VOCES

Zitat entfällt.

Voces ~ E 2020
Directed By: Ángel Gómez Hernández

Daniel (Rodolfo Sancho) und Sara (Belén Fabra) erwerben renovierungsbedürftige Immobilien und bringen sie wieder in Schuss, um sie dann gewinnbringend weiterzuverkaufen. Für die Zeit der Restauration leben sie zugleich dort. Für ihren neunjährigen Sohn Eric (Lucas Blas) erweist sich die ewige Umzieherei als psychologisch unvorteilhaft; er kann sich nie an Schule oder Freunde gewöhnen. Im jüngsten Haus, einer weit außerhalb Madrids liegenden, jahrhundertealten Villa, fühlt sich Eric sogar noch unwohler als üblich. Er hört Stimmen, die ihm böse Dinge einflüstern und klingen wie die von Daniel. Eine hinzugezogene Psychologin (Beatriz Arjona) hat gleich nach ihrem ersten Hausbesuch einen tödlichen Autounfall. Dabei bleibt es nicht – Eric ertrinkt nur wenige Nächte später in dem abgesperrten Außenschwimmbad. Während die trauernde Ruth verzweifelt zu ihren Eltern fährt, sucht Daniel, der mittlerweile selbst mehrere unheimliche Erlebnisse hatte, die Hilfe des arrivierten ESP-Forschers Germán (Ramón Barea), der mit seiner Tochter Ruth (Ana Fernández) den Ereignissen vor Ort auf den Grund gehen will…

Another building, another witch. Als besonders originell kann man den aus spanischer Fertigung stammenden haunted house chiller „Voces“ sicherlich nicht erachten, dafür jedoch als beflissenes Gattungsstück, das seine wenngleich routinierten Mittel effektvoll einzusetzen weiß. In der erweiterten Tradition der diversen Spukhausfilme der siebziger und achtziger Jahre stehend – vor allem „Burnt Offerings“, „Superstition“ und „Poltergeist“ finden sich jeweils mehrfach referenziert – demonstrieren und zelebrieren Script und Regie ihr aufmerksames Studium populärer Vorbilder praktisch ohne Unterlass. Auch Roegs „Don’t Look Now“ wirft abermals seinen großen, motivischen Schatten, wobei das Bemühen um Grusel- und Schockelemente freilich dem gegenwärtigen Genrekino angeglichen wird und sich dessen diverse Ingredienzien, immerhin durchaus kompetent, recht erschöpfend dargeboten finden. „Voces“ stellt inmitten des sich aktuell oftmals überaus doppelbödig präsentierenden Horrorfilms somit eher als reaktionär dar, indem er sich auf seine besonders evokativ abgespulte Dramaturgie als essenzielles Hauptelement stützt und sich möglicher, tiefergehender intellektueller Diskurse derweil stehenden Fußes verweigert. Diese Strategie geht soweit auf, verhindert allerdings zugleich mutmaßlich, dass man sich auch längerfristig an „Voces“ wird erinnern können.

6/10

CONGO CROSSING

„Well, the Belgians will need a chief of police too.“

Congo Crossing (Blutroter Kongo) ~ USA 1956
Directed By: Joseph Pevney

Congotanga, eine kleine, politisch autarke, westlich-abgespaltene Region des kongolesischen Staatsterritoriums, liefert keine Kriminellen aus. Daher gilt das Fleckchen auch als Paradies für halbseidene Flüchtlinge aus Europa, die allenthalben per Flugzeug hier ankommen und vor Ort versuchen, sich mit krummen Geschäften über Wasser zu halten. Der sich geflissentlich überfordert gebende Polizeichef Colonel Arragas (Peter Lorre) hält den status quo mit leidgeprüfter Miene aufrecht. Wahrlich unter den Zuständen zu leiden hat jedoch der aufrechte Arzt Dr. Gorman (Rex Ingram), der versucht, sein Urwaldkrankenhaus am Laufen zu halten, derweil Gangsterboss Rittner (Tonio Selwart) sämtliche seiner Medikamentenlieferungen abgreift und weiterverkauft. Der Landvermesser David Carr (George Nader) indes versucht Gorman zu helfen und findet insgeheim die passende Methode: Weil ein Kongo-Zufluss den natürlichen Lauf verändert, verschöbe sich auch die Staatsgrenze zu Belgisch-Kongo, womit Gormans Krankenhaus auf sicherem Terrain läge. Rittner versucht mit aller Gewalt, an Carrs Karten zu kommen. Jener wiederum muss sich zudem noch mit der Mordverdächtigen Louise Whitman (Virgina Mayo) abplagen sowie dem geldgierigen O’Connell (Michael Pate), der bei Bedarf über Leichen geht…

Den unübersichtlichen Anschein, den obige Synopse hinterlassen mag, bestätigt Joseph Pevneys „Congo Crossing“ eigentlich kaum. Der inmitten einer gewaltigen Flut kleinerer Universal-Produktionen der fünfziger Jahre entstandene Abenteuerfilm gefällt sich schlicht darin, eine Vielzahl ominöser Charaktere in seinen narrativen Schmeltiegel zu werfen und gründlich auszukochen. Nicht nur infolge des Auftritts von Peter Lorre lässt das Szenario häufig an „Casablanca“ denken und dessen schurkenaffine Noir-Atmosphäre, die auch „Congo Crossing“ trotz seines (behaupteten) Afrika-Dschungel-Ambientes vorschützt. Gut, Lorre wäre hier, seine unnachahmliche Präsenz berücksichtigend, eher das Pendant zu Claude Rains‘ Polizeipräfekt Renault und die Liebesgeschichte zwischen Nader und Mayo kommt deutlich pulpiger daher, aber ansonsten passt die schwitzige Menagerie zwilichtiger bis übler Gesellen recht genau.
Pevney, einer der vielen zuverlässigen Routiniers seiner produktiven Ära, der als Schauspieler am Theater begann, ab 1950 in die Filmregie wechselte und erst 2008 im gesegneten Alter von 96 Jahren verstarb, war überhaupt stark darin, kostengünstiges, ehrliches Leinwandhandwerk zu zimmern, ohne den oftmals gewaltigen Putz der A-Garde aufzutünchen. „Man Of Thousand Faces“, eine vergleichsweise aufwändige Lon-Chaney-Biographie mit James Cagney in der Titelrolle, hätte Pevneys Prestige und Marktwert deutlich aufmöbeln sollen, blieb jedoch eine Fußnote. In seinen insgesamt zweiunddreißig Regiearbeiten, vornehmlich Genrefilmen jedweder Couleur, standen ihm dennoch meist ordentliche Besetzungen und trefflicher Stabsupport zur Seite. Wie viele Kollegen ereilte ihn gegen Ende der sechziger Jahre das branchenübliche Schicksal, nurmehr Episoden für TV-Serien (darunter allein vierzehn „Star Trek“-Folgen) inszenieren zu können, was in Anbetracht flotter Kost wie „Congo Crossing“ durchaus bedauernswert anmutet.

7/10

LA HIJA

Zitat entfällt.

La Hija (Die geheime Tochter) ~ E 2021
Directed By: Manuel Martín Cuenca

Javier (Javier Gutiérrez) und Adela (Patricia López Arnaiz), ein kinderloses Paar, lebt fernab der Stadt in den andalusischen Bergen. Während Adela meist zu Haus bleibt, arbeitet Javier als Betreuer in einem Heim für straffällig gewordene Jugendliche. Dabei hat er auch die junge Irene (Irene Virgüez) kennengelernt, schwanger von dem im Gefängnis einsitzenden Kleinkriminellen Osman (Sofian El Ben). Javier und Adela bieten sich als heimliche Adoptiveltern für Irenes Baby an und fassen dafür einen höchst ominösen Plan: Irene soll sich bis zur Niederkunft in ihrem Haus versteckt halten, das Kind danach aufgeben und sich selbst absetzen, entgolten durch eine „angemessene“ finanzielle Entschädigung. Offiziell würde sie für den entsprechenden Zeitraum als spurlos verschwundene Ausreißerin gelten. Zunächst scheint alles in Javiers und Adelas Sinne zu funktionieren, doch als Osman einige Monate später entlassen wird, nach Irene sucht und Javier den beiden ein Treffen ermöglicht, wendet sich das Blatt: Die werdenden Eltern entschließen sich, ihr Baby zu behalten. Für Adela und Javier jedoch gibt es eine solche Option schön längst nicht mehr…

Schwangere Mütter und die aus multiplen Wahnideen geborene Gier nach der in ihren Körpern heranwachsenden Leibesfrucht beflügeln in schöner Regelmäßigkeit die Phantasie emsiger Genrefilmer. Während daraus in der Vergangenheit oftmals sehr intensive Beiträge entstanden, schickt sich der Spanier Manuel Martín Cuenca an, sein Sujet zumindest bis zu einem gewissen Punkt in vergleichsweise unspektakulärer, im Wortsinne dramatischer Weise zuzuspitzen. Ihn interessieren eher die brisante Dreierkonstellation des in der Hermetik der schroffen Gebirgswelt abgeschieden beherbergten Trios und die aus dieser Situation resultierenden, antizipierbaren Konflikte. Javier und Adela fühlen sich als unfruchtbares, bourgeoises Paar vom Schicksal betrogen und wähnen in Irenes Schwangerschaft einen letzten sich bietenden Ausweg. Die junge Frau betrachten sie, zunächst ingeheim und später zunehmend akut, als reines Mittel zum Zweck, als de facto asozialen outcast, der gewissermaßen naturgesetzmäßig nie im Stande wäre, dem Kind eine auch nur halbwegs adäquate Erziehung angedeihen zu lassen. Vor allem Adela, frustriert und offenbar depressiv infolge ihrer von ihr selbst als versagend wahrgenommenen Rolle, lässt ihren Neid auf Irene immer wieder durchschimmern, derweil in Javier zumindest noch Reste seines einstigen Idealismus als Sozialarbeiter aufblitzen. So weit könnte die Geschichte auch als moralethisch aufgeladener Dardenne-Topos durchgehen, bis Cuenca sich im letzten Erzähldrittel dann doch ganz den Genreformeln ergibt und einen amtlichen, durchaus spannenden Thriller-Showdown vorlegt. Damit straft er zwar eine ganze Menge zuvor entwickelter, diskursiver Ansätze Lügen, wirft im Gegenzug mit Ingredienzien wie einem Stahlnagel, einer Schrotflinte und ausgehungerten Schäferhunden allerdings eine ungeahnte Menge an Fahrt in die Waagschale. Eine dergestaltige dramaturgische Entscheidung wird verständlicherweise nicht jedermann und -frau zusagen, mir indes gefiel’s, zumal in der Kontrastierung der zuvor so gemächlich etablierten Narration.

7/10

ELECTRIC DREAMS

„It’s my party. And Moles, you’re not invited.“

Electric Dreams ~ USA/UK 1984
Directed By: Steve Barron

Der eher dröge, aber nichtsdestotrotz visionäre Jungarchitekt Miles (Lenny von Dohlen) schafft sich einen Heim-Personalcomputer an, der ihm helfen soll, „organisierter“ durch den Alltag zu kommen. Parallel dazu fühlt sich Miles zu seiner neuen Nachbarin, der Cellistin Madeline (Virginia Madsen), hingezogen. Als Miles sein unterdessen mit diversen Haushaltsgegenständen vernetztes, technisches Wunderwerk überlastet und den daraus resultierenden Brand mit Champagner löscht, beginnt „Edgar“ (in der EDV-Terminologie ein Akronym für Electronic Data Gathering, Analysis, and Retrieval System), wie sich der Computer bald nennt, ein eigenes Bewusstsein zu entwickeln. Bald „interessiert“ sich Edgar, der neben diversem Anderen auch Musik kreieren und komponieren kann, ebenfalls für die aparte Madeline. Zwischen Mensch und Chipgehäuse entbrennt ein mit harten Bandagen ausgetragener Eifersuchtskampf…

Von all den verrückten Liebesgeschichten, die die diesbezüglich überaus erfindungsreichen 1980er Jahre auf die Leinwand zauberten, besteht „Electric Dreams“ als eine der bemerkenswertesten und schönsten. Passenderweise im Orwell- und Macintosh-Jahr entstanden, bildete der Film inmitten einer Unzahl stilprägender Musikvideoclips Steve Barrons erste Kinoregie.
Der nicht als reines Spiel- und Freizeitmedium genutzte (Heim-)Computer bekleidete innerhalb der gesellschaftlichen Alltagsnomenklatur zu jener Zeit eher noch den reichlich diffus konturierten Bestandteil einer etwaigen Sozialutopie, so dass eben auch die vorliegende Geschichte um eine autoinitiierte K.I. noch sehr viel mehr Fiction denn Fact präservierte. Dementsprechend ausladend gestaltet sich die Genrebandbreite, die „Electric Dreams“ tangiert. Dass sukzessiv vermenschlichte Computer infolge ihres artifiziellen Elektronengehirns zur omnipotenten Bedrohung werden können, hatten zuvor bereits maßstäbliche Gattungsbeiträge wie „2001: A Space Odyssey“, „Colossus: The Forbin Project“ oder „The Demon Seed“ demonstriert, von den vielen bösen respektive „durchgedrehten“ Androiden, Robotern und Cyborgs der Ära ganz abgesehen. Auch Edgar, im Original mit der Stimme von Bud Cort und in der deutschen Synchronfassung mit der von Stephan Remmler versehen, entwickelt sich für seinen Besitzer und somit Meister allmählich zur Nemesis, die sich durch immer weitreichendere Datenvernetzung Zugang zu Miles‘ (von Edgar ebenso stetig wie despektierlich „Moles“ tituliert) Privatleben verschafft und etwa seine Konten sperren lässt. In dieser Phase überschreitet „Electric Dreams“ klammheimlich die Grenze von der romantischen Satire hin zur dystopischen Horrorvision, die katastrophal zu enden droht, bis Edgar schließlich einsieht, dass er trotz aller Bestrebungen nicht mit Fleisch und Blut konkurrieren kann und sich selbst aufopferungsvoll aus dem Spiel nimmt – nicht ohne die westliche Welt noch ein letztes Mal (mit der Unterstützung von Giorgio Moroder und Phil Oakey freilich) zum Grooven zu bringen.

8/10

THE COMFORT OF STRANGERS

„Good evening. You need help?“

The Comfort Of Strangers (Der Trost von Fremden) ~ USA/I/UK 1990
Directed By: Paul Schrader

Colin (Rupert Everett) und Mary (Natasha Richardson), ein unverheiratetes englisches Paar, reist nach Venedig, um seine im Abflauen begriffene Liebe zu retten. Während sich auch in der sommerlichen Lagunenstadt bei den beiden Routine und Gewohnheit spürbar macht, lernen sie den mysteriösen Robert (Christopher Walken) und seine Frau Caroline (Helen Mirren) kennen, zwei wohlsituierte und zugleich höchst seltsame Menschen. Der einer weinseligen Nacht folgende, verkaterte, halbverschlafene Tag in ihrem großzügig eingerichteten Appartment weckt bei Mary und Colin neue Leidenschaft und sogar Hoffnungen auf eine erfüllte Zukunft, bis ein neuerlicher Besuch bei Robert und Caroline deren wahre Natur offenbart.

Paul Schrader nennt „The Comfort Of Strangers“ in einem Interview in einem zumindest leicht abwertend scheinendem Tonfall „the Italian movie“, was möglicherweise damit zusammenhängen mag, dass er den Film als Auftragsarbeit mit nicht von ihm selbst verfasstem Script (jenes stammt, basierend auf einem Roman von Ian McEwan, von Harold Pinter) inszenierte, das Projekt Schraders ehern gepflegtem Auteur-Selbstverständnis also gewissermaßen widersprach. Dennoch waren außer Regisseur und Autor noch weitere Großmeister an Bord; Dante Spinotti als dp etwa oder Angelo Badalamenti als Komponist, von den vier großartigen HauptdarstellerInnen gar nicht zu reden.
Das in internationaler Wahrnehmung ja stets so romantisch konnotierte Venedig als morbider Schauplatz für Tod und Irrsinn bildet indes kein Kino-Novum, da waren ja schon Nicolas Roegs Daphne-du-Maurier-Verfilmung „Don’t Look Now“, ohnehin ein wesentlicher Vorfahr von „The Comfort Of Strangers“, oder einige Gialli, von denen mir vor allem Lucidis „La Vittima Designata“, Lados „Chi L’Ha Vista Morire?“ und Bidos „Solamente Nero“ im Gedächtnis wabern. Ob man Schraders Film nun im erweiterten Sinne als „global giallo“ bezeichnen möchte, wäre zu beratschlagen; die Conclusio-Elemente um den von sadomasochistischer Triebfeder gespeisten Stalker-Wahnsinn des Paares Robert/Caroline greifen in ihrer Umfänglichkeit ja erst in den letzten Minuten. Zuvor ahnt man nichts oder nur wenig von deren wahren Obsessionen und bewegt sich eher mit Mary und Colin durch ihr Beziehungs-Ab und -Auf, wobei letzteres sich ausgerechnet erst durch Roberts Intervenierung einstellt; der letzte, inbrünstige Koitus vor dem Tode gewissermaßen – ebenfalls eine klare Analogie zu Roeg/ du Maurier. Überhaupt scheint mir die Spiegelung von Rupert Everett – vermutlich der schönste Schauspieler jener Ära – und dem wie eh und je faszinierenden Christopher Walken, der als Robert jeder und jedem, ob sie/er es hören will, oder nicht, seine immergleich geschilderte Selbstanalyse aus Kindheitstagen vorträgt, besonders inspiriert. Licht und Schatten symbolisieren sie; bourgeoise, britische Spießigkeit und adelsgeprägten Wahn; Eros und Thanatos letzten Endes. Dazu passend insbesondere die von praller byzantinischer Gotik gekennzeichnete, von multipler Kunst vollgepfropfte Wohnung Roberts und Carolines als Widerpart zum blassen Touri-Hotelzimmer Colins und Marys, der Badalamenti seine arabisch anmutenden, verführerischen Klänge anheim stellt.
Gleichgültig insofern, ob „The Comfort Of Strangers“ für Schraders Gesamtwerkskorpus nun einen wesentlichen oder eher zu vernachlässigenden Beitrag darstellt – ein ziemlich toller, verschrobener Film ist er allemal.

9/10

LIGHT SLEEPER

„Convenient memory is a gift from God.“

Light Sleeper ~ USA 1992
Directed By: Paul Schrader

John LeTour (Willem Dafoe) arbeitet in Manhattan als einer von zwei Kokslieferanten für die Dealerin Ann (Susan Sarandon). Selbst seit ein paar Jahren clean, mäandert John nunmehr eher ziellos durch die von Müllbergen gesäumten Großstadtnächte und hätte nichts dagegen, seinem Leben eine Wendung zu verabreichen; ebenso wie Ann derweil davon träumt, aus dem Drogenbusiness aus- und ins Kosmetikgeschäft einzusteigen. Eines Tages begegnet John durch Zufall seiner früheren Geliebten Marianne (Dana Delany) wieder, wie er selbst einst schwer abhängig, doch seit einiger Zeit weg vom Schnee. Mariannes Mutter liegt im Sterben, derweil John mit allen Mitteln versucht, die Beziehung zu ihr wieder aufleben zu lassen. Seine Bestrebungen enden jedoch in einer Katastrophe.

Als ein Signaturstück und (somit) einer seiner wichtigsten Filme spiegelt „Light Sleeper“ den immerwährenden, vordringlichsten Topos Paul Schraders wieder – den des vereinsamten, biographisch desorientierten Individuums, das (häufig vor urbaner Kulisse) sukzessive in eine psychologische und spirituelle Krise hinabrutscht und in der Folge erst durch einen moralisch grenzgängerischen Befreiungsschlag auf den persönlichen Weg zurückfindet. Da ist auch immer ein Stück Vergeltungsdrang dabei, jene jedoch eher als befreiender Katalysator für die ohnehin längst akut gewordenen Probleme des Protagonisten. Schrader selbst erachtete den schwerlich finanzierten „Light Sleeper“ als finalen Teil einer loner trilogy, mit „Taxi Driver“ und „American Gigolo“ als dessen Vorgänger, wobei diese selbstdefinierende Einordnung gewiss zu kurz greift. Bis in sein gegenwärtiges Werk nämlich zieht sich jenes Sujet bekanntermaßen unaufhörlich weiter, wobei zwar die Schauplätze, Städte und settings wechseln, das Thema des sich freistrampelnden Antihelden sich, einem Perpetuum Mobile gleich, jedoch unaufhörlich repetiert findet. Wie zig andere seiner Figuren weiß auch der grenzdepressive John LeTour zunächst nicht, wohin mit sich. Es geht ihm materiell nicht schlecht, die seinen auf die Nächte verlagerten Alltag bestimmende Einsamkeit nagt jedoch unaufhörlich an seinem Inneren. Er versucht zu schreiben, seine Emotionen und Erlebnisse in Worte zu fassen, doch der monotone Druck der äußeren Realität lässt sich dadurch nicht kompensieren. Das aufgegebene Leben ohne den permanenten Rausch, mit dem zugleich auch die Liebe verschwunden ist, verblasst in Gleichförmig- und Reizlosigkeit. Letzter Rettungsanker scheint das Wiederauftauchen Mariannes zu sein, doch ausgerechnet dadurch, dass er sich bemerkbar macht und wieder zurück in ihr Leben drängt, verurteilt John sie mittelbar zum Tode und sich selbst zur endgültigen Verzweiflung. Mit dem Rücken zur Wand stehend, ergibt sich für ihn eine letzte, qua Schicksal initiierte Chance, zumindest sein aus dem Tritt geratenes Seelenleben wieder geradezurücken.
Schrader wollte ursprünglich Dylan-Songs für die Soundtrackspur, konnte diese schlussendlich dann doch nicht nutzen und wurde auf den „The Call“-Frontmann Michael Been (und nebenbei Vater von Robert Levon Been vom Black Rebel Motorcycle Club, der kürzlich die Stücke zu „The Card Counter“ beisteuerte) aufmerksam, dessen musikalischer Duktus wiederum eher an Springsteen erinnert und der etwa mit einer alternativen Version des Songs „World On Fire“ für großartige Untermalung des kunstvoll inszenierten Geschehens sorgte. Nach meinem Empfinden ein (weiterer) Glücksfall für diesen wunderbaren Film.

9/10

TOUCH

„Controversy is the oxygen I breathe.“

Touch ~ USA 1997
Directed By: Paul Schrader

Nachdem er vergeblich versucht hat, sich mit evangelikalem Kirchenpomp eine goldene Nase zu verdienen, macht der Glücksritter Bill Hill (Christopher Walken) in Wohnmobilen. Durch Zufall wird er eines Tages auf einen jungen Ex-Franziskaner namens Juvenal (Skeet Ulrich) aufmerksam, der wundersame Heilkräfte zu besitzen scheint und nunmehr in einer Suchtklinik für Alkoholiker lebt und arbeitet. Mithilfe seiner früheren Mitstreiterin Lynn Faulkner (Bridget Fonda) als Lockvogel macht sich Bill an den verschlossenen Juvenal heran. Lynn, die sich prompt in den tatsächlich Charlie Lawson heißenden Wunderheiler verliebt, stellt fest, dass dieser nicht nur tatsächlich über jene Fähigkeiten verfügt, sondern im Zusammenhang mit deren Gebrauch auch immer wieder kurzfristig blutende Stigmata aufweist. Während Bill Juvenal groß in den Medien herausbringen will, sieht der misogyne Glaubensfanatiker August Murray (Tom Arnold) in ihm den neuen Messias…

Basierend auf einem zehn Jahre zuvor erschienenen Roman von Elmore Leonard, der um diese Zeit mit den wesentlich populärer gewordenen (und deutlich spekatakuläreren) Adaptionen „Jackie Brown“ und „Out Of Sight“ ohnehin eine kleine Verfilmungsrenaissance erlebte, schrieb und inszenierte der hinsichtlich christlicher Metadiskurse ohnehin stets umtriebige Paul Schrader mit „Touch“ seine zehnte Regiearbeit für das Kino. Wiederum großartigst besetzt bis in die Nebenrollen blieb die kleine Indieproduktion jedoch stets eine Fußnote in Schraders Œuvre. Tatsächlich erinnerte mich der Film in seiner meist distanziert bis artifiziell anmutenden Form und Atmosphäre noch am ehesten an „The Canyons“, der ebenfalls sehr viel mehr Kopfgeburt als Herzensangelegenheit zu sein scheint. Das Sujet ist längst kein Unbekanntes – es geht um einen ebenso einsamen wie gütigen Altruisten und Humanisten, der als postmoderne Reinkarnation Christus‘ auf kalifornischem Boden wandelt und seine entsprechend persönliche, augenzwinkernde Passionsgeschichte durchlebt. Analog zum Finden und Leben der ersten, wahren großen Liebe fallen auch – wenngleich nur vorübergehend – seine göttlichen Fähigkeiten, denn Menschwerdung bedeutet zugleich stets auch einen Fall von der Gnade. Diverse Interessenparteien sind Juvenal flugs auf den Fersen und versuchen, ihn für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, flankiert von einer Menagerie bizarrer Nebencharaktere, die von Paul Mazurskys als schmierig-kalauerndem Musikproduzenten über eine von Gina Gershon gespielte, überkandidelte Talkshow-Tussi bis hin zu einem semi-inkontinenten Altgeistlichen (Mason Adams) reichen. Freilich wendet sich im Laufe der obskuren, vornehmlich fremdgesteuerten Odyssee Juvenals vom naiven Klerusexoten hin zum aufgeklärten Liberalen doch noch alles zum Guten. Er darf, sämtliche Westküsten-Wirrnisse hinter sich lassend, mit seinem Mädchen nach Iowa abdampfen und dort ein glückliches US-amerikanisches Bible-Belt-Leben führen.
Hätte Jesus vor zweitausend Jahren bestimmt auch gern gemacht.

7/10

SAMARITAN

„Things start to fall apart when you stop caring, and I stopped caring a long time ago.“

Samaritan ~ USA 2022
Directed By: Julius Avery

Granite City: Vor vielen Jahren verschwanden die beiden sich bekämpfenden Superwesen Samaritan und Nemesis, zwei für das Gute respektive das Böse einstehende Zwillingsbrüder, nach einer gewaltigen Kraftwerksexplosion. In der Gegenwart wird der dreizehnjährige Sam (Javon ‚Wanna‘ Walton) auf seinen betagten Nachbarn, den als Müllmann arbeitenden Joe Smith (Sylvester Stallone), aufmerksam. Eines Tages knöpft sich dieser ein paar Schläger vor, die es auf Sam abgesehen haben und prügelt sie windelweich. Für den Jungen steht fest: Joe muss der verschollene Samaritan sein. Während der Gangsterboss Cyrus (Pilou Asbæk), ein glühender Verehrer von Nemesis, versucht, Sam unter seine Fittiche zu nehmen, bemüht sich dieser, dem grummeligen Joe die Wahrheit über seine Identität zu entlocken. Als Cyrus sich schließlich anschickt, Granite City in Chaos und Anarchie zu ersäufen, tritt Joe aus den Schatten…

Samaritan und Nemesis, das sind nicht zuletzt auch zwei längst existente, jedoch völlig voneinander unabhängig kreierte Comic-Schöpfungen. Ersterer bildet das „Superman“-Pendant in Kurt Busieks glücklicherweise nicht tot zu kriegender, wunderhübscher Image-Superheldenparaphrase „Astro City“; den Namen Nemesis trugen indes seit Jahrzehnten bereits viele Figuren. Die zum vorliegenden Film passendste Maßgabe wäre wohl ein komplett weißgewandeter Anarcho-Superschurke, den Mark Millar vier Ausgaben lang in einer 2010er-Miniserie für das Marvel-Imprint-Label Icon wüten (und sterben) ließ.
Da beide Bezeichnungen hinlänglich gebräuchliche Termini bilden, musste hier wohl kein Rechtsstreit vermutet werden, denn die Film-Samaritan und -Nemesis haben mit ihren graphischen Namensvettern bestenfalls ganz wenig zu tun.
Als VoD bei Amazon gestartet, hängt sich „Samaritan“ eher an die Gattung der kleinen, vorlagenfreien Bypass-Superhelden-Filme, die seit dem großen Marvel-Launch immer wieder kurz aufblitzen. Gedacht dürfte das Ganze primär gewiss als ein weiteres Vorzeigealterswerk für seinen Hauptdarsteller sein, der seine vielfach erprobte und nachgewiesene Schlagfertigkeit jetzt durch Superkräfte ergänzt und sich in diesem Zuge gleich noch viele kleine Reminszenzen an die eigene Ikonographie und vor allem das eigene Œuvre gestattet. Sein Titelcharakter, der urban anonymous Joe Smith, der berufs- und hobbymäßig Mülltonnen leert und, gewissermaßen als Traumabewältigung, gern weggeworfene, kleine elektronische und mechanische Dinge repariert, könnte freilich ein enger Verwandter von Rocky Balboa sein; Habitus und Gestus jedenfalls ähneln sich auffallend. Geht es in Aktion, lugen derweil eher die Großreinemacher vergangener Tage hervor, was im Finale sogar in einer hübschen Hommage an „Cobra“ gipfelt. Dazwischen müht sich „Samaritan“ redlich (obschon nicht immer wirklich erfolgreich), althergebrachte, überkommene Schwarzweiß-Schemata zu relativieren und dieser Botschaft mit der jungen Hauptfigur des Sam Cleary (von Javon Walton glücklicherweise glänzend dargeboten) gleich noch einen didaktischen Überbau zu verleihen. Im Grunde passt auch dieses Bestreben sich recht genuin Stallones ewiger Eigenkultivierung an.
In der Summe ergibt all das einen erwartungsgemäß wenig innovativen, dafür aber umso liebenswerteren Spätbeitrag zum stolzen Schaffen seines Stars, einem, der das Strahlen par tout nicht verlernen mag.

7/10

TOP GUN: MAVERICK

„I’m where I belong, sir.“

Top Gun: Maverick ~ USA 2022
Directed By: Joseph Kosinski

35 Jahre nach seiner eigenen Ausbildung in der Navy-Eliteeinheit TOPGUN ist Pete „Maverick“ Mitchell (Tom Cruise), noch immer ganz der renitente Heißsporn von dazumal, nunmehr tätig als Testpilot für Überschallmaschinen. Kurz bevor er wegen neuerlicher Subordination wieder einmal davorsteht, das Korps verlassen zu müssen, wird er nach Kalifornien beordert, einmal mehr protegiert von seinem alten Freund und Rivalen „Iceman“ Kazansky (Val Kilmer), der, mittlerweile todkrank, als Commander der Pazifikflotte stets seine schützende Hand über Maverick hielt. Dieser soll nun eine junge Fliegerstaffel auf einen eigentlich unmöglichen Einsatz in einem „Schurkenstaat“ vorbereiten. Der besondere Haken dabei: Bradley „Rooster“ Bradshaw (Miles Teller), der Sohn von Mavericks verstorbenem besten Freund Goose, ist ebenfalls Teil der Truppe. Aufs Neue mit der traumatischen Vergangenheit konfrontiert, setzt Maverick alles daran, Rooster vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren wie es einst seinen Vater ereilte.

De facto ein Airforce-Remake von Clint Eastwoods hochreaktionärem, alten Gassenhauer „Heartbreak Ridge“, avancierte „Top Gun: Maverick“ im nicht mehr ganz so krisengeschüttelten Kinojahr 2022 zu everybody’s darling, zum Retter der Leinwände vor der abklingenden Corona-Hysterie und zu Tom Cruises bis dato erfolgreichstem Film. Sonnenlichtdurchflutete Militärromantik funktionierte im Hollywoodkino schon seit jeher vortrefflich als zuverlässige eskapistische Ingredienz; egal ob vor dem Hintergrund diverser Kampfeinsätze, in die die USA seit dem Zweiten Weltkrieg verwickelt war oder eben in Friedenszeiten. Schmucke junge und alte Männer in Uniform, ihre darbenden Dämchen daheim und ihre kernigen Kumpels an der Frontlinie, das entsprach stets dem Geschmack (nicht nur) amerikanischer Kinoaudienzen. Wie Tony Scotts seit ehedem gleichermaßen geliebtes wie gescholtenes Original setzt auch Joseph Kosinskis mit reichlicher Verspätung entstandene Fortsetzung auf die erwähnten Schemata und das mit – wie sich hinlänglich bewies – gigantischem Erfolg. Schon die Titelsequenz, die musikalisch und visuell analog zu der von 1986 gestaltet ist, kündigt an, wo die nun folgende Reise hingeht: ins Reich unumwundener nostalgischer Verklärung und eigentlich längst hoffnungslos verfilzt geglaubter Patriotismuspropaganda. Während in Osteuropa eine neue Form des Kalten Kriegs entfesselt wird, liefern Cruise und Produzent Bruckheimer also die „passende“ Replik aus Übersee: Higway to the danger zone. Die schönen Frauengesichter von vor 35 Jahren, die von (der zumindest in einer kurzen Rückblende und auf Fotos zu sehenden) Meg Ryan und Kelly McGillis nämlich, sind mittlerweile obsolet – als entstelltes Schönheits-OP-Monster scheint Ryan, 61, ähnlich unvorzeigbar im Sinne des hermetischen Ästhetikkonzepts des „Top Gun“-Universums wie McGillis, 64, mit ihrem Alter gemäßer Physis. Mavericks damalige Flamme „Charlie“ Blackwood wird auf inhaltlicher Ebene kurzerhand totgeschwiegen und durch die von vermutlich ewiger Schönheit begünstigte Jennifer Connelly, 51, substituiert in einer beschwingt-eindimensionalen Rolle, die in den vierziger und fünfziger Jahren von Donna Reed oder Phyllis Taxter gespielt worden wäre. Und wo ich gerade bei der vergleichenden Lebensjahrbezifferung bin: Cruise ist vier Jahre älter als Eastwood zum Drehzeitpunkt von „Heartbreak Ridge“, sieht aber mindestens zehn Jahre jünger aus. Gut – im Gegensatz zu Gunny Highway war Maverick ja auch weder in Korea noch in Vietnam. Die Golfkriegsnarben, sie sind offensichtlich nicht mehr so tief wie die von damals. Und Val Kilmer (62)? Der hat gelebt, man sieht’s ihm an, und er bekommt immerhin seinen knarzigen Kurzauftritt als (im Gegensatz zum Titelhelden) hochdekorierter Regierungsknecht und muss dafür auch flugs wieder scheiden, die traditionelle Begräbnisszene nebst Zapfenstreich inbegriffen.
Doch genug des ohnehin allzu offenkundigen p.c.-Geblökes – Kosinskis vierte Regiearbeit (und sein zweites Spätsequel nach dem 10er-„Tron“) liefert nicht zuletzt auch ein glänzendes Mainstream-Unterhaltungsprodukt, dem man in Anbetracht seiner sich so herrlich naiv gebenden Weltsicht trotz (oder vielleicht gerade wegen) sich geradezu maßgeschneidert selbsterfüllenden Kalküls kaum wirklich böse sein mag. „Top Gun: Maverick“ ist nämlich nicht nur in ideologischer Hinsicht im Prinzip ein Film von vorgestern. Auch auf der fomalästhetischen Ebene beschwört er die Ära von Regisseuren wie dem im Abspann gehuldigten Tony Scott, denen die eigene Kunstfertigkeit und der persönliche Inszenierungsstil weit über das zu bebildernde Sujet hinaus gingen. Entsprechend reichhaltig birst das Ganze vor atemberaubend choreographierten Fliegereiaufnahmen und perfekt durchgestylter Parallelrealität. Sonnenbräune, Schweiß, Haarlack, Goldkettchen, Sixpacks und Motorräder fungieren darin gewissermaßen als alternative Uniformierung und liefern auch heuer noch ungebrochen aufreizendes eye candy.
Es wird wohl seine Gründe haben, dass eine Menge Menschen diesen Film lieben.

7/10