigenaktiv mitträgt. Dass er selbst schließlich im Zweikampf (abermals) seinem Widersacher Karram Khan unterliegt und lediglich durch einen auf diesen abgegebenen Blattschuss durch einen Fußsoldaten überlebt, erweist sich als weitere, aparte kleine Volte.
„King Of The Khyber Rifles“ hätte nebenbei auch einen vorzüglichen Western abgegeben – nicht nur, dass er ohnehin zu großen Teilen in der kalifornischen Sierra Nevada gedreht wurde, geben die Hauptmotive um die Halbblut-Problematik oder die Vereinigung unterschiedlicher Stämme zum Zwecke eines Großangriff astreine Gattungstropen ab. Vielleicht waren Power und King „ihr“ Wildwest-Geschäft in jenen späten Karrierejahren aber auch einfach leid (seinen letzten Western, „Bravados“, inszenierte King fünf Jahre später mit Gregory Peck).

7/10

BONES AND ALL

„Maybe love will set you free.“

Bones And All ~ USA/I 2022
Drected By: Luca Guadagnino

Virginia, um die Mitte der achtziger Jahre. Die Teenagerin Maren (Taylor Russell) lebt mit ihrem Vater (André Holland), der versucht, sie weitestgehend von Gleichaltrigen und der Gesellschaft überhaupt abzuschirmen, in einem kargen Bungalow. Als sich Maren eines Abends zu einer Freundin (Kendle Coffey) schleicht, um an einer Pyjama-Party teilzunehmen, kommt es zu einem befremdlichen Ereignis: Maren beißt einem der Mädchen selbstvergessen in den Finger und isst das Fleisch. Kurz darauf ist ihr Vater, dem Maren das Ganze zuvor beichtet, verschwunden. Außer ihrer Geburtsurkunde, ein wenig Bargeld und einer Cassette mit ausführlichen Erläuterungen ihres Dads darauf hinterlässt er ihr nichts. Maren beginnt eine lange Reise Richtung Minnesota, wo ihre ihr unbekannte Mutter Janelle (Chloë Sevigny) leben soll. Durch das Tape und die Begegnung mit einem kauzigen alten Drifter namens Sully (Mark Rylance) erfährt Maren, wer und was sie ist: Sie gehört zu einer genetisch mutierten Gemeinschaft kannibalistisch lebender Außenseiter, den sich selbst so nennenden „Eaters“, die von Zeit zu Zeit der unbändige Drang überkommt, Menschenfleisch zu verzehren und deren Phänotyp sich von Generation zu Generation weitervererbt. Als Maren während der Eiterfahrt auf den etwa gleichaltrigen Eater Lee (Timothée Chalamet) trifft, bahnt sich zwischen den beiden eine Romanze an, die Maren nach einem verstörenden Treffen mit ihrer psychiatrisch institutionalisierten Mutter jedoch wieder abbricht. Schließlich begreift sie, dass sie und Lee sich brauchen und kehrt zu ihm zurück. Gemeinsam beschließt man, sich eine konventionelle Existenz aufzubauen, doch das Schicksal meint es anders…

Mit „Bones And All“, der Adaption eines romantischen Jugend-Horrorromans von Camille DeAngelis, legt Luca Guadagnino ein elegisches, ebenso behutsam wie gemächlich erzähltes Road Movie vor, das den traditionellerweise eher garstig konnotierten Genretopos Kannibalismus (die Eaters könnten eine Art Nachfahren des mythologischen „Wendigo“-Dämons sein) auch für ein wohlfeil abgestecktes Arthouse-Publikum goutierbar werden lässt. Diese zugegebenermaßen etwas brüske Einordnung ist dabei keineswegs abschätzig gemeint, sondern soll vielmehr unterstreichen, in welche Richtung sich das Horrorkino in den letzten Jahren entwickelt. Filme wie dieser beweisen eindrucksvoll, dass die Gattung sich eine Form der Anerkennung und Mündigkeit erobert hat, die vor einem Vierteljahrhundert in dieser Ausprägung noch undenkbar gewesen wäre; raus aus dem schummrigen Dämmerlicht des stets als leicht schmuddelig verrufenen Exploitationhappenings für schwitzige Convention-Besucher hin zum respektierten Gesellschaftsdiskurs mit Blut und Eingeweiden. Wie James Grays just meinerseits genossene, überaus wesensverwandte Coming-of-Age-Bestandsaufnahme „Armageddon Time“ blickt auch „Bones And All“ zurück auf die den nordamerikanischen Kontinent ergreifende Verzweiflung der aufziehenden respektive bereits aufgezogenen Ära Reagan und reflektiert anhand dieser die nicht minder akute, zeitgenössischere Ratlosigkeit Trump-Jahre. Die in Anbetracht des sie nachhaltig verunsichernden Realitätsabgleichs in Abgründe starrende Maren und der jüngere New Yorker Paul Graff haben mancherlei gemein: Als Außenseiter einer zunehmend reaktionärer und repressiver agierenden Gesellschaft sehen sie sich, an biographischen Wegscheiden stehend, mit basalen Existenzfragen konfrontiert: Wie viel von mir darf ich überhaupt noch ausleben, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen? Wie viel unbequeme Individualität ist gestattet in einer Welt aus Angst und Hass? Der Kannibalismus als ultimatives Sozialtabu lässt sich da leicht als übergeordnetes Bild interpretieren für alles Mögliche, was der Konservativismus an Zielscheiben ausersieht; seien es Ressentiments gegen bestimmte Ethnien, sexuelle Orientierungen oder andere vermeintliche Unangepasstheiten. Das durchaus konsequente Ende erschien mir dann wie ein versöhnlich umgedeuteter Brückenschlag zu Eckhart Schmidts exakt vierzig Jahre älterem „Der Fan“ (mit dem eine gemeinsame Betrachtung vielleicht ohnehin gar nicht uninteressant wäre): Die komplette Einverleibung des Geliebten als ultimativer Treuebeweis.

9/10

THE UNBEARABLE WEIGHT OF MASSIVE TALENT

„Nick… . FUCKIIIIIIIIING Cage!“

The Unbearable Weight Of Massive Talent (Massive Talent) ~ USA 2022
Directed By: Tom Gormican

Um seiner geflissentlich darbenden Karriere und dem damit einhergehend darbenden Bankkonto zu begegnen, nimmt Hollywood-Schauspieler Nicolas Cage (Nicolas Cage) leicht widerwillig ein außergewöhnliches Engagement an: Er soll gegen eine Million Dollar als prominenter Geburtstagsgast des auf Mallorca lebenden Unternehmenschefs Javi Gutierrez (Pedro Pascal) erscheinen. Javi, ein glühender Verehrer von Cage und seinem Gesamtwerk, der jenen außerdem gern als Hauptdarsteller für sein erstes, eigenes Drehbuch gewönne, lockt den zunächst distanzierten Star mit Drinks und anderen Lustigmachern, woraufhin sich rasch tatsächliche Sympathien zwischen den beiden Männern entwickeln. Doch die putzige Harmonie trübt alsbald ein: Die CIA hat Javi im Visier als Kidnapper der Tochter (Katrin Vankova) des katalinischen Präsidenten und setzt ausgerechnet den überrannten Cage als Maulwurf gegen seinen Gastgeber ein. Tatsächlich jedoch ist ohne dessen Wissen Javis Cousin, der Mafioso Lucas (Paco Léon) für die Entführung verantwortlich. Dies rettet zwar die Freundschaft der beiden männer, macht ihre Gesamtsituation jedoch nicht weniger lebensgefährlich…

Dass Hollywood-Schaffende sich immer wieder selbst spielen, bildet zwar keine Seltenheit; dass sie sich höchstselbst als Protagonisten eines fiktiven Abenteuers um ihre eigene Person zur Verfügung stellen, darf man jedoch nach wie vor als kleine Rarität erachten. Vor diesem Hintergrund stellen sich dann auch mehr oder weniger unweigerliche Assoziationen zu einer anderen, noch sehr viel grotesker aufgezogenen Selbstdemontage eines amerikanischen Weltstars ein, nämlich zu Spike Jonzes „Being John Malkovich“. Gegen den Wahnwitz von Jonzes und Charlie Kaufmans wahnwitziger Dramödie, die einst Malkovich himself zum Endgefäß für einen bizarren, mentalen Geburtskanal modelte, kommt „The Unbearable Lightness Of Massive Talent“ zwar nicht an, findet aber dennoch hübsche Wege, das Buddy-Duo Cage und Pascal vor der lichtdurchfluteten, mallorquinischen Kulisse in ein paar lustige, später auch actionreiche Episoden zu verstricken. Dabei gibt der Leinwand-Cage, ebenso wie damals der Leinwand-Malkovich freilich, eine Alternativversion seines tatsächlichen Selbst; so werden ihm etwa eine fiktive Ex-Frau (Sharon Horgan) und Teenagertochter (Lily Mo Sheen) herbeigedichtet, die er durch seine arrogante Selbstherrlichkeit verprellt.
Im weiteren Hergang outet sich der Film schließlich als ähnlich versiert in punkto Cage-Facts wie seine zweite Hauptfigur Javi Gutierrez; es kommt erwartungsgemäß zu diversen title drops und Reminiszenzen an frühere Beiträge aus dem umfangreichen Œuvre des Darstellers, der unterdessen allenthalben von seinem eigenen, jüngeren alter ego aus der Ära „Wild At Heart“ heimgesucht und traktiert wird. Das nimmt sich alles recht amüsant und tragfähig aus, verzichtet jedoch nicht auf die eine oder andere Redundanz. Am komischsten empfand ich dabei dabei jene Szenen, in denen Cage, intoxiniert durch diverse Rauschmittel von Alkohol bis Acid (einmal sogar durch ein hochpotentes Spionage-Sedativ), torkelnd oder sonstwie diffus durch die mediterrane Gegend laviert. Nicht, dass der Film unter späterem Verzicht auf derlei Sperenzchen gegen Ende hin geerdeter würde; es bleibt angenehm bescheuert. Trotzdem – auf den ganz großen Anarcho-Irrsinn, die totale Cage-Kirmes gewissermaßen, wird wohlweislich verzichtet. Schade.

7/10

INEXORABLE

Zitat entfällt.

Inexorable (Eiskalter Engel) ~ B/F 2021
Directed By: Fabrice du Welz

Just als die reiche Verlegerin Jeanne (Mélanie Doutey) mit ihrem Gatten, dem einst von ihr berühmt gemachten Autoren Marcel Bellmer (Benoît Poelvoorde) und der gemeinsamen kleinen Tochter Lucie (Janaina Halloy) auf das stattliche Familienanwesen in der Provinz zurückzieht, macht die Familie die Bekanntschaft der verloren erscheinenden Gloria (Alba Gaïa Bellugi). Gloria gewinnt rasch Lucies Sympathien. Auch Jeanne und Marcel schenken ihr bald Vertrauen und stellen die junge Frau als Hausmädchen ein. Doch pflegt Gloria ihre ganz persönliche Agenda, die in einer dunklen, gemeinsamen Vergangenheit mit Marcel fußt und die das familiäre Idyll geradewegs in den Abgrund führt.

Seinen steten Hang zur Erkundung menschlicher Abseitigkeiten pflegt der Belgier Fabrice du Welz auch in seiner jüngsten Regiearbeit wieder aufs Neue. Obschon die durchaus klassisch anmutende Grundkonstellation, in der es um die umfassende Vergeltung einer um ihre Existenz geprellten und verratenen Frauen-, respektive Tochterfigur geht, vergleichsweise tradierte Tropen bedient, gelingt es du Welz dennoch, seiner Inszenierung eine tiefe Abgründigkeit zu verleihen, die andere Filmemacher in dieser Konsequenz möglicherweise gescheut hätten. Jener böse Fatalismus resultiert nicht zuletzt aus dem „Inexorable“ inhärenten Welt- und Menschenbild, in dem es im Prinzip nur zwei rundheraus unschuldige Figuren gibt: das noch im Grundschulalter befindliche Mädchen Lucie und den schneeweißen, zu Beginn des Films aus dem Tierheim adoptierten Schäferhund Odysseus. Dieser symbolisiert gewissermaßen den Dreh- und Angelpunkt für Glorias zunächst noch diffusen Plan. Indem sie sich das Vertrauen von Hund und Kind erschleicht, öffnen sich Gloria Tür und Tor zu ihrem eigenen Vorhaben, das bei aller Perfidie auf einer tief gestörten, autoaggressiv geprägten Borderline-Persönlichkeit gründet. Doch auch das Ehepaar krankt an Lügen und Trugbildern. Weder ist Marcel in Wahrheit der als genialisch gefeierte Literat, den alle Welt in ihm wähnt, noch vermag Jeanne seine vermeintlich mittelfristig stagnierende Kreativität durch ihre offenen, sexuellen Avancen zu befördern. Lucie legt auf ihrer eigentlich als soziale Initiation geplanten Geburtstagsparty ein empörliches Black-Metal-Playback hin; auf den armen, braven Odysseus wartet die Todesspritze. Der höhlende Wurm steckt da längst im Apfel; Gloria muss ihn nurmehr um ein paar wenige Häppchen nähren und ans Tageslicht locken. Am Ende ihrer destruktiven Bemühungen steht dann tatsächlich die Auflösung der Bastion Familie; die Karten liegen auf dem Tisch, das blutige Duell zweier reziprok entkernter Seelen endet mit einem Remis. Die Überlebenden werden diese sinistren Ereignisse noch lange beschäftigen.

8/10

BARBARIAN

„You make a copy of a copy of a copy, you get that.“

Barbarian ~ USA 2022
Directed By: Zack Cregger

Tess Marshall (Georgina Campbell) kommt zu einem Vorstellungsgespräch bei der lokal tätigen Dokumentarfilmerin Catherine James (Kate Nichols) nach Detroit. Vor Ort hat sie zu diesem Zweck ein Vorstadthäuschen auf der Barbary Street inmitten des ansonsten großflächig verlassenen Vororts Brightmoor gemietet. Umso unwohler ist Tess zunächst, als sie feststellt, dass vor ihr bereits ein anderer Mieter das Haus bezogen hat. Der junge Keith Toshko (Bill Skarsgård) erweist sich jedoch als durchaus zuvorkommend und sympathischer als zunächst befürchtet. So arrangiert man sich und es bleibt ungeachtet einer kurzen nächtlichen Störung alles ruhig. Als Catherine Tess am nächsten Tag vor der Nachbarschaft warnt und ein seltsamer Obdachloser (Jaymes Butler) ihr zusätzlich Angst einjagt, entdeckt sie, das unter der kleinen Immobilie gewaltige Kellerschächte nebst überaus sonderbaren Räumlichkeiten ausgebaut wurden…

„Barbarian“ erweist sich nach dem zuvorderst enttäuschend konventionellen „Smile“ wieder als ein Horrorfilm mit Hirn und Herz, der seine Vorbilderpalette beseelt aufgreift, bedient und zugleich variiert. Wie schon Fede Alvarez‘ „Don’t Breathe“ sucht sich auch „Barbarian“ die dem Strukturwandel und den entsprechenden demografischen Veränderungen anheim gefallenen Detroiter Vorstädte als kongenialen Schauplatz aus für einen gallig-sarkastischen Kommentar zur Gesamtlage der Nation. Die desolaten suburbs mit ihren noch gut sichtbaren Spuren dereinst florierender Mittelklasseexistenzen lösen dabei mehr und mehr die noch vor kurzem gewohnheitsmäßig bemühten Hinterwäldlerbrachen der Südstaaten mit ihren Rednecks, Hillbillys und Moonshinern ab und zeigen den postmodernen Zivilisationszerfall als Spiegel urbaner Krisen. Wie einst das (zweifelsohne) große Vorbild „Psycho“ führt uns Regisseur und Autor Zach Cregger dabei zunächst auf eine gleich doppelt chiffrierte, falsche Fährte: Dass der etwas zu sympathisch anmutende Keith ein multipel gestörter Norman Bates sein könnte und Tess „seine“ in regnerischer Nacht in der Einöde ankommende Marion Crane, liegt da doch mehr denn nahe. Tatsächlich ist es jedoch Bill Skarsgård, der unerwartet rasch aus dem Spiel genommen wird und eine zu Beginn noch gänzlich unauslotbare Gefahr, die für den bals losbrechenden Terror sorgen wird. Die Flexion von Konventionen und rezeptorischen Erwartungshaltungen beherrscht Cregger dabei annähernd gut wie ein Jordan Peele, obschon das Monster (Matthew Patrick Davis) im buchstäblichen Wortsinne aus hauseigener Produktion stammt. Die Konfrontation mit der Wahrheit und auch deren nachfolgende Auflösung erweisen sich dabei wiederum als so geschickt wie bissig: Justin Long, der im Prinzip nochmal seine Rolle als irrlichterndes Verrücktenopfer aus „Tusk“ repetiert, symbolisiert als Hollywood-Seriendarsteller AJ Gilbride auf dem selbst angesägten Ast gleich mehrerlei an schieflaufendem humanen US-Müll. Nicht nur, dass er von der #MeToo-Debatte offensichtlich gar nichts mitbekommen hat, ist seine Figur auch noch schindludernden Immobilienspekulationen auf den Leim gegangen und zudem ein misogyner Feigling. Doch selbst er ist nur ein kleines Schwarzlicht im Vergleich zu den inzestuösen Monstrositäten, die die Unterwelt von Brightmoor bereithält.
Auch Danny Steinmanns „The Unseen“ und natürlich Stuart Gordons „Castle Freak“ mitsamt dessen von Lovecraft adaptierter Katakombenmythologie spendeten somit einiges an Quellmaterial für „Barbarian“, der schlussendlich jedoch immer noch hinreichend intelligent, vielschichtig, mitreißend sowie witzig erzählt und inszeniert ist, um seine Eigenständigkeit von grundauf zu wahren.

8/10

VOCES

Zitat entfällt.

Voces ~ E 2020
Directed By: Ángel Gómez Hernández

Daniel (Rodolfo Sancho) und Sara (Belén Fabra) erwerben renovierungsbedürftige Immobilien und bringen sie wieder in Schuss, um sie dann gewinnbringend weiterzuverkaufen. Für die Zeit der Restauration leben sie zugleich dort. Für ihren neunjährigen Sohn Eric (Lucas Blas) erweist sich die ewige Umzieherei als psychologisch unvorteilhaft; er kann sich nie an Schule oder Freunde gewöhnen. Im jüngsten Haus, einer weit außerhalb Madrids liegenden, jahrhundertealten Villa, fühlt sich Eric sogar noch unwohler als üblich. Er hört Stimmen, die ihm böse Dinge einflüstern und klingen wie die von Daniel. Eine hinzugezogene Psychologin (Beatriz Arjona) hat gleich nach ihrem ersten Hausbesuch einen tödlichen Autounfall. Dabei bleibt es nicht – Eric ertrinkt nur wenige Nächte später in dem abgesperrten Außenschwimmbad. Während die trauernde Ruth verzweifelt zu ihren Eltern fährt, sucht Daniel, der mittlerweile selbst mehrere unheimliche Erlebnisse hatte, die Hilfe des arrivierten ESP-Forschers Germán (Ramón Barea), der mit seiner Tochter Ruth (Ana Fernández) den Ereignissen vor Ort auf den Grund gehen will…

Another building, another witch. Als besonders originell kann man den aus spanischer Fertigung stammenden haunted house chiller „Voces“ sicherlich nicht erachten, dafür jedoch als beflissenes Gattungsstück, das seine wenngleich routinierten Mittel effektvoll einzusetzen weiß. In der erweiterten Tradition der diversen Spukhausfilme der siebziger und achtziger Jahre stehend – vor allem „Burnt Offerings“, „Superstition“ und „Poltergeist“ finden sich jeweils mehrfach referenziert – demonstrieren und zelebrieren Script und Regie ihr aufmerksames Studium populärer Vorbilder praktisch ohne Unterlass. Auch Roegs „Don’t Look Now“ wirft abermals seinen großen, motivischen Schatten, wobei das Bemühen um Grusel- und Schockelemente freilich dem gegenwärtigen Genrekino angeglichen wird und sich dessen diverse Ingredienzien, immerhin durchaus kompetent, recht erschöpfend dargeboten finden. „Voces“ stellt inmitten des sich aktuell oftmals überaus doppelbödig präsentierenden Horrorfilms somit eher als reaktionär dar, indem er sich auf seine besonders evokativ abgespulte Dramaturgie als essenzielles Hauptelement stützt und sich möglicher, tiefergehender intellektueller Diskurse derweil stehenden Fußes verweigert. Diese Strategie geht soweit auf, verhindert allerdings zugleich mutmaßlich, dass man sich auch längerfristig an „Voces“ wird erinnern können.

6/10

THOR: LOVE AND THUNDER

„It’s hammerin‘ time!“

Thor: Love And Thunder ~ USA/AUS 2022
Directed By: Taika Waititi

Wie sich zuvor bereits abzeichnete, verträgt sich die mehr und mehr ausufernde Hybris des mittlerweile wieder in körperlicher Bestform befindlichen Thor Odinsohn (Chris Hemsworth) nicht allzu gut mit den pausenlosen Egotrips von Peter Quill (Chris Pratt) und denen der übrigen Guardians Of The Galaxy – umso leichter fällt beiden Fraktionen [Thor wird weiterhin begleitet von seinem felsigen, treuen Bro Korg (Taika Waititi)] der Abschied voneinander. Ein Hilferuf führt den Donnergott a.D. zu seiner früheren Gespielin Sif (Jaimie Alexander) – diese hat im Kampf gegen den rachsüchtigen, dämonenhaften Gorr (Christian Bale) einen Arm eingebüßt – und dann weiter nach New Asgard auf der Erde. Dort begegnet Thor neben Valkyrie (Tessa Thompson) auch seiner alten Liebe Jane Foster (Natalie Portman) wieder, die nunmehr als „Lady Thor“ den wieder zusammengesetzten Mjölnir schwingt. Gemeinsam macht man sich an die Verfolgung Gorrs, der eine größere Gruppe von Kindern aus New Asgard entführt hat und damit einen ganz bewussten Köder legt: Gorr, dessen Ziel darin besteht, sämtliche Götter des Universums hinzuschlachten, benötigt nämlich Thors Streitaxt Sturmbringer. Jene vermag nämlich eine Regenbogenbrücke zu der kosmischen Entität Eternity, welche einem seinen sehnlichsten Wunsch erfüllt, zu schlagen…

Die Marschrichtung, die sich im letzten Thor-Abenteuer „Ragnarok“ bereits so überdeutlich abzeichnete, verfolgt Regisseur Taika Waititi mit „Love & Thunder“ nur umso konsequenter weiter – er überführt den einstmals biernen Ernst der Figur und der sie umwabernden Mythologie endgültig auf das Terrain der Komödie. Für Hauptdarsteller Hemsworth nebenbei ein regelrechtes Familienunternehmen, bestimmen nunmehr quirkiness, queerness und camp den Duktus des jüngsten MCU-Kinobeitrags, in dem der schöne Ase vollends zur Selbstpersiflage geführt wird. Selbstherrlich, arrogant und nicht allzu intelligent gelingt es Odinsohn, kaum eine Heldentat ohne kleinere oder größere Katastrophen zu vollbringen, vom freilich nach wie vor der alten Dramatik verpflichteten Showdown gegen Gorr gewiss abgesehen. Nachdem bereits die meisten der jüngeren MCU-Zuwächse von stetig wachsender Ironie und Spaßverpflichtung geprägt waren, lässt Waititi nunmehr die blanke Absurdität triumphieren, indem er pausenlos Einfälle abfeuert, die den Titelhelden und seinen bisherigen Leinwand-Werdegang karikieren und dekonstruieren. Garantiert keine pathetisch geschwungene Rede, die nicht irgendwie ausfranst und nach hinten losgeht, garantiert kein machistischer Wesenszug, der ungesühnt bleibt. Seinen Gipfel erreicht das Ganze in jener in mehrerlei Hinsicht zentralen Sequenz, in der Thor und seine GefährtInnen in die Allmachtsstadt reisen, den interdimensionalen Göttertreff, um dort die Hilfe von Zeus (Russell Crowe) persönlich zu ersuchen. Jener erweist sich als spaßsüchtiger, aufgedunsener alter Filou mit Hang zur Clownerie, der sich lediglich auf die nächste Orgie freut, dabei jedoch keinerlei Interesse hegt, gegen einen Götterschlächter mit Nekroschwert ins Feld zu ziehen. Den frech protestierenden Thor macht er darauf kurzerhand zum unfreiwilligen Chippendale. Das Ganze erinnert in Aufzug, Visualisierung und grotesker Narration – wohl kaum von ungefähr – an Mike Hodges‘ seligen „Flash Gordon“, respektive jene unnachahmliche Szene in Imperator Mings Thronsaal, in der man American Football spielt. Es würde mich demnach kaum wundern, wenn „Love And Thunder“ ein ganz ähnliches Schicksal wie einst auch diese Preziose erleiden sollte; Thor Nr. 4 macht es großen Teilen seines prinzipiell avisierten Publikums infolge seiner gnadenlos parodistischen Agenda nämlich nicht eben leicht. Selbst dem Nebenschauplatz Brustkrebs, der die arme Jane Foster ereilt und der gerade durch deren Nutzung Mjölnirs besonders fatale Ausmaße animmt, wird im Grunde kaum der gebührende Ernst eingeräumt. Schließlich muss man sagen, dass die „Guardians“-Reihe den Einsatz klassischer Rocksongs wesentlich einfallsreicher handhabt. Viermal Guns N‘ Roses (freilich in denkbar offensichtlichster Präsentation) und einmal Dio (zum Abspann) erfordert jedenfalls keine sonderlich sorgfältige Kuratierung.
Möglicherweise ist „Thor: Love And Thunder“ einfach ein Film, dem noch eine größere Zukunft beschieden ist; kommende Generationen von Filmhistorikern werden in ihm vielleicht das reaktionäre Produkt einer globalen Depression als Zeitzeichen ausmachen oder seinen Status innerhalb des MCU als stilistische Initiallösung oder thematische Zäsur analysieren. Gegenwärtig pendeln meine Eindrücke wohlwollend irgendwo zwischen „nett“ und „amüsant“.

7/10

HUSTLE

„Guys in their 50’s don’t have dreams- they have nightmares.“

Hustle ~ USA 2022
Directed By: Jeremiah Zagar

Stanley Sugarmans (Adam Sandler) Herz schlägt für den Basketball und die NBA. Als Talentscout für die Philadelphia 76ers jettet er permanent durch die ganze Welt und sichert dem Team zuverlässig seinen Top-Nachwuchs. Mit dem überraschenden Dahinscheiden des langjährigen Besitzers der 76ers, Rex Merrick (Robert Duvall), büßt Stanley zugleich seinen eigenen Mentor und eine Art heimlichen Ersatzvater ein. Merricks leiblicher Sohn und Nachfolger Vince (Ben Foster), seit jeher eifersüchtig auf den nichtfamiliären Nebenbuhler, verbaut Stanley die zuvor versicherte Zusage, Assistant Coach zu werden und somit endlich mehr Zeit mit seiner familie verbringen zu können. Eines Tages entdeckt Stanley auf Mallorca den Gelegenheitsspieler Bo Cruz (Juancho Hernangomez) und versucht, ihn mit allen Mitteln in den Kader zu bekommen. Dafür bedarf es einiger Tricks und eines intensiven Trainingsprogramms, das Stanley im Alleingang organisiert. Doch auch diese Pläne torpediert Merrick Junior beständig, was den ohnehin recht launischen Bo zusehends demoralisiert. Doch Stanley gibt nicht auf…

Philadelphia, Stadt der brüderlichen Liebe, und mehr noch als andere Ostküstenmetropolen historisches Wahrzeichen des Amerikanischen Traums, die Rocky-City. Auch für Stanley Sugarman, eines der vielen funktionalen Zahnrädchen im Profi-Basketball außerhalb des Rampenlichts, ist Philly Dreh- und Angelpunkt aller erfüllten und unerfüllten Lebensträume. Die eigene Sportlerkarriere musste Stanley schon vor vielen Jahren am College ad acta legen, als er betrunken einen Autounfall verursachte, der seine rechte Hand unbrauchbar machte. Seine Frau Teresa (Queen Latifah) und seine Tochter Alex (Jordan Hull) sind derweil alles für ihn, was seine Tätigkeit als fast unentwegt durch die Weltgeschichte reisender Talentsucher zunehmend zur Bürde werden lässt. Der Verlust des alten Merrick verheißt nurmehr weitere karrieristischen Stillstand. In dem wortkargen Mallorquiner Bo Cruz personifizieren und konzentrieren sich schließlich alle noch verbliebenen Hoffnungen Stanleys, seiner festgefahren Existenz als Mittfünfziger nochmal eine letzte Wendung angedeihen lassen zu können; ein Traum, der mit vielen äußeren Hürden einhergeht.
Seine jüngste Netflix-Produktion treibt den Sandman abermals ein Stück weit weg von seiner über Jahrzehnte installierten und etablierten Comedy-Persona, natürlich nie, ohne diese je gänzlich zu verleugnen oder gar zu denunzieren. Auch Stanley Sugarman bildet am Ende eine weitere der vielen Facetten der vehement nunancierter kultivierten Filmidentität Sandlers aus. Den wie üblich einem zutiefst traditionsverbundenen Capra-Paralleluniversum entsteigenden, liebenden Familienvater in seinem ewigen Kampf um die zweite Chance, um Anerkennung und den verzweifelten Wunsch, allen zuvor gemachten Fehlern zum Trotz ernst genommen zu werden, erlebt man auch in „Hustle“, nebenei eine von Sportlercameos gespickte NBA-Liebeserklärung, aufs abermalig Neue. Die Wahl von Queen Latifah als kongenialer Ehegattin ist dabei so luzid wie konsequent; eine Frau, in Bezug auf die ein Sandler-Protagonist vor zwanzig Jahren noch kaum mehr denn komödiantisch verbrämte Ängste kolportiert hätte, symbolisiert nunmehr liebevolle Stabilität und gleichberechtigtes, familiäres powerhouse. Dass „Hustle“ im Übrigen en gros eine typologisch exakte Americana markiert, darf und sollte nicht verwundern; Sandler und sein noch relativ unbeschriebener Nachwuchsregisseur Jeremiah Zagar fischen geradezu nonchalant im großen Teich der hollywoodschen Filmmythen um Freundschaft, Erfolg und moralischen Triumph. Unübersehbare Vorbilder wie der natürlich allgegenwärtige „Rocky“ und dessen Nachfolger oder auch der urkomische „The World’s Greatest Athlete“ finden sich dabei freilich niemals rigoros abgerippt, sondern sitzen als Ehren-Logengäste auf der höchsten Empore.

7/10

TITANE

Zitat entfällt.

Titane ~ F/BE 2021
Directed By: Julia Ducournau

Als kleines Mädchen fällt Alexia (Adèle Guigue) einem beinahe tödlichen Autounfall zum Opfer, an dessen Verursachung sie selbst nicht ganz unschuldig ist. Eine in ihrer rechten Schläfe chirurgisch implantierte Titanplatte rettet ihr das Leben. Jahre später, Alexia (Agathe Rousselle) ist mittlerweile erwachsen und pflegt einen höchst unkonventionellen Lebenswandel, hat sie enorme Schwierigkeiten, zu einer erfüllenden, sexuellen Identität zu finden. Sie lebt nach wie vor bei ihren wohlhabenden Eltern (Myriem Akkheddiou, Betrand Bonello), distanziert sich jedoch auf ganzer Linie von ihnen. Etwas Geld verdient Alexia auf Automobil-Conventions, während derer sie als erotische Tänzerin auftritt. Unterschiedlichen körperlichen Annäherungsversuchen begegnet Alexia mit rasenden Gewaltausbrüchen, die sie bald zu einer Serienmörderin werden lassen, während sie sich im Grunde einzig und allein durch Autos sexuell attrahiert fühlt. Einem koitalen Akt mit einem Wagen folgt bald darauf ein Massaker, das Alexia im Haus einer Kollegin (Garance Marillier) anrichtet. Anschließend lässt sie ihre eigenen Eltern in deren Haus verbrennen. Nunmehr auf der Flucht nimmt Alexia die Identität eines vor Jahren verschwundenen Jungen namens Adrien an. Tatsächlich glaubt dessen Vater Vincent (Vincent Lindon), Chef einer Feuerwehrstation, im Zuge einer Gegenüberstellung, Adrien in Alexia wiederzuerkennen und nimmt sich ihrer an. Es gelingt Alexia zunächst, ihre Weiblichkeit zu verbergen und geheimzuhalten, seit dem Liebesakt mit dem Auto ist sie jedoch schwanger und trägt einen Mensch-/Maschinenhybriden in ihrem Uterus. Irgendwann kann sich auch der aggressiv-maskuline Vincent der Wahrheit um Alexia nicht länger verschließen, doch da steht ihre Niederkunft bereits kurz bevor.

She’s not there: Julia Ducournaus zweiter Langfilm nach dem wunderbaren „Grave“ beschäftigt sich wiederum mit der individuellen Unmöglichkeit, sich an einen vor Normativitäten und Erwartungshaltungen strotzenden, sozialen Makrokosmos zu adaptieren. Die Hauptdarstellerin Agathe Rousselle, deren erstes Kinoengagement „Titane“ markiert und die sich bereits vor Jahren öffentlich als nonbinär-geschlechtlich definiert hat, spielt die Protagonistin Alexia mit wahnwitziger Intensität, gerade so, als fände sie in deren von gesellschaftlicher Ächtung gesäumten Suche nach Stabilität und Nähe auch ein kleines Stück von sich selbst wieder. Wo Alexias motivische Wurzeln liegen, was sie antreibt und zur Gewalttäterin werden lässt, überlässt Julia Ducournau den Mutmaßungen der Rezipientenschaft. Bereits die Alexia als Siebenjährige vorstellende, einführende Szene demonstriert ein höchst dysfunktionales Verhältnis zwischen ihr und ihrem Vater, über dessen Ursprünge wiederum gerätselt werden muss: Ist Alexia ein Opfer psychischen oder auch körperlich-sexuellen Missbrauchs oder wohnt ihr tatsächlich der sich regende, metaphysische Keim einer neuen, humantechnologischen Art inne? Diese Frage lässt sich bis zum konsequent angelegten Ende nicht beantworten, ebenso wie es schwerfällt, eine klare Position gegenüber Alexia einzunehmen. Obwohl sie bereits diverse Menschenleben auf dem Gewissen hat und wir dann höchstselbst Zeugen weiterer Massakrierungen werden, kann man sich der überirdischen, erotischen Faszination, die sie ausstrahlt, nie wirklich entziehen. Dies endet selbst nicht infolge der moralischen Kardinalssünde Elternmord – und zu Recht: Als sie sich in die paradoxe Obhut ihres Ersatzvaters Vincent flüchtet, offenbart sich zugleich Alexias tiefe Sehnsucht nach Schutz und Geborgenheit. Vincent als ihr Gegenpart indes erfährt eine recht schlüssige Charakterisierung – spätestens seit dem Verschwinden seines Sohnes Adrien scheint er weitgehend gebrochen und flüchtet sich in eine hoffnungslos pathologische Maskulinität, die er als sich selbst zum Übervater stilisierender Anführer seiner ausschließlich aus virilen, jungen Männern bestehenden Feuerwehrstaffel nochmals stilisiert. Mit Steroidspritzen pumpt er seinen alternden, langsam erschlaffenden Körper auf und riskiert damit den baldigen Herztod. Dass Alexia in der fadenscheinigen Rolle als verlorener Adrien in sein Leben tritt, gibt Vincent zumindest die Möglichkeit, zwischenzeitlich zu einer verqueren Form von Liebe, Zärtlichkeit und Aufopferung zurückzufinden. Doch scheitern seine Versuche, Alexia/Adrien zum „Mann“ zu machen, auf geradezu rührselige Art und Weise, wiewohl sämtliche Bestrebungen, Alexias Weiblichkeit zu ignorieren, irgendwann fehlschlagen müssen. Am Schluss steht Alexias Opfer zugunsten jenes unerhörten, neuen Maschinenwesens, das sie mit Vincents Geburtshilfe zur Welt gebracht hat – die Morgendämmerung einer neuen Zeitrechnung.

9/10

LA PISCINE

Zitat entfällt.

La Piscine (Der Swimmingpool) ~ F/I 1969
Directed By: Jacques Deray

Marianne (Romy Schneider) und Jean-Paul (Alain Delon), ein junges Paar, verlebt den Sommerurlaub nahe Saint-Tropez in einem luxuriösen Haus mit großzügigem Swimmingpool. Der müßige, harmonische Ferienalltag hat ein jähes Ende, als Musikproduzent und Lebemann Harry (Maurice Ronet) gemeinsam mit seiner backfischigen Tochter Pénélope (Jane Birkin) auftaucht. Harry war einst mit Marianne liiert und mit Jean-Paul befreundet, bevor diese ihre romantische Beziehung begonnen. Von Pénélope wussten beide nichts. Das etwas stoffelige, aber hübsche Mädchen zieht rasch Jean-Pauls Aufmerksamkeit und Begierde auf sich, umso unpassender Mariannes Idee, Vater und Tochter zum Bleiben einzuladen. In den nächsten Tagen kochen allmählich die alten Konflikte wieder hoch, die darin kulminieren, dass Jean-Paul mit Pénélope schläft. Im Zuge des daraus resultierenden Streits ertränkt Jean-Paul den stark alkoholisierten Harry im Pool und versucht hernach, das Ganze nach einem Unfall aussehen zu lassen. Der hartnäckig in der Sache ermittelnde Polizist (Paul Crauchet) sät jedoch alsbald Zweifel bei Marianne, die schließlich die Wahrheit ahnt…

Getting away with murder: Jacques Derays neo noir, ironischerweise ein sonnendurchflutetes, mit sanfter Erotik versetztes Kriminaldrama, das Romy Schneiders letzte Karrierephase einleiten und entscheidend prägen sollte, genießt heute einen deutlich besseren Ruf als zur Zeit seiner Erstaufführung. Seine Spannung bezieht der Film aus der sich verdichtenden Viererkonstellation, die erst nach und nach ihre Untiefen und Risse offenbart. Allein die Tatsache, dass Harry mit seinem schicken Maserati und seiner noch schickeren Tochter insgeheim bloß deshalb vor Ort erscheint, um seinem ehemaligen, heuer tief verhassten Freund Jean-Paul zu imponieren und möglicherweise nochmal einen Stich bei Marianne landen zu können, sorgt für die Anbahnung einer Katastrophe – ohne ihre Anwesenheit wäre der Sommer des Paares deutlich geebneter verlaufen. Zwischen Jean-Paul und Marianne stimmt soweit alles – ihre jeweiligen Qualitäten als Autor bzw. Journalistin müssen zwar unter zeitweiligen Blockaden und Unispiriertheiten leiden, dafür sind sie tief verliebt und harmonieren auch sexuell. Dass Jean-Paul zur Promiskuität neigt, weiß Marianne; ein stilles agreement sorgt jedoch dafür, dass sie sich vom libertinen Nachtleben Saint-Tropez‘ fernhalten und somit nichts Belastendes geschehen kann. Mit dem ebenso lauten wie narzisstischzen Harry ändert sich all das – plötzlich ist das Haus abends voller Gäste, Harry flirtet offen mit Marianne und Jean-Pauls stille Abscheu hinsichtlich des unerwünschten Gastes steigert sich ins Unermessliche. Seine ultimative Quittung wider Harry erfüllt sich schließlich mit der Verführung Pénélopes, gefolgt von der in ihrem Ablauf relativ sadistischen Ermordung Harrys. Jean-Pauls zutiefst abgründiger Charakter bricht sich entfesselt Bahn; eine Entwicklung, die auch Marianne bald registrieren muss. Dennoch endet „La Piscine“ ebenso romantisch wie unbequem: Marianne verzichtet trotz der mittlerweile erfolgten Gewissheit um seine Schuld darauf, Paul anzuzeigen, versucht zunächst, ihn zu verlassen, muss sich schließlich jedoch eingestehen, dass sie ihm verfallen ist und bleibt bei ihm.
Man sollte dem südfranzösischen Flair des Films mit seiner Affinität zur leichtlebigen Côte-d’Azur-Bohéme und dem exaltierten Savoir-vivre der ausgehenden Sechziger wohl schon zugetan sein, um sich mit Derays in jeder Hinsicht gedrosseltem Tempo (selbst die – zugegeben etwas unglaubwürdig inszenierte – Mordszene lässt sich unendlich Zeit) arrangieren zu können. Dann jedoch vermögen flirrende Sommerhitze und schwitzige Emotionalität den Gusto des entsprechend zugetanen Betrachters anzusprechen.

8/10