BLOODLINE

„Please describe to me the feelings and sensations you experience.“

Bloodline ~ USA 2018
Directed By: Henry Jacobson

Evan Cole (Seann William Scott) ist seit Kurzem aufopferungsvoller Vater eines kleinen Sohnes und treusorgender Ehemann der sensiblen Lauren (Mariela Garriga). Seinen Lebensunterhalt verdient der stets emotionslos wirkende Evan als Sozialarbeiter in der High School. Leider kann er den von ihm betreuten Kids nicht ansatzweise die Hilfen zukommen lassen, die sie wirklich bräuchten – nur wenige offenbaren sich zur Gänze, wenn die auf eine Schulstunde begrenzte Sitzungszeit überhaupt dafür reicht.
Doch auch in Evan selbst schlummern unwägbare Untiefen. Sein gewalttätiger Vater (Matthew Bellows) hat ihn als Kind (Hudson West) geschlagen und wurde dann von Mutter Marie (Cassandra Ballard) ermordet. Auch heute noch ist Marie (Dale Dickey) praktisch omnipräsent und kümmert sich – vielleicht etwas zu intensiv – um ihren Enkel. Eines Tages reißt in Evans Innenleben die dünne Wand zwischen Akzeptanz und Aktionismus und er lässt all den brutalen Erwachsenen, die seine Schutzbefohlenen quälen, deren nach seinem Dafürhalten gerechte Strafe zukommen.

Und noch eine Blumhouse-Produktion, diesmal eine, die mit einiger Verspätung bei uns landete (da sie wohl den mit Universal üblichen, großen Distributor zu ermangeln hat). Tatsächlich handelt es sich bei „Bloodline“ um eine der besseren, mutigeren und beachtenswerteren Arbeiten der Blum-Schmiede, die mit einiger Großzügigkeit an dem, was das Massenpublikum augenscheinlich für akzeptabel halten dürfte, vorbeischippert.
Stattdessen schlägt Jacobsons Langfilmdebüt sehr viel wüster in die Kerbe „good old fashioned serial killer movie“, indem es bewusst Erinnerungen an die Klassiker des Subgenres weckt – sowohl in psychologischer wie in stilistisch-ästhetischer Hinsicht. Der (ödipal geprägte) Mutterkomplex fehlt da ebensowenig wie der frühzeitig entsorgte, gewalttätige Vater, dessen genetischer und habitueller Schatten unentwegt über dem Protagonisten schwebt. Jener sieht sich derweil den üblichen, gesellschaftlichen Hindernissen gegenüber; einem allzu neugierigen, leider viel zu gescheiten Polizeiermittler (Kevin Carroll), innermoralischem Dissens und schließlich der mangelnden Toleranz jener, denen er doch eigentlich helfen möchte, seinem blutigen Treiben gegenüber. Gewissermaßen neu ist die prägnante Konnexion mit dem Vigilanten-/Selbstjustizler-Film, denn Evan Jacobs tötet im Gegensatz zu vielen seiner filmischen Ahnen weder wahllos noch aus einem tiefenpsychologisch verankerten Reflex heraus. Seine Opfer snd wohlfeil ausgewählte Kinderschänder, Misshandler, Junkies, Nazis, Säufer, Sozialschmarotzer; aus Evans von seinem pathologischen Hang nach Verantwortungsbewusstsein und familiärer Harmonie heraus geprägter Agenda demnach Typen, die es nicht nur verdient haben, wegzukommen, sondern unweigerlich wegmüssen. Dass er selbst ein Produkt offener Gewalt ist, die er durchlebt, aber vor allem bezeugt hat, ist aus Evans Tunnelperspektive heraus unersichtlich für ihn, womit der Kreis sich zu Frauen-, Kinder-, Homosexuellenmördern am Ende doch wieder schließt.
Dass „Bloodline“ (ausgerechnet) Seann William Scott, der vor rund zwanzig Jahren das lustige Porno-Akronym „MILF“ kultivierte und kurz darauf das durch ebensolche praktizierte Prostatamelken salonfähig machte, in einer völlig untypischen Rolle featuret, tut beiden durchaus gut. Dass er zudem einerseits auch feine Ironie nicht ausspart und andererseits mit den üblichen, kleinen Dramaturgiezerrern arbeitet, die Evans Entdeckung infolge immer wieder auftretender faux-pas aufs Spiel stellen, darf man dem ansonsten gewiss gelungenen Erstlingswerk großmütig verzeihen.

7/10

THE NIGHTINGALE

„Welcome to the world – full of misery from top to bottom.“

The Nightingale ~ AUS 2018
Directed By: Jennifer Kent

Van Diemen’s Land, 1825. Die irischstämmige Strafgefangene Clare (Aisling Franciosi) kann sich nur durch Frondienste für den britischen Offizier Hawkins (Sam Claflin) eine halbfreie Existenz mit Ehemann Aidan (Michael Sheasby) und ihrem kleinen Töchterchen sichern. Hawkins jedoch reagiert regelmäßig seinen beruflichen und persönlichen Frust an Clare ab, indem er sie unerbittlich ihre Machtlosigkeit spüren lässt und allenthalben vergewaltigt. Als Aidan davon Wind bekommt und sich zur Wehr setzt, töten Hawkins und seine Leute ihn und das Baby und lassen die abermals vergewaltigte Clare ohnmächtig zurück.
Am nächsten Tag entschließt sich die geschändete junge Frau zur Blutrache, engagiert den buschkundigen Aborigine Billy (Baykali Ganambarr) und verfolgt mit dessen Hilfe den mittlerweile in Richtung Norden abgereisten Hawkins und seine Männer.

In ihrem „Babadook“-Nachfolger „The Nightingale“ wendet sich die engagierte australische Regisseurin Jennifer Kent abermals einem Horrorszenario mit feministischem Überbau zu, wählt dafür diesmal jedoch ein historisches Kolorit und ergänzt ihre ohnehin schon sehr zornige Agenda noch um herbe Kolonialismuskritik. Angesiedelt im Tasmanien des frühen 19. Jahrhunderts, das damals vornehmlich als britische Strafkolonie fungierte, wird das Schicksal einer jungen Frau nachgezeichnet, die sich infolge der ihr widerfahrenen misogynen Willkür zur Vigilantin und zum Outlaw entwickelt. Wie die meisten weiblichen Gefangenen in Van Diemen’s Land, wie Tasmanien während jener Ära noch hieß, muss Clare als weitgehend entrechtete Dienerin arbeiten, in ihrem persönlichen Fall für das besonders widerwärtige Musterexemplar eines ebenso inkompetenten wie sadistischen Militäremporkömmlings. Als irische Frau, die zudem mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, zählt ihre Stimme faktisch nichts; sie ist Pöbeleien und Sexismen durch die versoffenen Soldaten ausgesetzt, wobei der umso widerlichere Hawkins das sexuelle „Exklusiv-Gebrauchsrecht“ über sie verfügt. Als Clare den Missbrauch vor ihrem Mann nicht länger verbergen kann, kommt es zur Katastrophe mit sich anschließendem Rachefeldzug.
Doch auch auf die blindwütige und dabei dennoch stets mit ihrem Gewissen hadernde Clare wartet ein humanistischer Lernprozess – wie die allermeisten Weißen ist auch sie eherne Rassistin, die den Ureinwohner Billy zunächst völlig abschätzig behandelt. Erst nach und nach begreift sie, dass viele Aborigines ein Schicksal zu durchleiden haben, das mitunter mindestens ebenso schlimm ist wie ihr eigenes. Ihre Reise lässt sie zur Zeugin von Genozid und ethnischen Säuberungen werden; am Ende steht dann das niederschmetternde Verständnis für ein vom Kolonialismus in die Knie gezwungenes Volk.
„The Nightingale“, den Jennifer Kent – wie ihre Kollegin /und Gesinnungsgenossin Kelly Reichardt deren Meisterwerk „Meek’s Cutoff“ – in heutzutage unüblicher 1,33:1-Kadrage photographiert hat, ist zumindest oberflächlich betrachtet, von wesentlich luziderer Gestalt als „The Babadook“, der ja mit der psychischen Wirrnis seiner Protagonistin spielt. Seine eindeutig linken Themen erweisen sich auch für das Publikum als nicht zu unterschätzende emotionale Belastungsprobe in einer Welt, die dem menschlichen Abgrund deutlich näher steht als jedweder Zukunftsperspektive. Dass ein Film wie dieser in aktuellen Zeiten entsteht und vermutlich auch entstehen muss, lässt somit auch über gegenwärtige globale Zustände meditieren und darüber, dass diese, mit all ihren Missständen, Autokraten und Zweiflern traurigerweise keineswegs von rosigerer Tünchung sind denn anno 1825.

8/10

ROMA

Zitat entfällt.

Roma ~ MEX 2018
Directed By: Alfonso Cuarón

Mexico City, 1970. Die Mixtekin Cleo (Yalitza Aparicio) ist als Mädchen für alles angestellt im turbulenten Haushalt einer Familie im Stadtteil Colonia Roma. Ihr Vollzeitjob, den sie vor allem für die vier teils noch kleinen Kinder ebenso kühlen Kopfes wie aufopferungsvoll ausfüllt, lässt ihr wenig Zeit für Privates. So wird sie unter anderem mittelbar Zeugin einer heftigen Ehekrise, die in die Scheidung der Eltern mündet und vor allem die Mutter des Hauses, Señora Sofia (Marina de Tavira), einiges an Nerven kostet. Doch gerät auch Cleo in eine schwere persönliche Bredouille, als sie von dem Herumtreiber Fermín (Jorge Antonio Guerrero) schwanger wird. Dieser will fortan nichts mehr von Cleo wissen und bedroht sie sogar tätlich, als sie ihn zur Rede zu stellen versucht. Ausgerechnet während eines offenen Schlagabtauschs zwischen Studenten und der paramilitärischen Gruppe der „Halcones“, zu der auch Fermín zählt, befindet sich Cleo gemeinsam mit der Großmutter (Verónica García) im Zentrum. Ihre Fruchtblase platzt und angesichts der heftigen Stresssituation kommt ihr Baby tot zur Welt. Cleo gerät in eine tiefe Sinnkrise, die sich erst wieder langsam löst, als ihr klar wird, wie sehr die mittlerweile vaterlose Familie sie tatächlich braucht.

Alfonso Cuaróns stark autobiographisch gefärbter Film, ganz offenkundig ein Herzensprojekt, erwirtschaftete sich global vielfach enthusiastische Lobeshymnen. Wie so häufig können derlei viele Filmverknallte schwerlich falsch liegen und bestätigt „Roma“ somit ohne Umschweife all seine ihm im großen Stil verabreichten Lorbeeren, seinen damals für teilweises Kopfschütteln sorgenden Netflix-Auftritt hin oder her (- einmal mehr).
„Roma“ ist ein zartes Gedicht, eine sanftmütige Ode, eine stille Hymne, die all die großen Familien- und Kindheitsporträts von Minnelli über Bergman bis Kusturica um ein weiteres Juwel ergänzt; voller Poesie, manchmal trockenem, bitteren Humor, teils markerschütternd traurig. Im Zuge von Cuaróns schwarzweißer Kommunikation mit seinem Publikum gerät sogar die ewig mit Hundehaufen gesäumte, geflieste Einfahrt zum Haus der nachnamenlosen Familie zum zutiefst lyrischen, symbolträchtigen Bild; die Hauptdarstellerin Yalitza Aparicio, absolut fantastisch in ihrer gleichermaßen würdevollen wie leisen Interpretation der Hauptrolle (die Figur der Cleo bildet eine Hommage des Regisseurs an sein eigenes Kindermädchen Libo), bespielt eine der wärmsten, herzlichsten und schönsten Filmfiguren der letzten Jahre. In Cleo destilliert und konzentriert sich zugleich die denkbar perfekte Zuschaueragentin – augenscheinlich dazu bestimmt, die Geschicke der von ihr umsorgten Familie kommentarlos, dabei manchmal von ganz intimen, eigenen Unsicherheiten und Existenzängsten durchgeschüttelt, zu bezeugen, erweist sie sich doch immer wieder als unverzichtbares Rückgrat des von ihr betreuten, nach außen hin respektabel-bourgeoisen und innerfamiliär doch höchst fragilen Mikrokosmos.
Wie von Cuarón gewohnt, kultiviert er abermals den raren Luxus dramaturgischer Langsamkeit mittels eines dezidiert antiklimaktischen Erzählduktus und säumt diesen mit langen Einstellungen absoluter Klug- und Schönheit; die wenigen dramatischen Höhepunkte, seien sie evoziert durch eine übergebührlich gereizte Natur oder die unendliche Dummheit ihrer menschlichen Nutznießer, schneiden umso tiefer ins Fleisch. Für eine fein eingewebte Hommage an die Kinoerlebnisse seiner Kindheit („La Grande Vadrouille“, „Marooned“) nimmt er sich gleich auch noch die Zeit.
Ein makelloses Filmerlebnis.

10/10

THE NECROMANCER

„You’re not welcome here.“

The Necromancer ~ UK 2018
Directed By: Stuart Brennan

Belgien im Juni 1815, unmittelbar nach der Schlacht von Quatre Bras. Ein Quintett britischer Soldaten unter dem Rädelsführer Bernard (Marcus Macleod) desertiert nach dem blutig verlaufenem Scharmützel gegen Napoleons Armée du Nord und macht sich auf den Weg zur Küste. Dieser führt sie unter anderem durch einen finsteren Forst, an dessen Rand sie einen weiteren, verletzten und verwirrt scheinenden Uniformträger (Mark Paul Wake) auflesen. Im zunehmend labyrinthisch erscheinenden Wald wird einer nach dem anderen von ihnen von weiblichen Elfenwesen heimgesucht und mit seiner jeweiligen, sündhaften Vergangenheit konfrontiert.

Horrorstücke vor historischen Sujets finde ich grundsätzlich spannend und interessant – entsprechend vielversprechend erschien mir die Prämisse dieses zufällig auf meinen Weg gespülten englischen Titels. Dessen Ersinner Stuart Brennan, der in Personalunion mit „The Necromancer“ bereits seinen zweiten abendfüllenden Film schrieb, produzierte, inszenierte und mit sich selbst in einer der Hauptrollen bespielte, lässt sich die Ambitioniertheit und den Enthusiasmus, der bei der Herstellung seiner Arbeit walteten, zudem auch mit deutlicher Gewissheit anmerken. Zudem erachte ich die zugrunde liegende Idee, eine Handvoll Wellington-Soldaten mit Flammenbergs (bzw. Kahlerts) klassischer Schwarzwald-Mär um den Nekromanten Volkert zu konfrontieren, für nach wie vor blendend und ansatzsweise auch mit schönen Scripteinfällen garniert. Dennoch empfand ich den Film in seiner Gesamtheit als unrund und unbefriedigend. Mit seinen leider spürbar bescheidenen Mitteln, die insbesondere aus einer dem Zeitkolorit extrem zuwiderlaufenden, nicht selten an Amateurfilme erinnernden, supercrispen Digitalfotografie bestehen, verwehrt sich Brennan der episch-gotische Geschichtshauch, den er offenbar nur zu gern transportiert hätte. Das vorliegende Resultat erweist sich als im negativen Sinne akademisch; zu keiner Sekunde gelang es mir, die analytische Ebene hinter mir zu lassen und in die Immanenz der dargestellten Geschehnisse einzutauchen. Man sieht (und spürt) nie wirklich mehr als eine Gruppe kostümierter bzw. maskierter SchauspielerInnen, die sich vor relativ beliebiger Naturkulisse durchs Gehölz bewegen und e mit inneren wie äußeren Dämonen zu tun bekommen. Was für ein Werk mit höherem Budget, angemessener Technik – und möglicherweise fähigerer Hand – aus „The Necromancer“ hätte werden mögen, wage ich mir insofern kaum auszumalen. Ob ich infolge dieser doch recht ernüchternden Erfahrung Brennans jüngst erschienem Film „Wolf“, der eine Kohorte römischer Legionäre gegen einen unbekannten Gegner jenseits des Hadrianswalls führt, noch eine Chance geben soll und/oder werde, weiß ich derzeit noch nicht so recht.

4/10

CHARLIE SAYS

„But what do you think?“

Charlie Says ~ USA 2018
Directed By: Mary Harron

Drei verurteilte, junge Frauen aus der Manson-Family, Leslie Van Houten (Hannah Murray), Patricia Krenwinkel (Sosie Bacon) und Susan Atkins (Marianne Rendón), verbleiben nach der Abschaffung der Todesstrafe im Staat Kalifornien zunächst weiter im entsprechenden Trakt ihres Gefängnisses. Die bodenständige Feministin und Sozialarbeiterin Karlene Faith (Merritt Wever) nimmt sich des Trios in ehrgeiziger Weise an und versucht zunächst, die fragilen Persönlichkeiten und Beweggründe ihrer Studienobjekte nachvollziehen zu lernen. Als Faith jedoch mit wachsender Bestürzung feststellt, dass Mansons Indoktrination weiterhin stabil bleibt, entschließt sie sich ststtdessen, die psychischen Schutzmechanismen der drei Frauen zu durchbrechen und sie mit der tatsächlichen tragweite ihrer Verbrechen zu konfrontieren.

Mary Harron interessiert sich seit jeher für schillernde Persönlichkeiten aus den vergangenen Dekaden und die zeitlichen Kontexte, in denen sie erblühten. Sie befasste sich mit Valerie Solanas und Andy Warhol, mit Bettie Page und jüngst, zum fünfzigsten Jahrestag der „Helter-Skelter“-Morde, mit Charles Manson, respektive seiner kleinen Kommune aus Untergebenen. Im Fokus von Harrons Observation steht die naive Leslie Van Houten. Aus einem gestörten Verhältnis zu ihrer Mutter (infolge einer illegalen Abtreibung in Leslies frühester Jugend) und massivem Drogenkonsum landete sie über Umwege bei Manson und seiner „Familie“ und ließ sich, wie die meisten seiner Untergebenen, von dessen gehirnwäscheartigen Oktroyierungen bis zum Verlust ihrer Individualität hin einlullen. Der beinahe permanente, begleitende Einsatz psychoaktiver Drogen macht sie schließlich zu einer willenlosen, völlig devoten Sklavin von Mansons verquerem Weltbild, seinen irrwitzigen Thesen und schließlich seinem Plan zur Forcierung des ohnehin zu erwartenden Rassenkrieges. In dessen Zuge gab Manson schließlich die Aufträge zu den berüchtigten sieben Morden, die in zwei Zügen durchgeführt wurden und denen auch Roman Polanskis schwangere Frau Sharon Tate zum Opfer fiel. Aktiv und in umso bestialischerer Weise beteiligte sich Van Houten, die von Manson das Kommunen-Alias „Lulu“ verpasst bekommen hatte, an der Ermordung von Rosemary LaBianca, mehr oder weniger ein rein zufällig ausgewähltes Opfer.
Harrons Porträt nun dieser verlorenen jungen Frau (die heute, mit 70 Jahren und nach etlichen Bewährungsgesuchen nach wie vor im Gefängnis sitzt) bezieht eine eindeutig sympathisierende Position für Van Houten, die tendenziell kontrovers in Augenschein genommen werden muss. In Harrons Perspektivierung, die auf zwei Monographien zum Fall (von Ed Sanders und Karlene Faith) rekurriert, erlebt man Lesie van Houten höchstselbst als Opfer – als Opfer nämlich ihrer Lebensumstände, ihrer Zeit und ihrer fragilen, psychischen Determination. Sie kommt zu Manson, jenem von Matt Smith mit beeindruckender physiognomischer Ähnlichkeit dargestellten Wolf im Schafspelz, als willfähriges Lämmchen, als Knetklumpen, dem Manson bloß noch sein misogynes Brandzeichen verpassen muss, um sie zum treuen Gefolgsmädchen umzuerziehen. Auch im weiteren Verlauf von „Charlie Says“ wird Van Houtens vermeintlich brave Persönlichkeit nie in Frage gestellt, sie wird zum sprichwörtlichen Fähnchen im Wind, das lernt, keine autarken Entscheidungen mehr zu treffen und sich vollends dem oberflächlichen Charisma Mansons hinzugeben, ihm vollends hörig zu sein.
Hier schält sich nah und nach eine tiefere, gemeingültigere Motivebene Harrons heraus – die Kraft des Patriarchats. Ihr Charles Manson ist ein dummer, eitler und narzisstischer Spinner, der sich selbst zum musikalischen Genie verklärt, darüber hinaus klägliche Misserfolge erlebt (etwa, als Byrds-Produzent Terry Melcher ihm eine Abfuhr verpasst) und diese mittels nurmehr noch harscherer Machtspielchen sublimiert. In der (hypothetischen) Analyse, wie und warum eine doch recht beträchtliche Anzahl junger Frauen und Männer diesem doch sehr unreflektiert und beinahe tumb gezeichneten Geck in die Fänge geraten konnten; worin mit Ausnahme seines guten Aussehens ferner das ja doch unleugbare, einstige Charisma Mansons gelegen haben mag, versagt „Charlie Says“ leider, dabei bot sich doch hier gerade eine willkommene Chance zu einer ebensolchen, reflektierten Untersuchung. Auch auf schauspielerischer Ebene verharrt der Film zumeist im mediokren Sektor, lediglich das Kolorit der dargestellten Ära vermag er durch zahlreiche visuelle Details wie eine an zeitgenössische Plattencover angelehnte, leicht vergilbte Optik, wiederum atmosphärisch adäquat wiederzuerwecken.
Insgesamt doch deutlich weniger spendabel als erhofft.

6/10

THE MULE

„I could buy everything, but I couldn’t buy time.“

The Mule ~ USA 2018
Directed By: Clint Eastwood

Eher durch ganz alltägliche Koinzidenz gerät der alte Blumenzüchter Earl Stone (Clint Eastwood) an die mexikanische Drogenmafia. Ein lukrativer Job, in dessen Zuge Earl nichts anderes zu tun hat, als mit seinem rostigen Pick-up eine Ladung Kokain von Texas nach Illinois zu transportieren und dort abzuliefern, lässt den rüstigen Rentner Blut lecken. Er wird zu einem „mule“, einem interstaatlichen Drogenkurier der mexikanischen Kartelle, der sich durch seine ruhige und unaufgeregte Art schon bald die Sympathie seiner Mittelsmänner sichern kann und immer mehr Geld verdient. Derweil kriselt es an allen sonstigen Fronten: Die DEA in Form des umtriebigen Agent Bates (Bradley Cooper) wird auf Earl aufmerksam und heftet sich an seine Fährte; die Beziehung Earls zu seiner Familie kriselt heftigst. Als ein Emporkömmling (Clifton Collins Jr.) aus der eigenen Organisation Earls obersten Boss, den Kartellchef Laton (Andy Garcia), aus dem Weg räumt, fangen Earls Schwierigkeiten jedoch erst richtig an.

Und erneut liefert der große alte Mann des amerikanischen Kinos ab, folgt seinem Stil als lakonischer auteur, der um sich selbst als Protagonisten immer noch die wahrscheinlich schönsten Storys inszeniert und vermag selbst als greiser 88-jähriger noch seine Anhängerschaft zu rühren, ohne sich Weinerlichkeiten hinzugeben. Den Vorschutz von lauter Aggressivität, wie ihn der oftmals wütende Eastwood der siebziger und achtziger Jahre noch befleißigte, ist längst passé und selbst ein paar unumgängliche Gewaltmomente, wie die Ermordung des druglord Laton oder eine Tracht Prügel, die Earl Stone von zwei mexikanischen Gorillas bezieht, spielen sich entweder in beinahe humoristisch geprägtem Kontext ab bzw. werden erst gar nicht onscreen dargestellt. Stattdessen frönt Eastwood ganz lässig jenem Topos, der ihn bereits seit rund drei Dekaden und mit zunehmender Vehemenz vornehmlich umtreibt – der Melancholie des würdevollen Alterns. Auch das damit eng verbundene Motiv der entfremdeten Familie, die über die Jahre hinweg zum Opfer des autobiographisch in der Hauptsache mit sich selbst und seinen Angelegenheiten befassten, alternden Eigenbrötlers wird, geriert erneut zum wesentlichen Stoff von Eastwoods nach wie vor uramerikanischer Geschichtsschreiberei. Earl Stone ist alles andere als ein Mensch mit kriminellem Potenzial. Vielmehr möchte man ihn als typischen Südstaatensenior vom alten Schlag – Korea-Veteran, Charmeur, leidenschaftlicher Blumenfreund und eben lausiger Familienvater, der er ist – bezeichnen, einen, der Afroamerikaner noch so unbedarft wie freundlich als „negroes“ anspricht und den die vergessene Hochzeit seiner Tochter (Alison Eastwood) zugunsten des Besuchs einer Blumenmesse auch deren letzte Sympathien kostet. Der Einsatz seiner realen Tochter in dieser Rolle spricht Bände. Zwölf Jahre später hat der Online-Handel den hoffnungslos technikfremden Ewiggestrigen, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Internet und Mobiltelefone schimpft, in den Ruin getrieben. Hier setzt dann der Kernplot ein, der Earl Stone als zumindest geistig noch wendigen Lebenskünstler zeigt, der sich von dem Geld für seine Koksfahrten noch ein paar schöne Dinge gönnt. Wie zuletzt stets befleißigt sich Eastwood aufs Neue der treuen Weise „the best stories are written by life itself“ und erzählt die wahre Geschichte des Horikulturisten und Drogenkuriers Leo Sharp nach, der über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg quer durch die USA Kokain für das Sinaloa-Kartell transportierte und mit 87 Jahren verhaftet wurde. Nach einem Jahr der abzusitzenden Strafe wurde der nette, alte Herr wieder entlassen und starb dann wiederum zwei Jahre später. Seinen Film lässt Eastwood nicht mit dem Tod des Protagonisten enden. Er zeigt seinen Earl Stone vielmehr da, wo er glücklicher nicht sein könnte – bei der Blumenhege. Dass dieser sich dabei im Knast befindet, trübt seine sympathische Geschichte keinesfalls ein, im Gegenteil. Der Mythos darf vielmehr noch ein paar Jahre weiterleben.

8/10

THE SISTERS BROTHERS

„We have enough money to stop for good.“

The Sisters Brothers ~ F/E/RO/BE/USA 2018
Directed By: Jacques Audiard

Oregon, 1851. Die beiden Sisters-Brüder Eli (John C. Reilly) und Charlie (Joaquin Phoenix) betätigen sich als Laufburschen für den reichen Geschäftsmann „Commodore“ (Rutger Hauer), der sie stets dann mobilisiert, wenn es besonders dreckige Jobs ohne Nachfragen zu erledigen gilt. Aktuell sollen sie einen Chemiker namens Hermann Kermit Warm (Riz Ahmed), der just auf dem Weg nach San Francisco ist, in die Zange nehmen. Der sich privat gern in melancholischer Schreiberei ergehende Privatdetektiv John Morris (Jake Gyllenhaal) wurde ebenfalls engagiert, um die Vorarbeit zu leisten, Warm also ausfindig zu machen und den Sisters seinen Aufenthaltsort zu übermitteln. Während die Brüder einen beschwerlichen Ritt voller Zwischenfälle in Richtung Kalifornien auf sich nehmen, schließen Warm und Morris Bekanntschaft und freunden sich an. Morris erfährt von Warm den tatsächlichen Grund für das Interesse des Commodore an seiner Person: Er hat eine stark ätzende Säure entwickelt, die Gold in Gewässern sichtbar macht. Warm ist jedoch mitnichten daran interessiert, sich mittels der Formel privat zu bereichern; sein eigentlicher Traum sieht vor, mit dem zu erwartenden Erlös in Texas eine Enklave zivilisierter Liberaler aufzubauen, die als Musterbeispiel für eine zukünftige Gesellschaftsform dienen könnte. Als die Sisters die beiden bereits auf Goldsuche befindlichen Partner treffen, lassen sie sich auf deren Seite ziehen und entscheiden sich gegen ihren vormaligen Auftraggeber. Der zögert nicht lange und hetzt ihnen seine Killer auf den Hals…

Internationaler als zuvor wurde Jacques Audiard bereits mit seiner letzten Regiearbeit „Dheepan“, in der es um tamilische Migranten in Frankreich ging. Für „The Sisters Brothers“, seinen achten Film und den ersten, dessen Script in englischer Sprache verfasst ist, konnte er nunmehr auf eine recht eindrucksvolle US-Besetzung zurückgreifen, mit der im Schlepptau er sich naheliegenderweise eines uramerikanischen Stoffes annahm – eines Western. Ausschließlich gedreht an europäischen Schauplätzen (wie es diverse kontinentale Regisseure auch in jüngerer Zeit, die sich dem Genre widmen, ebenfalls zu praktizieren pflegen), vornehmlich in Rumänien und Spanien, spiegelt „The Sisters Brothers“ dennoch diverse klassische Gattungstopoi in teils immens metaphorisierter Form wider. Allgegenwärtig zeichnet sich etwa der akuter werdende Konflikt ab zwischen dem abenteurlichen, maskulinen Hang, die atavistische Wildheit der frontier towns zu bewahren und dem der Zivilisation des Ostens entspringenden Bedürfnis, eine sichere Existenzgrundlage in Form einer streng demokratisch organisierten Gesellschaftsreform zu errichten. Hermann Kermit Warm, Wissenschaftler, Philosoph, Pazifist und Träumer, steht symbolisch für einen möglichen Aufbruch in eine solche Utopie. Er hat bereits konkrete Pläne entwickelt, wie diese zu realisieren wäre und dem eigenen Bekunden nach bereits eine umfassende Loge aus Geistesverwandten mobilisiert. Sein Schlüssel ist jene chemische Formel, um Gold zu finden, wohl eine Art Königswasser. Auf Warms Weg ins Sozialparadies liegen jedoch die unwägbaren Stolpersteine der von außen heranströmenden Gier und Gewalt; man will seiner Erfindung unter Anwendung von Gewalt zunächst habhaft werden und weiß später nicht, adäquat mit ihr Maß zu halten. Auftritt Sisters Brothers. Die beiden nicht gänzlich ungebildeten (sie sind immerhin alphabetisiert), aber doch recht tumben Brüder stecken voller psychischer Untiefen. Charlie hat einst den prügelnden, dauerbesoffenen Vater getötet und ist nun selbst halber Alkoholiker, dem Mord und Gewalt zur zweiten Natur wurden. Eli, der Ältere der beiden, einer verflossenen Liebe tief nachtrauernd, sehnt sich insgeheim nach Sesshaftwerdung und Bürgerlichkeit, fühlt sich jedoch für Charlie verantwortlich. Die Begegnung mit Warm und Morris, die bereits in langen Gesprächen ihrer mittlerweile gemeinsamen Vision nachhängen, wird für sie zu einer biographischen Zäsur. Tatsächlich entwickeln die Brüder Verständnis und Sympathie für die beiden Gewalt verabscheuenden Männer und sind bereit, zu ihren Gunsten der vormaligen Loyalität zu entsagen. Eine ganz wunderbare Szene zeigt Eli und Morris, wie sie sich bei der morgendlichen Zahnpflege begegnen. Eli hat seine Zahnbürste nebst Fluorpulver erst vor kurzem in einem Krämerladen erworben und ist noch ganz verzückt von der ungewohnten, neuen Oralhygiene. Seine Reaktion, als er Morris ebenfalls beim Zähneputzen erblickt, spricht Bände – er fühlt sich, überglücklich lächelnd, dem traurigen Poeten nun inniglich verbunden, während jener lediglich ein kurzes Kopfnicken für Eli erübrigt.
Charlies Gier durchkreuzt schließlich alle Träume und mündet in ein humanes und ökologisches Fiasko, als er die Indikatorsäure maßlos in das gestaute Flussbett kippt. Nach dieser schlimmen Schlappe bleiben zudem noch die Häscher des Commodore, die den Sisters keine ruhige Minute mehr lassen. Ironischerweise führt sie am Ende, nach getaner Arbeit, der Weg wieder zurück ins heimische Nest, zur Mutter (Carol Kane), wo ein letztes kleines Sanktuarium des Friedens und der Harmonie wartet.
So wandelt „The Sisters Brothers“ leicht, sanft ironisch und behende zwischen finsterem Humor und Tragödie, wenn er seine beiden liebens- zugleich aber zutiefst bemitleidenswerten Protagonisten durch eine mit Irrwegen gepflasterte Welt schickt, zu deren nachhaltiger Mitbestimmung sie trotz aller ungestümen Versuche keine noch so winzige Nuance beitragen können.

8/10

DRAGGED ACROSS CONCRETE

„We have the skills and the right to acquire proper compensation.“

Dragged Across Concrete ~ USA/CA 2018
Directed By: S. Craig Zahler

Weil die beiden Police Officers Brett Ridgeman (Mel Gibson) und Anthony Lurasetti (Vince Vaughn) mit einem zu observierenden Verdächtigen allzu hart umspringen und sich dabei versehentlich filmen lassen, werden sie kurzerhand ohne weitere Bezahlung vom Dienst suspendiert. Dabei sind beide dringend auf ihre Liquidität angewiesen; Lurasetti, weil er sich just verloben will und einen allgemein kostspieligen Lebensstil pflegt und Ridgeman, damit er seiner kranken Frau (Laurie Holden) und der Teenagertochter (Jordyn Ashley Olsen) endlich den Wegzug aus ihrem immer weiter herunterkommenden Viertel ermöglichen kann. Auch der just aus dem Knast entlassene Henry Johns (Tory Kittles) benötigt dringend Geld – sein kleiner Bruder (Myles Truitt) sitzt im Rollstuhl, die Mutter (Vanessa Bell Calloway) ist gezwungen, sich zu prostituieren.
Ridgeman wählt derweil einen abseitigen Weg zur Geldbeschaffung: Über den mysteriösen Geschäftsmann Friedrich (Udo Kier) ermittelt er eine Adresse, die als Ausgangspunkt für einen größeren Coup fungieren soll. Gemeinsam mit Lurasetti beobachtet er die betreffende Wohnung ohne Unterlass, bis klar ist: Hier hat eine Gruppe Gangster unter dem Vorsitz eines gewissen Lorentz Vogelmann (Thomas Kretschmann) einen Bankraub in der Mache. Auch Henry entpuppt sich als einer der Ganoven. Nach dem durchgeführten Überfall gilt es nunmehr, den Räubern ihre Beute zu rauben…

S. Craig Zahler – mittlerweile der „bessere Tarantino“? Solche Kategorisierungen finde ich gemeinhin ja ziemlich spekulativ, doof und boulevardhaft, aber es blitzte mir während der Betrachtung von „Dragged Across Concrete“ regelmäßig unwillkürlich durch die Synapsen. Man kommt bei Licht betrachtet um einen zwangsläufigen Vergleich der beiden Regisseure mittlerweile ja tatsächlich kaum mehr herum, obschon sie unter anderem knappe zehn Lebensjahre und immerhin fast zwei Dekaden als Filmschaffende trennen. Dennoch sind einige Parallelen und Analogien mehr denn offensichtlich: Beide eint bekanntlich eine deutliche Verbindung zum exploitativen Genre- und Grindhousekino, die sich signifikant in ihrem jeweiligen Œuvre widerspiegelt – sei es in Form des Gebrauchs oftmals überzogener, graphischer Gewalt; in der steten Reaktivierung vergangener, betagterer Kinogrößen oder im starken Hang zu 60s- und 70s-Sounds, der Tarantino mit sorgsam ausgewählten Song-Compilations Rechnung trägt, derweil Zahler neue Stücke für das klassische R’n’B-Trio O-Jays schreibt. Sowohl Tarantino als auch Zahler befleißigen sich, jeweils beginnend mit der zweiten Regiearbeit, überdurchschnittlich langer Erzählzeiten, die sie an und über die Zweieinhalb-Stunden-Grenze hinaus tragen und lange Einstellungen, ausgedehnte Dialoge und besagte, pointierte Gewalteruptionen mit sich führen. Zahler, dessen Popularitätsgrad hierzulande allerdings noch längst nicht den Tarantinos erreicht hat, geht allerdings, insbesondere auf den letzteren Aspekt bezogen, deutlich radikaler zu Werke. Sein Ensemble bleibt sehr viel überschaubarer und von wenigen Protagonisten getragen; dazu weiß er zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch, mit den bärbeißigeren Überraschungen aufzuwarten. So kann es durchaus passieren, dass eine Figur vergleichsweise zeitaufwändig eingeführt wird, nur, um sie dann kurz darauf überaus brutal und ohne weiteres narratives Echo wieder aus dem Spiel zu nehmen. Wohin der Weg seine (Anti-)Helden zum Ende hin führt, lässt sich nunmehr auch tendenziell zuverlässiger bestimmen, jedenfalls zeichnet sich bereits eine diesbezügliche Tradition ab. Dass Zahler häufig eine über die Maßen hinausschießende coolness in seine Scriptführung einfließen lässt, empfinde ich stellenweise als redundant; auch, dass er zudem gern bewusste political incorrectnesses walten lässt, erscheint mir nicht eben notwendig. Der aus rein logischer Warte betrachtet ziemlich unbefriedigende Epilog nach dem ausgiebig zelebrierten Stand-Off-Szenario bietet zudem Diskussionsanlässe.
Abseits von alldem bleibt „Dragged Across Concrete“ unter seinem manchmal ziemlich dick aufgetragenen Make-up der befriedigende Drittfilm eines Regisseurs, dem vielleicht noch manche Großtat bevorsteht, wo sein etabliertes Pendant ja bereits beständig nach dem Ausgang schielt.

8/10

THE MAN WHO KILLED HITLER AND THEN THE BIGFOOT

„I feel… old. And I know, I am.“

The Man Who Killed Hitler And Then The Bigfoot ~ USA 2018
Directed By: Robert D. Krzykowski

Calvin Barr (Sam Elliott) ist ein unscheinbarer, älterer Herr, dessen einziger wirklicher Freund sein Hund ist und der seine einsamen Tage zwischen Medikation und Bar fristet. Niemand weiß, wer Calvin wirklich ist bzw. war: Eine Art Superspion des Zweiten Weltkriegs, der einst die geheime Sondermission, Adolf Hitler zu ermorden, erfolgreich ausgeführt hatte – eine Aktion, die nie publik werden durfte und Calvin in der Folge zu einem Leben in strenger Anonymität verdammte. Einzig zu seinem Bruder Ed (Larry Miller) pflegt er noch Kontakt. Nun kommt Calvin, betagt wie er ist, als einziger Proband in Frage, einen weiteren Spezialauftrag zu erfüllen: Ausgerechnet der Bigfoot überträgt in den Wäldern an der kanadischen Grenze ein hochansteckendes und tödliches Virus, das die gesamte US-Bevölkerung gefährdet. Calvin, dessen Organismus gegen das Virus immun ist, soll die geheimnsivolle Kreatur aufspüren und töten. Nach anfänglicher Weigerung entschließt er sich dann doch, der Staatsräson ein letztes Mal Genüge zu tun…

Ein schönes Altersgeschenk an den ohnehin viel zu unbesungen Sam Elliott ist dieses charmante, sich vor allem im Hinblick auf seine absurde Prämisse glücklicherweise erstaunlich ernst nehmendes Fantasydrama, das sich vielleicht am Ehesten als fabulierfreudige Transponierung bzw. Interpretation des uramerikanischen Mythos des „unknown soldier“ umschreiben lässt. Ein wenig erinnerte mich Calvin Barrs Geschichte auch an den Marvel-Helden „Captain America“ Steve Rogers, minus die origin um das Supersoldatenserum, die bunte Uniform und natürlich den Eisblock. Ansonsten scheint Barr jedoch eine ganze Menge mit Rogers zu verbinden – er tauscht das private, zivile Glück gegen den wichtigsten Attentatsauftrag des Zwanzigsten Jahrhunderts und somit auch gegen die forciert aufzuerlegende Selbstisolation. Dass selbige dereinst nicht nur Calvins Beziehung zu der hübschen Lehrerin Maxine (Caitlin Fitzgerald) zwangsbeendete, sondern ihn darüberhinaus zu einem müden, depressiven Mann werden ließ, ist der Preis des heimlichen Heldentums, zumal die Geschichtsschreibung von Calvins einstiger Heldentat nichts mitbekam (oder mitbekommen durfte). Die von ihm überaus wehmütig angegangene Jagd auf den Bigfoot, ein sich selbst behütendes Naturgeheimnis, das das schicksalhafte Pech hat, zum Virusüberträger geworden zu sein, wird ihm ebensowenige Meriten bescheren.
Was ich zu Beginn und ohne Informationen als ironische bis pulpige Kinokrudität antizipierte, erwies sich zu meiner positiven Überraschung als stilles, tatsächlich sehr unaufgeregt arrangiertes Drama um einen halben Helden ohne Triumphmarsch und Siegesfeier, einen, der zur Stelle war und ist, einfach, weil er es sein muss. Der binnen seiner nunmehr rund fünfzig Jahre umfassenden Karriere mit nur sehr wenigen nachhallenden Hauptrollen gesegnete, wunderbare Elliott füllt jene Rolle aus, wie man es von ihm kennt und erwartet: stets körperpräsent und dabei von der altbekannten, stoischen Coolness beseelt, die ihm nunmehr, im gehobenen Alter, zugleich eine wohlnuancierte Wehmut verleiht. Der Langfilmdebütant Krykowski weiß daraus eine würdevolle Hommage zu weben, die mit ihrer widerborstigen Tempodrosselung und ihrem recht ungewöhnlichen Dualismus aus comicesker Fabulierfreude und Melancholie eine Empfehlung für diesen Film und auch für künftige Projekte abgibt.

8/10

GREEN BOOK

„You only win when you maintain your dignity.“

Green Book ~ USA 2018
Directed By: Peter Farrelly

New York, 1962. Der ebenso herzliche wie kernige Italoamerikaner Tony „Lip“ Vallelonga (Viggo Mortensen) nimmt einen Auftrag als Chauffeur und Mädchen für alles an, der ihn in Begleitung des promovierten Jazzpianisten Don Shirley (Mahershala Ali) für zwei Monate in den amerikanischen Süden führen wird. Zunächst widerwillig geht der eher bildungsferne Alltagsrassist Tony auf das Angebot ein, da er ahnt, dass auf Shirley als Afroamerikaner diverse Unwägbarkeiten warten werden. Tatsächlich kommt es zu immer prekäreren Situationen, je weiter nach Süden das Duo und Shirleys zwei Mitmusiker (Dimiter D. Marinov, Mike Hatton) vordringen, teils der erzrassistischen „Kultur“ der Region geschuldet, teils durch Shirleys renitentes Verhalten selbst herbeigeführt. Dennoch lernen die beiden Männer sich im Laufe ihrer Fahrt immer besser kennen und schätzen und werden schließlich gute Freunde.

Das Gegenteil von „gut“, so besagt es eine auf Empirie fußende Alltagsweise, ist „gut gemeint“. Dass der auf tatsächlichen Begebenheiten basierende „Green Book“, im Herzen eine völlig mediokre Tragikomödie, den Oscar für den Besten Film einheimsen konnte, sagt mehr über unsere Zeit aus den über die eigentlichen Qualitäten von Farrellys Arbeit. „Green Book“ setzt sich breitärschig auf einen bereitgestellten Stuhl inmitten von mentalitätsverwandten Diversity-Neophyten wie „BlacKkKlansman“ oder „The Hate U Give“, grundsätzlich gewiss wohlmeinenden Werken, die jedoch in ihrem vornehmlich braven bis naiv vorgetragenen Ansinnen im Amerika der Ära Trump vielleicht noch Nerven treffen mögen, einer aufgeklärten Gesellschaft, wie wir Mitteleuropäer sie (teilweise! noch!) genießen dürfen, allerdings zumindest im Hinblick auf ihren expliziten Zeigefingergestus hoffnungslos obsolet vorkommen sollten.
Der Film rekurriert dabei im Wesentlichen auf zwei eindeutige, jeweils rund dreißig Jahre alte Vorbilder, deren Atmosphäre und Szenen er teilweise detailgetreu rekapituliert und nachahmt, nämlich John Hughes‘ „Planes, Trains & Automobiles“ und Bruce Beresfords „Driving Miss Daisy“ (auf Letzteren bezogen vor allem dessen zweite Hälfte). „Green Book“ atmet gewissermaßen den konglomerierten Geist beider Klassiker, der sich bereits grundsätzlich durch die gemeinschaftliche Ausgangsbasis des Road Trips zweier höchst ungleicher, zu Freunden werdender Streithähne parallelisiert findet. Farrelly kann also bereits bestens aufgelockerten Boden beackern und hat es demzufolge leicht, seine zumindest nicht unsympathische Reisegeschichte über die Runden zu bringen. Dass „Green Book“ von der ersten bis zur letzten Minute so vorherseh- und durchschaubar ist wie ein Kindergeburtstag auf der Kegelbahn, kann man in Anbetracht des zugrunde liegenden Topos verschmerzen, muss man aber nicht. Zweierlei lebensnotwendige Ingredienzien lässt der Film analog dazu nämlich gänzlich vermissen: Innovation und Schärfe. Wo ein wütendes Anti-Establishment-Stück wie Kathryn Bigelows „Detroit“ Zähne ohne Betäubung zieht, streichelt Farrelly den kariösen Rassismusbeißer mit weicher Bürste. Das mag die eine oder andere evangelikale Vorstadthausfrau in Neuengland zum Nachdenken anregen, mehr allerdings wird kaum dabei herausspringen.
Kann man den politischen Aspekt ein wenig beiseite schieben, bleibt ein hoffnungslos hausbackenes Stück Unterhaltungskino, das langfristig zu kaum mehr denn einer – filmhistorisch betrachtet – reinen Fußnote taugen dürfte.

6/10