ONDSKAN

Zitat entfällt.

Ondskan (Evil) ~ S/DK 2003
Directed By: Mikael Håfström

Stockholm in den späten Fünfzigern. Der intelligente Teenager Erik Ponti (Andreas Wilson) fällt immer wieder durch brutale Schlägereien und andere kriminelle Aktionen auf, allesamt wohl umwegige Reaktionen auf die körperlichen Misshandlungen durch seinen gewalttätigen Stiefvater (Johan Rabaeus). Als er schließlich polternd der Schule verwiesen wird, sieht Eriks Mutter (Marie Richardson) die letzte Chance für ihren Filius, einen Abschluss zu bekommen, in einem Internatsplatz. Nachdem sie diverses Mobiliar veräußert hat, meldet sie Erik an der Eliteschule Stjärnsberg an. Dort herrscht eine traditionsreiche Hackordnung, die darin besteht, dass die Primaner die jüngeren Schüler mittels allerlei selbstherrlicher Regeln herumkommandieren, drangsalieren und erniedrigen. Erik verweigert jedoch jedweden Gehorsam und macht sich so zum obersten Hassobjekt des Schülersprechers Silverhielm (Gustaf Skarsgård) und seines Adlatus Dahlen (Jesper Salén). Deren Unterdrückungsversuche, die bald dazu dienen sollen, ihn aus der Reserve zu locken und ihn somit fliegen zu lassen, prallen samt und sonders an Erik ab, insbesondere, nachdem dieser die Schulmeisterschaft im Schwimmen gewinnt. So entwickelt man diverse alternative Strategien, darunter die, Eriks sanften Zimmergenossen Pierre (Henrik Lundström) zu tyrannisieren…

Der bereits 1981 erstveröffentlichte, autobiographische Roman „Ondskan“ des schwedischen Journalisten und Erfolgsautors Jan Guillou zählt zu den meistgelesenen muttersprachlichen Büchern im Land und erhielt auch Einzug in den deutschen Schulliteraturkanon. Bis zur weitestgehend kongenialen Filmadaption dauerte es dennoch einige Jahre, wobei die Wartezeit sich als lohnend erwies: Mikael Håfströms „Ondskan“ präsentiert sich als vielschichtiges Coming-of-Age-Drama, dessen diskursive Essenz sich vor allem auf den Topos „Selbstbehauptung innerhalb eines restriktiv-repressiven Systems“ kapriziert. Erik Ponti, „der Neue“, oder „die Ratte“, wie er von den Primanern um den sadistischen Silverhielm bald höhnisch gerufen wird, steckt nämlich in einem schweren Identitätsdilemma. Als durchaus selbst gewaltaffiner, erfahrener Schläger, dem es ein leichtes wäre, auch den älteren Fatzkes von Stjärnsberg unvergessliche Lektionen zu erteilen, darf er um keinen Preis zurückschlagen, denn das würde ihn den kostspieligen Schulplatz sowie den Abschluss kosten und seiner Mutter das Herz brechen. Es bedarf also anderer Mittel und Wege, um sich durchzusetzen, ohne zum Ausgestoßenen zu werden. Eriks nun folgender Weg gestaltet sich entsprechend mühsam und entbehrungsreich. Die Strafexerzizien von Silverhielm und seinem Gefolge werden zunehmend exzessiv und perfid, analog zu Eriks gleichbleibend stoischer Renitenz ihnen gegenüber. Der Lehrkörper indes schaut, obschon es durchaus liberal und fair denkende Didaktiker darunter gibt, gezielt weg und vertraut ganz auf das pädagogische Prinzip der „Selbsterziehung“ unter den Eleven – schließlich „funktioniert“ selbiges schon seit Jahrzehnten.
Allerdings ergibt sich aus Eriks stetig weiter kultiviertem Heldenstatus (und damit auch Guillaus Selbstbeweihräucherung) zugleich ein latentes Problem innerhalb des Narrativs, verfolgt es trotz aller treffender Anklagepunkte in Richtung Faschismus, Filz und Dünkelhaftigkeit doch eine unverhohlen darwinistische Denkweise. Erik kann am Ende nämlich nur reüssieren, weil er genügend Stärke, Cleverness und vor allem Resistenz besitzt, um sich durchzusetzen. Ein intellektuell geprägtes Individuum wie sein Freund Pierre Tanguy, Befürworter von Gandhis weg des gewaltfreien Widerstands oder Strindbergs Arbeiten, scheitert an den Repressalien der Älteren. Zu weich, zu verkopft – kurzum: zu schwach ist er, um Ungerechtigkeit und Despotismus langfristig ertragen zu können. Erik derweil macht aus seinen offenkundigen Vorbildern Elvis, Brando, Dean schon äußerlich keinen Hehl und wird wie sie schlussendlich rebellisch und findig genug sein, um den Spieß umdrehen zu können.
Man mag das mehr oder weniger genießbar finden – „Ondskan“ ist infolge diverser untadeliger Qualitätsmerkmale von der Inszenierung bis hin zu den darstellerischen Leistungen insgesamt ein starker Film, der zumindest zeigt, wie wichtig es vor allem für Heranwachsende ist, eine stabile moralische Agenda zu entwickeln.

8/10

A.C.A.B. – ALL COPS ARE BASTARDS

Zitat entfällt.

A.C.A.B. – All Cops Are Bastards ~ I/F 2012
Directed By: Stefano Sollima

Die drei römischen Bereitschaftspolizisten Cobra (Pierfrancesco Favino), Negro (Filippo Nigro) und Mazinga (Marco Giallini) bezeichnen sich selbst als „Brüder“. Sie werden immer dann herbeigerufen, wenn die vorderste Front gefragt ist. Fußballspiele mit gewaltbereiten Hooligans gehören ebenso dazu wie Hausräumungen, politische Demonstrationen oder Auflösungen illegaler Flüchtlingslager. Vierter im Bunde ist der mittlerweile ausgeschiedene, als Parkwächter arbeitende Carletto (Andrea Sartoretti), der jedoch im Grunde noch nahtlos dazugehört. Sowohl ihre Arbeit als auch ihre Vorgehensweise findet sich gestützt von einer allseitigen, unerschütterlichen Selbsträson. Man sieht sich etwas larmoyant als notwendiges Übel; als die, die die Drecksarbeit verrichten müssen, eben weil sie es so gut können. Umso breitärschiger kultiviert das Quartett seinen Hass auf alle gesellschaftlichen Störfaktoren: Neonazis, Kommunisten, Ausländer, Asylanten, Ultras, Schnorrer, Obdachlose – das Gesocks lauert in jedem Winkel. Strafverfahren wegen Gewaltanwendung, wie eines gegen Cobra, der einem Fußballfan die Vorderzähne ausgeschlagen hat, sind eben eine obligatorische Begleiterscheinung des Drecksjobs.
Als der deutlich jüngere, unwirsche Neuling Adriano Costatini (Domnenico Diele) zur Bereitschaft kommt, nehmen die Übrigen sich seiner quasi-väterlich an. Der Junge muss eben noch etwas zurechtgestutzt werden. Doch das Altherren-Idyll droht an seinem eigenen Selbstverständnis zu zerbrechen, als Mazinga bei einem Einsatz ein Messer ins Bein bekommt und berufsunfähig wird. Diese Aktion schreit nach Rache, und zwar ganz inoffiziell. Doch der bald geworfene Bumerang kommt ebenso schnell wieder zurück und für Costatini ist der Punkt erreicht, an dem kein Freundschaftspakt der Welt mehr zur Rechtfertigung herhält…

Fast zeitgleich mit „Diaz – Don’t Clean Up This Blood“ erschien der ebenfalls englisch betitelte „A.C.A.B. – All Cops Are Bastards“, dessen klassisches, programmatisches Akronym gleichermaßen von Links wie Rechts verwendet wird. Sollimas Polizeifilm eignet sich insofern gut als companion piece zu Vicaris berückendem Meisterwerk, als dass Genua ’01 und die gewaltsame Räumung der Diaz-Schule auch hierin eine – obschon eher hintergründig besetzte – zentrale Motivrolle einnehmen: Cobra, Nero, Mazinga und Carletto waren einst nämlich höchstselbst Teil der Hundertschaft, die die friedlichen Demonstranten krankenhausreif prügelten – ein Erlebnis, das selbst diesem hartgesottenen Quartett noch sechs Jahre später Bauchschmerzen bereitet. Das schlechte Gewissen hält jedoch keinen von ihnen davon ab, nach die persönliche Agenda nach wie vor zur oberen Maxime zu machen, auch wenn Cobra Costatini zunächst mehrfach davon abhält, gegen mögliche Verdächtige übergriffig zu werden oder ihn nach einem Gewaltausbruch sogar deckt. Ihr jeweiliges persönliches Versagen im Privatleben tut das Übrige dazu, insbesondere den hochaggressiven Negro zusehends die (Selbst-)Kontrolle verlieren zu lassen. Cobra, als Junggeselle noch mit den wenigsten außerberuflichen Problemen belastet, tut sein Möglichstes, um den Kern der Bruderschaft zusammenzuhalten, doch gegen die Tatsache, dass Mazingas Sohn Giancarlo (Eugenio Mastrandrea) sich längst von dem liebesunfähigen Vater abgewandt und zum Nazi-Skin geworden ist, kann selbst er nichts ausrichten, ebensowenig wie gegen die Anzeige wegen Körperverletzung, die Negro zu Recht anhängig ist, seit er seine Ex-Frau (Eradis Josende Oberto) bedroht und geschlagen hat. Alles bröckelt. Schließlich wird Costatini zum Denunzianten, als er sich an die Abteilung für innere Angelegenheiten wendet. Wie der filmfinale Einsatz gegen eine Unzahl rach- und blutsüchtiger Ultras (wegen der Ermordung des Lazio-Fans Garbriele Sandri durch einen Polizisten), der die drei Freunde nochmals zusammenführt, von Sollima im unzweideutigen Gedenken an „Assault On Precinct 13“ inszeniert, endet, bleibt dem Zuschauer vorenthalten. Als jedoch das Stichwort „Diaz“ am Ende wieder aufploppt, ahnt Cobra, dass sich hier möglicherweise eine Art metaphysischer Schuldspirale schließen wird. Trotz seiner Zeitbezüge gemahnt „A.C.A.B.“, den Sollima gekonnt und druckvoll inszenierte, deutlich direkter an Sidney Lumets Polizeifilmzyklus denn an politisches Kino. Im Mittelpunkt stehen die vier Protagonistenschicksale und deren Reziprozität, die einmal mehr in den Abgrund weist.

8/10

DIAZ – DON’T CLEAN UP THIS BLOOD

Zitat entfällt.

Diaz – Don’t Clean Up This Blood ~ I/RO/F 2012
Directed By: Daniele Vicari

Genua, in der Nacht vom 21 auf den 22. Juli 2001. Die wegen ungeheuerlicher Vorgänge im Polizeiapparat bereits ins Röcheln geratene Demokratie gerät für die kommenden 72 Stunden in einen todesgleichen Atemstillstand: Die Esuola Diaz ist während des tags zuvor zu Ende gegangenen G8-Gipfels für Demonstrierende geöffnet. Etliche verschiedene Sprachen sind zu hören, die teilnehmenden Globalisierungsgegner, von denen die allermeisten bereits abgereist sind, kommen aus aller Herren Länder. Auch Indymedia, eine Erste-Hilfe-Station und Rechtsberater für angeklagte Protestler gastieren im Gebäude. Die vornehmlich jungen Leute liegen größenteils bereits friedlich schlummernd auf ihren Isomatten und in ihren Schlafsäcken, als um die Mitternachtsstunde eine große Gruppe italienischer Polizisten das Gebäude stürmt und mit ihren Gummiknüppeln wahllos auf alles eindrischt, was nach Mensch aussieht. Am Boden Liegende werden mit Fußtritten traktiert. 60 DemonstrantInnen werden teils schwer verletzt auf Tragen in umliegende Hospitäler verbracht. Andere landen in der Polizeikaserne Nino Bixio im Stadtteil Bolzaneto. Dort werden sie per Filzstift mit X-en markiert, sämtlicher Bürgerrechte beraubt, erniedrigt und gefoltert. Erst viele Stunden später erhalten die Gefangenen wieder die Möglichkeit, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Ein Skandal, der bis heute nicht zufriedenstellend aufgearbeitet wurde.

Der in Dokumentationssachen bereits erfahrene Daniele Vicari arbeitete mit seinem fünften Spielfilm „Diaz – Don’t Clean Up This Blood“ eine der größten politischen Ungeheuerlichkeiten im Westeuropa unseres noch jungen Jahrtausends auf. Für die kurze Zeit des von der Regierung Berlusconi damals stolz ausgerichteten G8-Gipfels fand sich ein altes, längst verdrängtes Schreckgespenst reanimiert – das des Faschismus. Die beiden Episoden um die Diaz-Schule und die Nino-Bixio-Kaserne stehen dabei im Zentrum von Vicaris wütendem Zelluloidpamphlet, einem, soviel gleich vorweg, Meilenstein des politischen Kinos. Gewissermaßen kulminiert in jenen etwa 72 Stunden all das, was zuvor durch das Innenministerium und einen entsprechend gebrieften und angespitzten Polizeiapparat emsig vorbereitet wurde. Durch diverse Zeitzeugen ist belegt, dass der vermeintliche „Schwarze Block“ von Polizeiagenten mindestens durchsetzt war. Die vermummten Chaosstifter, unter denen sich auch rechte Hooligans der internationalen Szene befanden, konnten ihr Zerstörungswerk, darunter brennende Autos und zerstörte Ladenfassaden, unter den Augen der längst großräumig angerückten Polizei und von dieser unbehelligt entfesseln. Vereinzelt wurde beobachtet und dokumentiert, wie angebliche Autonome Rücksprache mit Polizisten hielten und in einem Fall sogar eindeutig Befehle erteilten. Da die übrigen, von vielen Zehntausenden organisierten und besuchten Demonstrationen eher einem friedlichen Happening mit allerlei Kunst und Folklore glich, musste das unbedingte Durchsetzungsvermögen der rechtsregierten Staatsgewalt ergo in anderer Weise veranschaulicht werden. Der zunächst unfassbare Schluss liegt somit nahe, dass die Polizei in Gemeinschaft mit gewaltbereiten Faschisten höchstselbst für das Gros der Zerstörungen verantwortlich und die hernach gegen die de facto unbewaffneten Restdemonstrierenden gerichtete Vergeltungsaktion nichts anderes war als eine vormals gezielt provozierte Strafexpedition. Dafür sprechen auch gefälschte Beweise in Form zweier von der Polizei höchtselbst in der Diaz-Schule deponierten Molotov-Cocktails, die in direkter Folge öffentlichkeitswirksam ausgesstellt wurden und als Hauptanklagepunkt fungieren sollten. Die Situation in der Nino Bixio glich nach dem blutigen Überfall auf die unbewaffneten Nachtgäste schließlich der in südamerikanischen Militärgefängnissen unter Pinochet oder Videla, binnen derer die vor Ort befindlichen BeamtInnen sich unverblümt als Neonazis zu erkennen gaben.
Mit dem hohen aufklärerischen Anspruch etwa eines Costa-Gavras beackert Vicari diese schlimmen Ereignisse, fokussiert sich dabei nach höchst sorgfältiger Vorbereitung in Form von etlichen Stunden Protokollsichtungen und Interviews blitzlichtartig auf einige wenige Opfer und Beteiligte, deren Filmfiguren jeweils andere Namen, aber dieselben Initialen tragen wie ihre realen Pendants. Chronologische Sprünge dienen dabei keineswegs als selbstgerechte, formale Extravaganzen oder gar der Zuschauerverwirrung, sondern arbeiten in kongenialer Weise nach und nach unterschiedliche Schwerpunkt- und Schlüsselereignisse auf, wie die Erschießung des 23-jährigen Demonstranten Carlo Giuliani durch einen drei Jahre jüngeren Carabiniere oder die Involvierung ranghoher Politiker in die Geschehnisse. „Diaz – Don’t Clean Up This Blood“ steht somit trotz des großen zeitlichen Abstands in seinem Bestreben um fiktionalisierte, aber dennoch minutiöse Aufbereitungsarbeit und Wachrüttelung in direkter Tradition zu Costa-Gavras‘ politischem Hauptwerk und erreicht dabei mindestens denselben Grad an Zuschauerinvolvierung. Gerade wegen der Authentiziät des Geschilderten erreicht sein Film eine selten gewordene Intensität, die das Publikum gleichermaßen abholt wie niedermäht. Wenn es so etwas gibt, wie politdidaktisches Pflichtkino zur Demokratieerziehung – „Diaz – Don’t Clean Up This Blood“ wäre einer der vordringlichsten Kandidaten. Ergänzend zum Film lohnt ferner die nachträgliche Betrachtung der preisgekrönten 2002er-WDR-Dokumentation „Die Stoy: Gipfelstürmer – Die blutigen Tage von Genua“, die hier auf youtube angesehen werden kann.

10/10

DEN USKYLDIGE

Zitat entfällt.

Den Uskyldige (The Innocents) ~ NO/FIN/S/DK/F/UK 2021
Directed By: Eskil Vogt

Die neunjährige Ida (Rakel Lenora Fløttum) zieht mit ihren Eltern (Ellen Dorrit Petersen, Morten Svartveit) und ihrer etwas älteren, schwer autistischen Schwester Anna (Alva Brynsmo Ramstad) in eine kleine Mehrfamilienhaus-Trabantensiedlung außerhalb der Stadt. Es sind Sommerferien und obwohl hier fast nur junge Familien mit Kindern leben, sind die meisten im Urlaub. Dennoch lernt die aus mehrerlei Gründen frustrierte Ida (sie ist eifersüchtig auf Anna, weil der Großteil der elterlichen Aufmerksamkeit zwangsläufig ihr gebührt und empfindet zudem die Umzugssituation als belastend) zwei Nachbarskinder kennen, beide Außenseiter, beide jeweils aus Familien mit Migrationshintergründen stammend und beide bei alleinerziehende Müttern lebend: Ben (Sam Ashraf) leidet unter der offenkundigen Überforderung sowie dem fast schon exponierten Desinteresse seiner Mutter (Lisa Tønne) an ihm und beherbergt hinter seinem traurig anmutenden Äußeren tiefliegende Aggressionen, Aisha (Mina Yasmin Bremseth Asheim), die jüngste im Bunde, hat Vitiligo, ist zutiefst empathisch und spürt die anhaltende Trauer ihrer Mutter (Kadra Yusuf), die wohl aus dem Verlust des Partners herrührt. Rasch entdeckt Ida, dass die beiden, offenbar nochmals verstärkt durch Annas Anwesenheit, besondere Begabungen haben – so können sie zueinander telepathische Verbindungen aufbauen. Ben verfügt zudem über telekinetische Kräfte und eine Art Fernhypnose, mit der er sich andere zeitweilig zuwillen machen kann. Durch den Kontakt mit Anna, in der ebenfalls solche Fähigkeiten schlummern, verstärken sich diese Anlagen nochmals. Bei Ben jedoch wächst analog zu seinem Können auch seine tiefe, innere Wut…

Auf scheinbar irrationale Weise veränderte, besessene oder einfach von Natur aus böse Kinder und Jugendliche bilden im Phantastischen Film bereits seit vielen Jahrzehnten ihr eigenes Subgenre heraus, das oftmals besonders interessante bis sehenswerte Beiträge hervorbringt und in den letzten Jahren wieder frequentierter bedient wurde. Mit dem Triumphzug des Superheldengenres erweitertet sich schließlich auch der diesbezügliche Motivpool nochmals entscheidend: Werke wie Josh Tranks „Chronicle“, David Yaroveskys „Brightburn“ oder Josh Boones sogar direkt bei Marvel entlehnte „The New Mutants“-Adaption etwa zeigten das entsprechende Potenzial im amerikanischen Bereich bereits deutlich auf. Die Skandinavier taten sich indes insoweit im Coming-of-Age-Sektor hervor, als dass sie das herannahende Erwachsenwerden als thematischen Überbau für eindeutig im Horror verwurzelte Metaphorik wählten. „Den Uskyldige“ wagt diesbezüglich gewissermaßen einen Brückenschlag und verwendet dafür sehr profitable Ansätze. So erzählt Vogt seine beunruhigende Geschichte ausschließlich aus der Perspektive der kindlichen ProtagonistInnen. Ihre ganz subjektive, steng limitierte Wahrnehmung des Äußeren, ihres sozialen Mikrokosmos und der paternalistischen Strukturen, denen sie untergeordnet sind, trägt die gesamte Diegese. Für die Kids (und somit auch das Setting des Films) besteht ihre Welt aus der kleinen Hochhaussiedlung, einem seltsam untiefen Anrainerwald, dem Spielplatz, der begrenzenden Landstraße. Dahinter ist erstmals nichts weiter von Bedeutung. Sein vordringliches, transgressives Moment entwickelt der Film innerhalb dieses scharf umrissenen Areals nun aus dem Mysterium, das die präpubertäre, kindliche Psyche (Ida, Ben und Aisha sind allesamt unter oder um die zehn Jahre alt – bei Freud entspräche das exakt der Latenzphase) für (uns) Erwachsene darstellt. Ein gegebenfalls noch nicht zur Gänze ausgeprägtes Moralgerüst, die Möglichkeit, Verantwortung abzulehnen oder an die Erwachsenen weiterzureichen, primär instinktiv getroffene und vollzogene Entscheidungen zählen ebenso dazu wie ein noch unterentwickeltes Verständnis für das Endgültige oder scheinbar sinistre Charakterzüge wie Sadismus und Boshaftigkeit, die dem infantilen Werden stets wesensinhärent sind. Auch diesbezüglich bewegt sich „Den Uskyldige“ nah an stark freudianischen Diskursen. Dadurch nun, dass die Kinder jene Fähigkeiten entwickeln, jedoch keineswegs das für deren Einsatz unabdingbare Verantwortungsbewusstsein, beginnt ihr Umfeld sich in bedrohlicher Weise sukzessive zu zersetzen. Dabei lässt Vogt sich nicht von etwaigen Erläuterungszwängen ausbremsen; woher die Kräfte ursächlich stammen, ja, sogar, ob sie wirklich existent sind oder nicht bloß einem eskapistischen Gruselmärchen (Rationalisierungsbstrebungen der sommerlichen Gewaltausbrüche wären ebenso möglich) der noch ortsfremden, sich vielleicht in Teilphantastereien flüchtenden Ida entspringen, wird zur bloßen Entscheidung rezeptionistischer Erwägungen. In jedem Fall gelang dem bislang nur wenig in Erscheinung getretenen Vogt mit „Den Uskyldige“ ein Sommermärchen der ganz anderen Art; sonnendurchflutet-zwielichtig, im Unterholz lauernd, gelegentlich offensiv und doch beseelt von einer ganz eigenen, finsteren Magie. Wie die Kindheit.

9/10

THE CARD COUNTER

„All in.“

The Card Counter ~ USA/UK/CH/S 2021
Directed By: Paul Schrader

Nach achteinhalb Jahren Haft in Leavenworth nennt sich der vormalige PFC William Tillich (Oscar Isaac) nunmehr William Tell, reist von Casino zu Casino und verdient sein Geld als Kartenspieler beim Pokern und Black Jack. Die passenden Gewinnstrategien hat sich der einsame Drifter während seiner Gefängniszeit selbst beigebracht. Auf einem Kongress für Sicherheitstechnik begegnet er dem jungen Cirk (Tye Sheridan), der William unversehens seine Kontaktdaten übergibt. Cirk entpuppt sich als der Sohn von Roger Beaufort, der eine ganz ähnliche Vergangenheit wie William aufweist, an PTBS litt und sich das Leben genommen hat. Beide Männer dienten als Folterverhörspezialisten in Abu Ghraib unter dem Kommando von Major John Gordo (Willem Dafoe), der mittlerweile als Privatier reich geworden ist, während William und Roger as Sündenböcke herhalten und hohe Gefängnisstrafen absitzen mussten und mit ihren Erinnerungen nie fertig werden konnten. Cirk, für sein Alter recht hoch verschuldet, plant, sich an Gordo zu rächen, indem er ihn in der von ihm selbst vorexerzierten Weise foltert und tötet. William setzt sich zum Ziel, das zu verhindern und nimmt den jungen Mann, den er fortan „The Kid“ nennt, unter seine Fittiche. Gemeinsam mit der Spielerakquisiteurin La Linda (Tiffany Haddish), in die sich William verliebt, plant William, genug Geld für sich selbst und für Cirks Zukunft zu gewinnen und sich dann zur Ruhe zu setzen. Doch der Junge kann sich von seinen Rachegedanken nicht loslösen…

Paul Schrader schafft es auch in hohen Jahren und nachdem man hier und dort zwischenzeitlich bereits versucht war, ihn, ähnlich wie andere New-Hollywood-Veteranen wie Friedkin oder De Palma, als betagten Anti-Studio-Don-Quijote abzuwatschen, der den Kampf gegen die Geldgeber endgültig verloren hat, kleine Meisterwerke zu produzieren, ohne dabei auch nur einen Hauch seiner künstlerischen Signatur zu denunzieren. „The Card Counter“ steht als jüngster Film des calvinistischen auteurs in einer langen Motivgenealogie um schuldbeladene, einsame Männer, die sich in ihrer jeweiligen Profession strukturell einrichten und denen die tief im Inneren ersehnte Erlösung versagt bleibt. Erst ein vermeintlich sinnbeladener Gewaltakt scheint als Katalysator ihrer schlummernden, doch omnipräsenten Traumata der Katharsis Raum zu geben – notfalls auch um den Preis des eigenen, physischen Lebens. Durch die jüngeren Arbeiten zieht sich zudem immer wieder das Thema des Einsatzes der US-Streitkräfte im Irak nach 9/11 – früher war es Vietnam. William Tell, von Oscar Isaac in der mit Abstand besten Leistung, die ich bis dato von ihm gesehen habe, umwerfend gespielt, personifiziert in „The Card Counter“ erneut jenen Archetypus, dem man schon so häufig begegnet ist, den einamen Traumatisierten, der auf seinem Weg Herz und Lächeln eingebüßt hat und versucht, auf Erden zu bestehen – notfalls auch, indem er die Dinge auf eine wiederum verlustintensive Weise geradezurücken versucht. Schrader zeichnet den Weg Tillichs/Tells durch Motels und Casinos minutiös nach und schafft eine umfassende Charakteristik ohne viele Worte. Um Ruhe zu finden, kleidet William seine Zimmer stets sorgsam mit schneeweißen Laken aus und hängt alle Bilder ab; der Anschein äußerer Reinheit soll die innere bedingen. Er spielt nicht um des Spielens der gar des Nervenkitzels Willen, sondern um sich damit über Wasser zu halten, seiner Existenz eine sich selbst perpetuierende Alltagsstruktur zu verleihen – allesamt Facetten, die er am passiven Gefängnisleben zu schätzen gelernt hat. Gefühle für andere zuzulassen fällt ihm schwer, da sie zwangsläufig Unwägbarkeiten bedeuten und doch treten zwei Menschen in sein Leben, die schließlich so etwas wie das Miniaturmodell einer Familie repräsentieren. Wo jedoch die partnerschaftliche Liebe zögerlich erblüht (Schrader genehmigt sich hier eine wunderschöne Sequenz im beinahe psychedelisch beleuchteten Missouri Botanical Garden), wird die väterliche gewaltsam enttäuscht. Folter und Kasteiung bleiben unwiderrufliche Elemente in Williams Biographie. Robert Levon Beens sphärische Musik reichert die Sogwirkung von Schraders kontemplativer visueller Erzählweise nochmals an und verehrt „The Card Counter“ das letzte formale Finish. Brillant.

9/10

LES FAUVES

Zitat entfällt.

Les Fauves (Großstadthölle – Gehetzt und gejagt) ~ F 1984
Directed By: Jean-Louis Daniel

Stuntfahrer Christopher Bergham (Daniel Auteuil), genannt Berg, freut sich auf eine gemeinsame Zukunft mit seiner von ihm schwangeren Partnerin und Geliebten Bela (Gabrielle Lazure). Als unerwartet jedoch Belas psychotischer, ihr in inzestuöser Liebe verfallener Bruder Léandro (Philippe Léotard) auftaucht und damit droht, Berg zu töten, wenn sie nicht mit ihm käme, hat das Glück ein jähes Ende. Bela eröffnet Berg unter Tränen und ohne Angabe von Gründen, dass sie ihn verlassen müsse. Den nachfolgenden, gemeinsamen Todessprung vermasselt Berg mit Absicht, doch nur Bela verbrennt in dem verunglückten Wagen. Drei Jahre später arbeitet Berg, der das Geschehene nie verwunden hat, bei der privaten Pariser Sicherheitsfirma „La Veillance“. Deren Mitarbeiter, durchweg gescheiterte Existenzen mit ominöser Vergangenheit, patroullieren nachts durch die Metropole, um Straftaten zu verhindern. Als der rachsüchtige Léandro, den Berg nie persönlich gesehen hat, diesen ausfindig macht, heuert er ebenfalls bei La Veillance an. Eines Nachts versucht Jeff Garcia (Jean-François Balmer), einer von Bergs anderen Kollegen, die junge Bardame Mimi (Véronique Delbourg), auf die auch Berg ein vorsichtiges Auge geworfen hat, zu vergewaltigen. Auf einen Hinweis Léandros hin stellt Berg Jeff, nachdem sich Mimi losreißen konnte, schießt ihm in die Schulter und rast verwirrt davon. Kurz darauf erscheint Léandro, verpasst Jeff einen Kopfschuss und stellt das Ganze so hin, als habe Berg ihn hingerichtet. Unter der Führung des wutschnaubenden Keller (Farid Chopel) jagt das gesamte Team von La Veillance Berg und Sylvia durch die Pariser Nacht.

Ein buchstäblicher Wahnsinnsfilm, wie er in seiner finalen Ausprägung und Gestalt wohl nur in den frühen Achtzigern in Frankreich entstehen konnte. Das völlig freidrehende Script vereint der Reihe nach folgende motivische Blitzlichter: Autostunts, Inzest per Kindesmissbrauch, Totschlag aus enttäuschter Liebe, Rache, organisierte Bürgerwehr, sleazige Modeschauen, homosexueller Frust, Vergewaltigung, schlechte englischsprachige Rocksongs, Amoklauf, Selbstjustiz, Verfolgungsjagden und ganz allgemeinen Irrwitz. Jean-Louis Daniel inszeniert all das deutlich weniger exploitativ als man annehmen möchte, dafür jedoch mit dem unerschütterlichen Selbstverständnis eines Künstlers, der sich just im Begriff wähnt, der Nachwelt etwas ganz Großes zu verehren. Daniel, einem spärlich arbeitenden, jedoch bis heute aktiver Regisseur mit einem recht schillernden Œuvre, merkt man unweigerlich an, dass er sich wenig um freiheitsbeschränkende Erschwernisse wie dramaturgische Schieflagen oder gar inhaltliche Unzulänglichkeiten scherte; was ihn interessiert, sind sein Ensemble und der bloße Sinn für möglichst prominent inszenierte Einsätze von scheinbar bedeutungslosen Details, Momenten, Schauplätzen. Der Ratio gilt es ergo zu entsagen. Dann erlebt man einen noch jungen Auteuil, der seine völlig stoische Mimik zur oberen schauspielerischen Maxime deklariert und vor allem den wunderbaren Philippe Léotard, der mir in letzter Zeit schon häufig begegnet ist mit seinem seltsam verkniffen wirkenden Antlitz. Über den alles andere als klassisch schönen Darsteller ist auf die Schnelle nicht allzu Umfassendes in Erfahrung zu bringen, außer, dass er keine 61 wurde, aus einer politisch aktiven Familie stammte, wechselnde Beziehungen zu Frauen pflegte und wohl zeitlebens mit Alkohol- und Drogenproblemen zu kämpfen hatte, auch dergestalt, dass er Mitte der Neunziger wegen Kokainhandels verurteilt wurde. Ein faszinierender Typ, für den „Les Fauves“ auch ein kleines Denkmal markiert: Als inzestuös veranlagter Provinzpsycho, dem die Großstadt über den Kopf wächst, schwitzt er trotz winterlichen Szenarios so unentwegt stark, dass die Kameralinse zu beschlagen droht, verdreht allenthalben delirant die Augen, hat die dreckigsten Hände der Welt und spielt unvermittelt das ewigselbe Thema auf einer Querflöte (augenscheinlich eine Reminiszenz an Charles Bronson in Leones „C’Era Una Volta Il West“). Ob er wirklich drauf war, weiß ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen, aber es sieht verdammt danach aus, als habe Daniel ihn einfach machen lassen. Jedenfalls lohnte der komplett durchgeknallte „Les Fauves“ bereits allein seinetwegen. Und noch wegen manch anderem.

7/10

THE GUNMAN

„I just need to shoot something.“

The Gunman ~ USA/UK/E/F 2015
Directed By: Pierre Morel

Acht Jahre, nachdem der nunmehr reuige Ex-Söldner Jim Terrier (Sean Penn) im Auftrag einer diesbezüglich wohlorganisierten Firma einen kongolesischen Minister (Clive Curtis) erschossen hat und darüber nicht nur seine Freundin Annie (Jasmine Trinca) verlassen musste, sondern zugleich mitverantwortlich für die folgenden Bürgerkriegsunruhen im Land war, arbeitet er, erst seit Kurzem zurück vor Ort, als NGO-Brunnenbauer. Als er von einigen Männern, die ihn töten wollen, angegriffen wird, erweisen sich seine alten Talente als nach wie vor ausgeprägt. Dennoch reist er umgehend nach London, um Kontakt zu seinem früheren Mitarbeiter Cox (Mark Rylance), der mittlerweile eine international operierende Securityfirma leitet, aufzunehmen und nach möglichen Gründen für den Anschlag auf sein Leben zu suchen. Auch seinen alten Freund und Partner Stanley (Ray Winstone) holt er ins Boot. Nach einem Zusammenbruch, der als mögliches Symptom einer PTBS diagnostiziert wird, reist Terrier mit Stanley weiter nach Barcelona, wo sich mit Felix (Javier Bardem) ein weiterer Ex-Partner niedergelassen hat. Felix hat als Organisator seinerzeit dafür gesorgt, dass Terrier für die Mordmission an dem Minister zuständig war und daraufhin die sich verlassen wähnende Annie geheiratet. Diese ihrerseits ist über Terriers Auftauchen höchst überrascht und offenbart, dass sie ihn noch immer liebt. Als auch Felix ermordet wird, stellt sich heraus, dass Cox danach trachtet, sämtliche Spuren seiner Vergangenheit zu verwischen, um sein aktualisiertes Renommee als seriöser Firmenboss nicht zu gefährden. Er tötet auch Stanley und lässt Annie kidnappen, was Terrier noch wütender macht…

Aussteigen gilt nicht: Es gibt tatsächlich nur einen einzigen Grund, warum ich überhaupt auf „The Gunman“ aufmerksam wurde, nämlich den, dass er auf Jean-Patrick Manchettes Roman „La Position Du Tireur Couché“ basiert, derselben Vorlage, die schon für das erst kürzlich geschaute Delon-Vehikel „Le Choc“ herangezogen wurde. Zudem habe ich Manchette erst jetzt als einen wichtigen Plotlieferanten für französische polars der siebziger und achtziger Jahre wahrgenommen. „The Gunman“ wäre demnach de facto eine filmische Neuauflage von „Le Choc“, allerdings, soviel sei gleich festzuhalten, mit einem überaus geringen Wiedererkennungswert. Bis auf wenige inhaltliche Elemente, vordringlich jene, dass der Protagonist denselben Nachnamen trägt, ein meisterhafter Profikiller ohne Interesse an der Weiterarbeit in seinem Leisten ist und von seinem früheren Chef partout nicht in Ruhe gelassen wird, handelt es sich um zwei grundverschiedene Filme. Immerhin firmiert „The Gunman“ ebenfalls als Stück, dass die Typologie seines Hauptdarstellers neu- respektive umzugestalten sucht. Der in späteren Jahren üblicherweise selbst als Filmemacher oder als Charakterdarsteller aktive, zum Drehzeitpunkt um vierundfünzigjährige Sean Penn tritt hier urplötzlich und dabei so selbstverständlich, als habe er überhaupt nie etwas anderes vorgelegt, als lupenreiner Actionheros in Erscheinung, dessen Physis in etwa so definiert daherkommt wie die von Sylvester Stallone in der „Rocky IV“-Phase und der, wohl selbst nicht ganz unbeeindruckt von seinem Trainingserfolg, den massigen Körper dann auch gleich mit inflationärer Quote ins Bild setzen lässt. Analog zu seinem gebuildeten Body prügelt und schießt er sich dann auch durch die Szenarien, wie es sich für einen Genrefilm dieser Zeit ziemt, wobei „The Gunman“ trotz mancher Avancen an den flott geschnittenen, farbintensiven Regiechic seiner Ära oder, in Bezug auf die Zurschaustellung luxuriös-mondäner Schauplätze und die an Bond-Filme angelehnte, touristikwerbeaffin inszenierte Städtetour durch Europa, seinen tief im Kern verankerten Achtzigergeist doch nie ganz verhehlen kann. Mark L. Lesters „Commando“ etwa kommt einem vor allem rückblickend unablässig in den Sinn, der Manchette bei näherer Betrachtung auch seinerseits eine ganze Menge verdankt. Sean Penn also in jener Form kommt natürlich nicht ganz umhin, der Tötungsmaschine by nature Terrier zusätzlich das charakterliche Klischeepathos des sühnevollen Junghumanisten anheim zu stellen, der zum schuldbewussten Entwicklungshelfer mutiert, was sich erwartungsgemäß selbst völlig ad absurdum führt. Die vormals bedeutungsvoll eingeführte PTBS-bedingte Amnesiegeschichte verfolgt die Dramaturgie ferner auch kaum sonderlich konsequent. Für Penn blieb es dann bei diesem solitären Genreausflug.
Als das, was er ist (und nicht ist), wohl ein ordentlicher Film mit einigen Schauwerten.

7/10

THE THIRTEENTH FLOOR

„I fell in love with you before I even met you.“

The Thirteenth Floor (The 13th Floor – Bist du, was du denkst?) ~ D/USA 1999
Directed By: Josef Rusnak

Dem milliardenschweren Computergenie Hannon Fuller (Armin Mueller-Stahl) ist es gemeinsam mit seinem Kompagnon Douglas Hall (Craig Bierko) gelungen, eine komplett funktionstüchtige VR zu kreieren. Deren Szenario bildet ein simuliertes Los Angeles des Jahres 1937, bevölkert von künstlichen Intelligenzen, die allesamt den Avatar eines Vorbildes aus der realen Welt abbilden und alltagsgebunden agieren, dabei jedoch nichts von ihrem Ursprung ahnen. Mithilfe einer komplexen Software kann man sich für einen befristeten Zeitraum in seine VR-Persona versetzen lassen und als diese in der Kunstwelt bewegen, derweil der eigene Körper quasi „entgeistert“ bleibt. Eines Abends wird Fuller nach einem seiner Trips in die VR ermordet aufgefunden. Für den ermittelnden Detective McBain (Dennis Haysbert) ist Douglas Hall eindeutig der Täter, dieser beteuert jedoch seine Unschuld. Mithilfe des Techniknerds Whitney (Vincent D’Onofrio) findet Hall, der sich selbst auf Spurensuche begibt, heraus, dass Fuller offensichtlich eine alles umwälzende Entdeckung gemacht und diese in Form einer handgeschriebenen Notiz im artifiziellen 1937 für ihn hinterlassen hat. Hall versetzt sich in sein alter ego John Ferguson, einen Bankangestellten, und stößt in der Computerwelt auf die Gegenparts von Fuller – den biederen Buchladenbesitzer Grierson – und Whitney – einen soziopathischen Barkeeper namens Jerry Ashton – und fördert tatsächlich Ungeheuerliches zutage…

Im „Matrix“-Jahr 1999 erschienen, für etwa ein Viertel von dessen Budget hergestellt und vergleichsweise krachend gefloppt, spricht heute kaum mehr jemand über diesen kleinen, jedoch durchaus bemerkenswerten Beitrag zum SciFi-Subgenre der VR-Dystopien. Gewiss, den umwälzenden und prägenden soziokulturellen Impact von „The Matrix“ erreicht „The Thirteenth Floor“ zu keiner Sekunde; vermutlich eignet er sich auch nicht ganz so umfassend als Sujet philosophischer Diskurse. Dennoch empfinde ich ihn in der Revision als das im Direktvergleich deutlich sympathischere Werk, vielleicht gerade weil alles ein paar Nummern bescheidener ausfällt, die Effektarbeit relativ überschaubar bleibt alles sehr viel weniger brachial und coolness-betont daherkommt und daraus eben kein völlig aus jedwedem Ruder gelaufenes Franchise wie bei den Wachowskis erwachsen musste. Dabei entpuppt sich auch die ebenso wie Fassbinders Fernseh-Zweiteiler „Welt am Draht“ auf Daniel F. Galouyes bereits 1964 erschienenen Roman „Simulacron-3“ basierende Geschichte von „The Thirteenth Floor“ als eine bei etwas Licht besehen unendliche, die noch gewaltiges Potenzial für weitere Handlungsstränge beherbergt.
Der inhaltliche Clou, der sich an der Oberfläche letztlich traditionellen Noir-Motiven unterordnet, entpuppt sich nämlich, als sich im weiteren Handlungsverlauf und durch die Involvierung einer femme mystérieuse (Gretchen Mol) herauskristallisiert, dergestalt, dass auch die als real erachtete Welt von Douglas Hall nurmehr eine VR repräsentiert, die im Jahre 2024 als eine von „vielen Tausenden“ erschaffen wurde und die wiederum durch die Schaffung einer VR innerhalb der VR zum Risiko wird. Gewiss mag im Umkehrschluss auch diese lediglich eine Simulation, ein Kunstprodukt sein, dessen AkteurInnen nichts von ihrer Artifizialität ahnen – oder vielleicht eben doch. Derlei weiterführende Überlegungen überlässt das Script anders als „The Matrix“ ausschließlich seinem Publikum und lässt somit gewissermaßen Raum für uferlose Phantasien. Nicht zuletzt diesbezüglich steht er in der zeitgenössisch betrachtet jüngeren Erbfolge von Quasi-Vorgängern wie Verhoevens „Total Recall“ oder Proyas‘ „Dark City“, die jeweils aus sehr anverwandten Motivkreisen schöpfen.

8/10

RUN ALL NIGHT

„Tell everyone to get ready. Jimmy’s coming.“

Run All Night ~ USA 2015
Directed By: Jaume Collet-Serra

Nachdem der irischstämmige New Yorker Jimmy Conlon (Liam Neeson) viele Jahre als Killer für seinen besten Freund, den Syndikatsboss Shawn Maguire (Ed Harris) gearbeitet hat, fristet er sein Leben als dauerbesoffener Schnorrer und Tagedieb. Sein Sohn Mike (Joel Kinnaman), verheiratet und Vater zweier Kinder, will von ihm nichts wissen. Shawn hat derweil seinerseits Probleme mit dem eigenen Filius Danny (Boyd Holbrook), einem koksenden, lauten Störenfried, der seinen Vater gern in Geschäfte mit der albanischen Heroinmafia einspannen würde. Als dieser ablehnt und Danny jede weitere Hilfe versagt, erschießt dieser die beiden entsandten Albaner (Radivoje Bukvic, Tony Naumovski) kurzerhand, wird dabei jedoch durch einen dummen Zufall von deren Chauffeur, Mike Conlon, beobachtet. Nunmehr macht Danny Jagd auf Mike. Jimmy erfährt von der Sache und rettet Mike das Leben, indem er Danny tötet. Der vor Wut schäumende Maguire Senior vergisst alle Freundschaft und will weder Vater noch Sohn Conlon lebend davon kommen lassen. Ihn und seine Leute, einen übereifrigen Police Detective (Vincent D’Onofrio) und einen psychopathischen Profikiller (Common) auf den Fersen, erwartet die Conlons eine lange Nacht.

Einen der kaum mehr überschaubar vielen Genrefilme, auf die sich Liam Neeson im Alter und wohl beginnend mit Pierre Morels „Taken“ verlegt hat. Auch gemeinsam mit dessen Regisseur, dem spanischstämmigen Jaume Collet-Serra, hat Neeson nunmehr bereits vier Filme gemacht, wobei ich „Run All Night“ immerhin hinreichend ansehnlich fand, mir die übrigen drei in Kürze auch anschauen zu wollen. Nun darf man von diesem, einem grundsätzlich amttlich gecrafteten Gebrauchsfilm immerhin, keine sonderliche Innovation erwarten. Collet-Serras diverse neo-klassische Elemente aus Action- und Gangsterkino fusionierendes Werk schippert auf den ersten Blick im direkten Fahrwasser von Chad Stahelskis „John Wick“: Ein verzogener Gangsterfilius weckt durch sein koksinduziertes, egomanisches Verhalten einen eigentlich zu allseitiger Milieuberuhigung lange schlafenden Hund, der sein vormaliges Handwerk reumütig an den Nagel gehängt glaubt. Der aufgrund fehlgeleiteter Familienehre gekränkte Bossvater entfesselt daraufhin eine leichenreiche Hatz, deren Verlierer am Ende zwangsläufig er selbst und seine Organisation sein müssen, da die sie mitreißende Ein-Mann-Naturgewalt allzu entschlossen agiert. Soweit das Grundprinzip eben auch von „Run All Night“, der insofern noch interessant ist, als dass er sich ein wenig in die Subkultur irischen Migrantentums vortastet und mit Ed Harris einen diesbezüglich ja hinlänglich beschlagenen Antagonisten aufbietet. So ist es vor allem das Väterduell der beiden alternden Stars, das das Herz das Films schlagen lässt. Davon unabhängig, dass der eine der beiden, zumindest bezogen auf ihren gegenwärtigen Clinch, auf der moralisch sicheren Seite steht, hat Jimmy Conlon freilich allzu viele Sünden auf dem Kerbholz, um dem im Morgengrauen und upstate angesiedelten Finale als Katholik noch lebend entweichen zu dürfen – zu viele Opfer sind dem zeitweilig als „The Gravedigger“ Berüchtigten ehedem vor den Lauf geraten. Dabei sühnt Jimmy im Inneren bereits seit vielen Jahren. Vom Gewissen erdrückt, dem Sohn entfremdet und dem Suff verfallen, ist er seinen alten Kumpanen bestenfalls noch für schäbige Scherze gut und darf gerade noch volltrunken den Weihnachtsmann auf Shawns Familienfeier darbieten. Doch wehe, es wird persönlich (und das wird es) – Jimmy ist schneller nüchtern als die nächste Whiskeyflasche entkorkt und türmt im Nullkommanichts Leichen auf wie zu seinen besten Zeiten.
Collet-Serra inszeniert diesen doch relativ austauschbaren Plot dynamisch und wendungsreich; dabei gefällt er sich durch mäßig aufregende, um nicht zu konstatieren redundante Regiesperenzchen wie gewaltige time lapse shots durch das nächtliche New York, die dem eigentlichen Wesen des Narrativs als kammerspielartiger Doppelvendetta eher zuwider laufen. Dennoch bietet „Run All Night“ summa summarum noch immer genug an brauchbaren Elementen, um im leicht überdurchschnittlichen Qualitätssektor bestehen zu können.

7/10

WEDLOCK

„You non-conformists are all alike.“

Wedlock ~ USA/UK 1991
Directed By: Lewis Teague

In naher Zukunft: Technikgenie Frank Warren (Rutger Hauer) wird nach einem groß angelegten Diamantenraub zunächst von seinen beiden Kompagnons Noelle (Joan Chen) und Sam (James Remar) hintergangen, hernach geschnappt und in das neue, privat organisierte Hochsicherheitsgefängnis „Camp Holliday“ überstellt, freilich nicht, ohne die Beute vorher in Sicherheit gebracht zu haben. In Camp Holliday erwartet Frank kein Zuckerschlecken: Wie alle dort einsitzenden Männer und Frauen erhält er ein hochtechnologisches Funkhalsband mit eingearbeitetem Plastikspengstoff, das explodiert, sobald es sich mehr als 100 Yards von seinem Gegenstück entfernt – wobei natürlich niemand weiß, wer sein/e oder ihr/e Wedlock-PartnerIn ist. Chef und Direktor Holliday (Stephen Tobolowsky) will Frank zudem mit allen Mitteln das Versteck der Diamanten entlocken und befleißigt sich dazu diverser, schäbiger Mittel. Insbesondere der hochaggressive Mitgefangene Emerald (Basil Wallace), der in Hollidays Diensten steht, drangsaliert Frank unentwegt. Unterdessen eröffnet ihm Tracy, dass ihr Halsband mit dem von Frank in Verbindung stehe, was dieser nicht recht glauben mag. Als es zum unausweichlichen Duell zwischen Frank und Emerald kommt, gelingt es Tracy, mit Frank zu fliehen. Nunmehr gilt es, gewissermaßen bombensicher aneinander gefesselt, vor der Polizei, vor Hollidays Leuten und auch vor Sam und Noelle, die mit Holliday zusammenarbeiten, zu fliehen. Und auf Frank wartet noch eine weitere, unangenehme Überraschung…

Dass „Wedlock“, den ich heuer erstmals gesehen habe, vor allem eine Actionkomödie ist, war mir nicht ganz klar. Ich hatte, in Unkenntnis des Inhalts ferner, eher ein futuristisches Knastszenario Marke „Fortress“ oder „No Escape“ erwartet, doch weit gefehlt. Tatsächlich steht eher die gemeinsame, turbulente Flucht und Paarbildung von Rutger Hauer und Mimi Rogers im Zentrum des mehr oder weniger temopreich inszenierten Geschehens, wobei infolge der wechselnden Stationen quer durch den Golden State auch klare Road-Movie-Elemente durchschimmern. Das Ganze ließe sich wohl am Ehesten als eine postmodernisierte Variation von Stanley Kramers „The Defiant Ones“ umreißen, minus dessen souialkritischen Impact und stattdessen „angereichert“ mit allerlei romantischen Verirrungen. Als relativ preisgünstig hergestellter HBO-Produktion fehlt es „Wedlock“ allerdings an Möglichkeiten: Sein futuristisches, in Teilen dystopisch angelegtes Szenario etwa bleibt weitgehende Behauptung. Mit Ausnahme der Tatsachen, dass der US-Strafvollzug infolge privatisierter Gefängnisse (ohne humanitäres Ethos) noch abenteuerlichere Züge annimmt als ohnehin schon sowie einer ab und zu kolportierten Wasserknappheit, sieht alles aus wie 1991. Die wenigen Actionszenen bleiben ziemlich bisslos und sein geringes Spannungspotenzial schöpft das Script aus zwei Sequenzen, in denen die Distanz zwischen Frank und Tracy zu groß zu werden droht. Man darf wohl vermuten, dass Teague, der sich im Rückblick nicht unzufrieden mit seiner Arbeit zeigt, das Bestmögliche aus seinen eingeschränkten Bedingungen herausholt. So zehrt „Wedlock“ primär von seinem antiproportional zu den production values zu verortendem, frisch aufspielenden Ensemble, das ein deutlich gesetzter wirkender, irgendwo zwischen larmoyanter Selbstironie und diebischer Spielfreude befindlicher (und somit sehr sehenswerter) Rutger Hauer souverän anführt.
Schade in jedem Falle, dass Lewis Teagues goldene Regiezeit auf die 1980er-Dekade (und somit immerhin ganze fünf schöne Filme) beschränkt bleibt und er danach fast ausschließlich Fernsehen machen musste.

6/10