PEARL

„I’m a star! Please, help me!“

Pearl ~ USA/CAN 2022
Directed By: Ti West

Texas, 1918. Für die Farmerstochter Pearl (Mia Goth) ist der ländliche Alltag ein veritabler Albtraum. Jung verheiratet, kämpft ihr Mann Howard (Alistair Sewell) an der Front in Europa, die Spanische Grippe hat die welt fest im Griff. Und dann sind da noch ihre Eltern. Pearls Vater (Matthew Sunderland) ist völlig paralysiert und pflegebedürftig, ihre Mutter Ruth (Tandi Wright) schwelgt in einer unablässigen Spießrute aus Ekel, Hass und Verbitterung. Pearl bleiben nurmehr ihre Tagträume, in denen sie als berühmte Tänzerin in den von ihr geliebten Hollywood-Kinofilmen auftritt. Dementsprechend tragen sämtliche Tiere auf der Farm die Namen ihrer Lieblingsstars, allen voran Theda, eine gefräßige Alligatorendame im Teich hinter dem Grundstück. Pearl ist nämlich auch eine Psychopathin, die nicht zulässt, dass ihr jemand ihre Illusionen abspenstig macht und deren unkontrollierbare Gewaltausbrüche bald einen blutigen Strudel entfachen…

Mit dem wunderbaren „Pearl“, seinem bisherigen Meisterwerk, gelingt Ti West das nonchalante Kunststück, der bereits sehr schönen 70s-Slasher-Hommage „X“ ein noch formvollendeteres, im selben Jahr entstandenes Prequel zuzusetzen, diverse zeitgenössisch tiefschlagende Covid-Seitenhiebe inbegriffen. Darin erfährt man einiges über die Hintergründe der im Vorwerk wütenden Seniorin Pearl, in deren Innerem kurz vorm Finale nochmal sämtliche Emotionen und Gelüste gegen das welke Fleisch der Vergänglichkeit rebellieren. Dass Pearl als junge Frau ein frappierend analoges Ebenbild des koksenden, aufstrebenden Pornostarlets Maxine abgab, respektive abgibt, hat man sich in Anbetracht von Mia Goths Doppelrolle bereits denken mögen – der endgültige Beweis dafür folgte dann quasi auf dem Fuße. Der große Benefit von „Pearl“ als zutiefst eigenständiges Werk trotz inhaltlicher Anbindung liegt insbesondere darin, dass er die Bürde, sich als Reminiszenz an ein beliebtes (Sub-)Genre zu verstehen, gänzlich abstreifen kann, bilden doch Zeit- und Milieukolorit in diesem Fall ein weitgehend unbeackertes Feld insbesondere im Horrorfilm. Pearl wirkt eher wie eine Art überreife Dorothy aus „The Wizard Of Oz“ in der 1939er-MGM-Musical- Adaption mit Judy Garland. Ihren ganz persönlichen sense of wonder fabuliert sie sich, gewissermaßen ebenso wie das berühmte Quasi-Vorbild, fahrradfahrend dem allseits frustrierenden Grau ihrer Sackgassenexistenz hinzu. Der gewaltige Orkan aus Kansas bleibt in Texas allerdings aus, zumindest gegenständlich, und ins zauberhafte Land trägt er Pearl erst recht nicht. Dennoch will sie alles, was ihr vorenthalten bleibt, und das so uneingeschränkt wie maßlos: bildschöne Bonbonfarben, ruchlosen Rausch, völlige Freiheit und lasterhafte Lust. Darum bendelt sie zunächst mit einer Vogelscheuche an, mit der sie einen explosiven Orgasmus erlebt und später mit dem sich smart gebenden Kino-Vorführer (David Corenswet) aus der Stadt, der ihr einen frühen Pornofilm zeigt und dann etwas von Europa und Berühmtheit vorfaselt. Als Pearl später mit Pauken und Trompeten bei einem Erfolg versprechenden Tanzwettbewerb durchfällt, den sie zum letzten Ticket aus der inneren und äußeren Einöde wähnt, ist es ohnehin längst zu spät für sie, denn da hat sie bereits drei Morde begangen (oder zumindest drei, von denen wir wissen können). Und auch der vierte lässt nicht lange auf sich warten nach einem der berückendsten Monologe, den das Kino der letzten Jahrzehnte bereithält und derweil ein madenzerfressendes Schwein auf der Veranda darbt als unwiderstehliches Bild für den rapiden Zerfall der letzten paar Fetzen von Pearls psychischer Stabilität. Dann kommt Howard aus dem Krieg zurück und trotz eines geflissentlich bizarren Empfangs daheim ist ja längst evident, dass er Verständnis aufbringen und alles tun wird, um sie zu schützen. Ein unwiderstehlich morbides happy end.

10/10

X

„You got that X-factor.“

X ~ USA/CAN 2022
Directed By: Ti West

Texas, 1979. Der als Unternehmer in der Horizontalbranche tätige Wayne Gilroy (Martin Henderson) plant, als Produzent im gerade im Aufziehen begriffenen Porno-Videobiz groß herauszukommen und mietet zu diesem Zwecke mit seiner kleinen Amateur-Crew eine Hütte auf einem abgelegenen Farmgrundstück für ein verlängertes Wochenende. Die beiden knarzigen alten Besitzer, beide offenbar schon jenseits der 80, geben sich wenig gehalten angesichts des bald eintreffenden, vorlauten Sextetts. Als man mit der Arbeit beginnt, scheint insbesondere die äußerlich welke Pearl (Mia Goth) seltsam getriggert. Kurz nachdem es zwischen Nachwuchsregisseur RJ (Owen Campbell) und seiner naiven Freundin Lorraine (Jenna Ortega) zum Streit kommt, gibt es den ersten Toten…

Wie eine garstige, nicht ganz zu Unrecht verwaiste „Boogie Nights“-Episode gibt sich Ti Wests erfreulich koketter „X“, der die Befürchtung, Ti West konzentriere sich nunmehr ausschließlich auf beliebige TV-Serienformate, in hübsch frecher Weise zerstreut. Dabei begreift sich „X“ vor allem als Hommage an die in ruralem Ambiente spielenden Horrorfilme und Slasher jener Ära, in der er sich selbst ansiedelt, allen voran offensichtlich die beiden von Tobe Hooper inszenierten „The Texas Chain Saw Massacre“ und „Eaten Alive“, doch auch Epigonen wie Schmoellers „Tourist Trap“ oder Connors „Motel Hell“ lugen mehr oder weniger okkult aus jedem Kamerawinkel hervor. Dabei begnügt sich West trotz mancher sehr offensichtlicher Reprise nicht mit bloßem Revisionismus, sondern es gelingt ihm tatsächlich, durch die Evozierung einer zutiefst sinistren und damit beunruhigenden Gesamtstimmung, den Einsatz von tiefschwarzem Humor und nicht zuletzt die exzellente Make-Up-Arbeit, einen den Klassikern absolut gleichrangige Reminszenz auf die Beine zu stellen. Insbesondere die Parallelisierung der zwei Hauptfiguren Pearl und Maxine, die von der grandiosen Mia Goth in einer Doppelperformance als sich reziprok reflektierende Antagonistinnen interpretiert werden, sorgen für eine schönes, keinesfalls einfältiges oder etwa manieristisches Metaelement, das sich rückblickend als philosophischer Überbau des gesamten Szenarios erweist. Dass Ti West, dessen Retro-Gags zum Glück nur sehr selten übers Ziel hinausschießen, zudem keinerlei ästhetische Kompromisse eingeht und für stets manch derbe Überraschung gut ist, macht „X“ umso sehenswerter.

8/10

KING OF THE KHYBER RIFLES

„The scales are balanced now. There is no past.“

King Of The Khyber Rifles (Der Hauptmann von Peshawar) ~ USA 1953
Directed By: Henry King

Die North West Frontier, 1857. Hauptmann Alan King (Tyrone Power) wird in eine Garnison nahe Peschawar versetzt. Seine Herkunft als Sohn eines englischen Offiziers und einer muslimischen Inderin macht ihm das Leben in der Armee nicht eben leicht, dennoch erweist er sich immer wieder als formvollendeter Soldat, selbst, als Susan (Terry Moore), die offenherzige Tochter des kommandierenden Generals Maitland (Michael Rennie), heftig um ihn wirbt und immer wieder in Gefahr gerät. Während die rebellischen Kräfte im ganzen Land brodeln angesichts einer bevorstehenden Großoffensive gegen die Kolonialmacht, muss King erkennen, dass es sich bei dem Hauptaufrührer Karram Khan (Guy Rolfe) in den Chaiber-Bergen um niemand anderen handelt als seinen Jugendfreund Hassan. Zwischen Liebe und Pflichterfüllung stehend, macht sich King auf eigene Faust daran, einen Anschlag auf Karram Khan zu verüben…

Die vierte CinemaScope-Produktion der Fox und Henry Kings erste Regiearbeit in und mit dem spektakulären Breitwand-Format bildete dieses vergleichsweise bescheiden ausgestattete Kolonialabenteuer nach einem Roman von Talbot Mundy, eine weitere von diversen Kollaborationen des Regisseurs und seines Stars Tyrone Power in einer für ihn typischen Rolle. Vor dem Hintergrund des großen Aufstands spielend, beinhaltet der Film auch jene authentische Episode um die Weigerung der muslimischgläubigen Soldaten in der Armee, mit den brandneu hergestellten Khyber Rifles zu schießen, da zuvor das Gerücht gestreut wurde, deren Projektile, die vor dem Laden aufgebissen werden müssen, seien mit Schweinefett eingeschmiert. Natürlich erledigen King und seine wackeren Mannen die ihnen auferlegte Mission auch mit dem lediglichen Gebrauch ihrer Messer.
Ein paar ebenso schöne wie liebenswerte Scriptideen sichern „King Of The Khyber Rifles“ abseits seiner oftmals hervorstechenden zeitgenössisch bedingten Einfalt allerdings einige Erinnerungswürde. Da wären zunächst Kings Kampf mit den rassistischen Ressentiments seiner Kommandantur, die ihm etwa die Teilnahme an einem Geburtstagsball zu Ehren Königin Victorias versagt. Als Reaktion darauf tanzt die liebesdürstende Susan Maitland einen Walzer mit ihm abseits des Ballsaals auf der nächtlichen Terrasse. Kings Sympathie und Respekt für die einheimische Kultur erweisen sich schließlich als so gewichtig, dass er die Entscheidung seiner Untergebenen, die angeblich verunreinigten Geschosse zu benutzen, nicht nur akzeptiert, sondern sogar eigenaktiv mitträgt. Dass er selbst schließlich im Zweikampf (abermals) seinem Widersacher Karram Khan unterliegt und lediglich durch einen auf diesen abgegebenen Blattschuss durch einen Fußsoldaten überlebt, erweist sich als weitere, aparte kleine Volte.
„King Of The Khyber Rifles“ hätte nebenbei auch einen vorzüglichen Western abgegeben – nicht nur, dass er ohnehin zu großen Teilen in der kalifornischen Sierra Nevada gedreht wurde, geben die Hauptmotive um die Halbblut-Problematik oder die Vereinigung unterschiedlicher Stämme zum Zwecke eines Großangriff astreine Gattungstropen ab. Vielleicht waren Power und King „ihr“ Wildwest-Geschäft in jenen späten Karrierejahren aber auch einfach leid (seinen letzten Western, „Bravados“, inszenierte King fünf Jahre später mit Gregory Peck).

7/10

BONES AND ALL

„Maybe love will set you free.“

Bones And All ~ USA/I 2022
Drected By: Luca Guadagnino

Virginia, um die Mitte der achtziger Jahre. Die Teenagerin Maren (Taylor Russell) lebt mit ihrem Vater (André Holland), der versucht, sie weitestgehend von Gleichaltrigen und der Gesellschaft überhaupt abzuschirmen, in einem kargen Bungalow. Als sich Maren eines Abends zu einer Freundin (Kendle Coffey) schleicht, um an einer Pyjama-Party teilzunehmen, kommt es zu einem befremdlichen Ereignis: Maren beißt einem der Mädchen selbstvergessen in den Finger und isst das Fleisch. Kurz darauf ist ihr Vater, dem Maren das Ganze zuvor beichtet, verschwunden. Außer ihrer Geburtsurkunde, ein wenig Bargeld und einer Cassette mit ausführlichen Erläuterungen ihres Dads darauf hinterlässt er ihr nichts. Maren beginnt eine lange Reise Richtung Minnesota, wo ihre ihr unbekannte Mutter Janelle (Chloë Sevigny) leben soll. Durch das Tape und die Begegnung mit einem kauzigen alten Drifter namens Sully (Mark Rylance) erfährt Maren, wer und was sie ist: Sie gehört zu einer genetisch mutierten Gemeinschaft kannibalistisch lebender Außenseiter, den sich selbst so nennenden „Eaters“, die von Zeit zu Zeit der unbändige Drang überkommt, Menschenfleisch zu verzehren und deren Phänotyp sich von Generation zu Generation weitervererbt. Als Maren während der Eiterfahrt auf den etwa gleichaltrigen Eater Lee (Timothée Chalamet) trifft, bahnt sich zwischen den beiden eine Romanze an, die Maren nach einem verstörenden Treffen mit ihrer psychiatrisch institutionalisierten Mutter jedoch wieder abbricht. Schließlich begreift sie, dass sie und Lee sich brauchen und kehrt zu ihm zurück. Gemeinsam beschließt man, sich eine konventionelle Existenz aufzubauen, doch das Schicksal meint es anders…

Mit „Bones And All“, der Adaption eines romantischen Jugend-Horrorromans von Camille DeAngelis, legt Luca Guadagnino ein elegisches, ebenso behutsam wie gemächlich erzähltes Road Movie vor, das den traditionellerweise eher garstig konnotierten Genretopos Kannibalismus (die Eaters könnten eine Art Nachfahren des mythologischen „Wendigo“-Dämons sein) auch für ein wohlfeil abgestecktes Arthouse-Publikum goutierbar werden lässt. Diese zugegebenermaßen etwas brüske Einordnung ist dabei keineswegs abschätzig gemeint, sondern soll vielmehr unterstreichen, in welche Richtung sich das Horrorkino in den letzten Jahren entwickelt. Filme wie dieser beweisen eindrucksvoll, dass die Gattung sich eine Form der Anerkennung und Mündigkeit erobert hat, die vor einem Vierteljahrhundert in dieser Ausprägung noch undenkbar gewesen wäre; raus aus dem schummrigen Dämmerlicht des stets als leicht schmuddelig verrufenen Exploitationhappenings für schwitzige Convention-Besucher hin zum respektierten Gesellschaftsdiskurs mit Blut und Eingeweiden. Wie James Grays just meinerseits genossene, überaus wesensverwandte Coming-of-Age-Bestandsaufnahme „Armageddon Time“ blickt auch „Bones And All“ zurück auf die den nordamerikanischen Kontinent ergreifende Verzweiflung der aufziehenden respektive bereits aufgezogenen Ära Reagan und reflektiert anhand dieser die nicht minder akute, zeitgenössischere Ratlosigkeit Trump-Jahre. Die in Anbetracht des sie nachhaltig verunsichernden Realitätsabgleichs in Abgründe starrende Maren und der jüngere New Yorker Paul Graff haben mancherlei gemein: Als Außenseiter einer zunehmend reaktionärer und repressiver agierenden Gesellschaft sehen sie sich, an biographischen Wegscheiden stehend, mit basalen Existenzfragen konfrontiert: Wie viel von mir darf ich überhaupt noch ausleben, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen? Wie viel unbequeme Individualität ist gestattet in einer Welt aus Angst und Hass? Der Kannibalismus als ultimatives Sozialtabu lässt sich da leicht als übergeordnetes Bild interpretieren für alles Mögliche, was der Konservativismus an Zielscheiben ausersieht; seien es Ressentiments gegen bestimmte Ethnien, sexuelle Orientierungen oder andere vermeintliche Unangepasstheiten. Das durchaus konsequente Ende erschien mir dann wie ein versöhnlich umgedeuteter Brückenschlag zu Eckhart Schmidts exakt vierzig Jahre älterem „Der Fan“ (mit dem eine gemeinsame Betrachtung vielleicht ohnehin gar nicht uninteressant wäre): Die komplette Einverleibung des Geliebten als ultimativer Treuebeweis.

9/10

AMAZING GRACE

„Your life is a thread. It breaks, or it doesn’t break.“

Amazing Grace ~ UK/USA 2006
Directed By: Michael Apted

England, 1782. Der junge Parlamentarier William Wilberforce (Ioan Gruffudd) exponiert sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit öffentlich als leidenschaftlicher Gegner des Sklavenhandels. Auch sein bester Freund, der spätere Premierminister William Pitt (Benedict Cumberbatch), steht, obgleich politkarrieristisch wesentlich ambitionierter, auf Wilberforces Seite. Pitt ist es auch, der Wilberforce einem kleinen Zirkel von abolitionistischen Aktivisten vorstellt, darunter der Theologe Thomas Clarkson (Rufus Sewell) und der Ex-Sklave Olaudah Equiano (Youssou N’Dour). Zunächst erweisen sich Wilberforces Bemühungen im Unterhaus als zwecklos; allzu gewichtig ist der Widerstand der an der Sklaverei verdienenden Lobby. Viele Jahre des unermüdlichen Kampfes und der Überzeugungsarbeit stehen Wilberforce bevor, bis am 25. März 1807 ein Gesetz zum Verbot des Sklavenhandels im britischen Machtbereich mit großer Mehrheit durchgesetzt und erlassen wird. Nur drei Tage nach der endgültige Abschaffung der Sklaverei in Großbritannien stirbt Wilberforce am 29. Juli 1833.

Michael Apteds Biopic über einen der der maßgeblichen Abolitionisten in Europa verzichtet anders als viele historisch grundierte Filme über die Sklavereiganz bewusst darauf, die inhumanen Zustände vor Ort, also in Afrika, auf den Schiffen oder in den Kolonien zu bebildern und unterscheidet sich allein dadurch in beträchtlicher Weise von den diversen, oft deutlich populäreren Kino- und TV-Klassikern zum Thema. Wilberforce, ein Kind der Aufklärung und der damit einhergehenden, humanistischen Strömungen, bezieht seine Maximen höchstselbst nicht aus unmittelbaren Zeugnissen der global grassierenden Unmenschlichkeit, sondern aus dem, was ihm mündlich und schriftlich zugetragen wird. Als ein maßgeblicher Faktor ergibt sich die Bekanntschaft mit dem alternden Ex-Sklavenschiffskapitän John Newton (Albert Finney), der, innerlich geläutert und zum Christ geworden, erst Jahrzehnte der Buße und Einkehr benötigt, bevor er als mittlerweile Erblindeter seine Memoiren zu Diktat gibt.
Bis zur körperlichen Aufzehrung widmet sich Wilberforce seinem Ziel; er wird krank und süchtig nach Laudanum. Erst die Heirat mit der starken Barbara Spooner (Romola Garai) verleiht ihm die Kraft, weiter für die Abschaffung der Sklavenhandels einzutreten. Dabei gelingt es ihm, mehr und mehr auch prominente Stimmen wie den Lebemann Lord Fox (Michael Gambon) für seine Zwecke zu gewinnen.
„Amazing Grace“ wirkt in seiner gelassenen, akribischen und dennoch spannenden Art des Erzählens wie eine Fortführung der Welle biographischer Filme der dreißiger und vierziger Jahre aus Hollywood und England, von denen diverse etwa von William Dieterle inszeniert wurden. Diese pflegten ihre Titelcharaktere als getriebene und demzufolge oftmals auch anfällige Visionäre zu porträtieren, deren (geistige, technische oder materielle) Errungenschaften ihnen einen Platz im Pantheon großer Geister sicherten. Hier wie dort gab und gibt es eher wenig Platz für Kritik an den Protagonisten, derweil sie in besonderem Maße die Summe ihrer Fürsprecher, Unterstützer und natürlich Widersacher darstellen. Zu konstatieren, „Amazing Grace“ sei ein wenig aus der Zeit gefallen, wäre also sicherlich nicht ganz verfehlt. Für mich ist das neben vielen anderen jedoch eine seiner Hauptqualitäten.

8/10

BLUE SKY

„You’re not Brigitte Bardot, remember?“

Blue Sky (Operation Blue Sky) ~ USA 1994
Directed By: Tony Richardson

Hawaii, 1962. Weil das exaltierte Verhalten der Offiziersgattin Carly Marshall (Jessica Lange) der hiesigen Kommandatur ein Dorn im Auge ist, wird Major Hank Marshall (Tommy Lee Jones) mitsamt Carly und ihren beiden Teenagertöchtern Alex (Amy Locane) und Becky (Anna Klemp) nach Alabama versetzt. Vor Ort erweist sich Carlys Gebahren als weiterhin nachgerade ungezähmt; sie identifiziert sich mit glamourösen Filmdiven, hat psychotische Episoden und sorgt für einen Minieklat nach dem anderen. Hank plagen derweil noch ganz andere Sorgen: als Experte für Fragen der Nukleartechnik wird er kurzfristig nach Nevada beordert, um dort den ersten „Blue Sky“-Test zu überwachen, ein Verfahren, bei dem die Atombombe unterirdisch gezündet wird. Als Hank vom Helikopter aus in unmittelbarer Nähe des Testgeländes zwei Cowboys (Timothy Scott, Timothy Bottoms) ausmacht, wird er über den Vorfall zu strengster Geheimhaltung verpflichtet. Um ihn auch tatsächlich mundtot zu machen, entspinnt sein Vorgesetzter Colonel Johnson (Powers Boothe) eine perfide Intrige gegen ihn, die dazu führt, dass Hank stark sediert in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik landet. Nun ist es an Carly, die an Hanks Schassung eine große Mitschuld trägt, ihrem Gatten beizustehen…

Der letzte Film des aus der neorealistischen, britischen Kitchen-Sink-Strömung hervorgegangenen Tony Richardson lag nach seiner Fertigstellung im Herbst 1991 drei Jahre auf Eis, bevor er dann doch noch in die Kinos kam. „Blue Sky“ war Teil der Konkursmasse der zwischenzeitlich pleite gegangen Produktionsgesellschaft Orion Pictures und insofern ein Opfer ungeklärter Rechtslage. Basierend auf dem einzigen, autobiographisch gefärbten Filmdrehbuch der Scriptautorin Rama Laurie Stagner entwirft der Film ein gleichermaßen klassisch geprägtes wie behende mit naheliegenden Klischees spielendes Militärdrama vor dem historischen Hintergrund der Hochphase des Kalten Krieges. Stagner schielt dabei auch zu großen Vorbilden, von „From Here To Eternity“ bis hin zu diversen Williams-Dramen. Primär bildet die Geschichte dabei das Porträt einer sich allen Konventionen entgegenstellenden Frau, deren Changieren zwischen hysterischer Trübnis und Promiskuität vermutlich das Resultat einer frühgeprägten, bipolaren Störung ist: Über Carlys Kindheit und Jugend in Virginia erfährt man nicht viel Eindeutiges, außer, dass sie der Zustand des „Unerwünschtseins“ offenbar schon seit eh und je verfolgt. Sie versucht, ihr Unglück durch kleine Skandälchen zu kompensieren; zeigt sich einer Hubschrauberstaffel am Strand oben ohne und becirct sämtliche Offizierspatentträger, die ihr zu nahe kommen. Ihr streng logisch agierender Mann Hank trägt all das mit stoischer Gelassenheit und Fassung, bis irgendwann doch die eine, natürlich im Zuge eines Ränkespiels wohlweislich herbeigeführte Eskapade das Fass zum Überlaufen bringt. Hier hat Carly dann die Möglichkeit, sich großflächig zu rehabilitieren, indem sie dem zwischenzeitlich kaltgestellten Hank aus der Patsche hilft und ihre wilde Entschlossenheit ausnahmsweise in moralisch unzweifelhafte Fahrwässer lenkt.
Inwieweit Richardson, der nur kurze Zeit nach der Komplettierung des Films verstarb, am final cut beteiligt war, respektive die vorliegende Fassung seiner künstlerischen Vision entspricht, lässt sich auf die Schnelle nicht eruieren. Tatsache ist, dass „Blue Sky“ vor allem im letzten Drittel oftmals überhastet wirkt und übereilig montierte Szenen auf Kosten seiner erzählerischen Fluidität gehen, gerade so, als habe man eine festgezurrte Spielzeit unbedingt einhalten wollen. Der demzufolge teils fast schon elliptisch wirkenden Narration steht eine gelegentlich unbehende wirkende Dramaturgie gegenüber, etwa, wenn Johnsons ja doch recht komplexe Intrige binnen weniger Filmmomente bricht und auf ihn selbst zurückrollt oder wenn das übereilt, in Anbetracht des traumatischen Potenzials der zuvor entrollten Geschehnisse, fast schon ein wenig surreal wirkende happy end den Film nach knapp 100 Minuten schließt. Dennoch: die schauspielerische Brillanz der Beteiligten, allen voran natürlich Jessica Lange, für die ihre dann auch mit dem Oscar prämierte Rolle geradezu maßgeschneidert wirkt, machen aus „Blue Sky“ den interessanten, um nicht zu sagen: sehenswerten Schwanengesang eines großen, wichtigen Filmemachers des zwanzigsten Jahrhunderts.

7/10

HARLEM NIGHTS

„Kiss my entire ass!“

Harlem Nights ~ USA 1989
Directed By: Eddie Murphy

Harlem zur Prohibitionszeit: Seit er ihm als kleiner Junge (Desi Arnez Hines II) das Leben rettete, ist Vernest Brown alias Quick (Eddie Murphy) gleichberechtigtes Mündel des Nachtclubbesitzers Sugar Ray (Richard Pryor). Jahre später führt jener sein Etablissement, in dem neben Alkoholausschank auch andere Trostspender vom Jazz über das Glücksspiel bis hin zur Prostitution florieren, hinter der legalen Fassade eines Konfektgeschäfts. Dem sich immer breiter machenden Gangsterboss Bugsy Calhoune (Michael Lerner) derweil ist der Club Sugar Ray ein Dorn im Auge, weshalb er mithilfe des korrupten Polizisten Phil Cantone (Danny Aiello) Sugar Ray und Quick zusehends unter Druck sitzt. Während der junge Heißsporn Quick sich zum Krieg bereit macht, zieht der weitaus besonnenere Sugar Ray es vor, das Feld zu räumen und die Stadt zu verlassen – freilich nicht, ohne Calhoune und Cantone gehörig über den Tisch zu ziehen…

Mit einer Art afroamerikanischer Variationsmelange aus George Roy Hills „The Sting“ und Francis Ford Coppolas „The Cotton Club“ versuchte sich Eddie Murphy, damals auf dem Zenit seine stardoms, zum bis dato ersten und einzigen Mal als Regisseur und gewissermaßen auch als auteur. Ganz Murphys höchstpersönliches Baby, setzt sich „Harlem Nights“ mit einigem übersteigerten Selbstbewusstsein ziemlich breitärschig zwischen alle Stühle. Der schwarzen New Yorker Unterweltkultur der zwanziger und dreißiger Jahre zollt der insofern nicht immer ganz treffsichere Film ebenso Tribut wie den etwas aufgelockerteren Blaxploitation-Beiträgen der Siebziger (etwa „Cotton Comes To Harlem“) und vermengt diese Einflüsse mit Murphys derbem Bühnen-Stand-Up-Duktus. Murphy demonstriert zudem offenherzig, dass er in Sachen pointierten Leinwand-Humor-Timings einiges von John Landis gelernt hat, dem er ja immerhin zwei seiner Hits aus den Vorjahren verdankt und der ironischerweise mit seinem „Oscar“-Remake kurz darauf eine ganz ähnlich strukturierte Gangsterfarce vor historischem Setting ablieferte.
Der nicht eben kostengünstige „Harlem Nights“ legt viel Wert auf sein mit einigem Chic inszeniertes Zeitkolorit; auf augenfällige Requisiten und Kostüme, derweil die urbane Außendarstellung völlig bewusst artifiziell gehalten ist und ganz wie die Warner-Filme der frühen Tonära auf gut als solche identifizierbare Studio- und Atelieraufnahmen zu setzen scheint. Was die Figurenzeichnung anbelangt, konzentriert sich Murphy derweil vor allem auf die liebevolle Konturierung schillernder Nebencharaktere, darunter Redd Foxx und Della Reese als grantelndes, alterndes Ehepaar oder Vic Polizos als liebeskranker Richie Vento, die die schönsten Szenen abbekommen. Andere Auftritte, wie der hoffnungslos enervierende von Arsenio Hall etwa, laufen blinden Auges ins Leere.
Murphys Film lanciert weit von jeder Art Formvollendung entfernt, dafür ist er schlicht zu ungeschlossen und weiß manchmal selbst nicht recht wohin mit sich. Dennoch lässt sich bescheinigen, dass „Harlem Nights“ den über weite Strecken amüsanten Versuch eines von seinem unbändigen Erfolg selbstberauschten Aufsteigers markiert, sein kreatives Spektrum zu erweitern, wenngleich jener damit auf imposante Weise scheitert.

7/10

THE BLACK PHONE

„I almost let you go.“

The Black Phone ~ USA 2021
Directed By: Scott Derrickson

North Denver, Colorado, 1978. Der Jugendliche Finney Shaw (Mason Thames) leidet unter den Attacken diverser Bullys an seiner Schule. Zudem kanalisieren sich die Depressionen seines alleinerziehenden Vaters (Jeremy Davies) in Form von Gewaltausbrüchen, die er und seine jüngere Schwester Gwen (Madeleine McGraw) zu erdulden haben. Mit dem wehrhaften Robin (Miguel Cazarez Mora) gewinnt Finney immerhin einen schlagkräftigen Freund, doch auch dieser Lichtblick schwindet bald wieder – Robin wird Opfer des „Grabber“ (Ethan Hawke), eines als Zauberer verkleideten Kidnappers, der in der Gegend Jungen im Teenager-Alter verschleppt und spurlos verschwinden lässt. Eines Tages gerät auch Finney in die Fänge des Verbrechers und erfährt nach und nach die schreckliche Wahrheit über den ihm ausschließlich maskiert gegenübertretenden Psychopathen, der vor Finney bereits fünf Kids in seinem Keller gefangen gehalten und ermordet hat. Über ein in jenem Verlies befindliches, anschlussloses Telefon erhält Finney bald darauf Anrufe seiner „Vorgänger“, die ihm aus einer Art Zwischendimension heraus dabei helfen wollen, dem Grabber zu entkommen…

Mit „The Black Phone“, einer weiteren Blumhouse-Produktion, wildert nun auch Scott Derrickson im offenbar noch lange nicht versiegten Reservoir der immer zahlloser werdenden Retro-Genre-Produktionen, die sich so überaus darin gefallen, die siebziger und achtziger Jahre als periodische Kulisse für ihre mehr oder minder innovativen Storys zu nutzen. Dieses Vorgehen gelingt analog dazu, zumal in Anbetracht seines inflationären Einsatzes, in wechselnd ansprechender Form, wobei das reanimierte Zeitkolorit zusehends selten wirklich zweckmäßig erscheint. Immerhin liefert selbiges einen beständigen Vorwand, ein paar knackige Rocksongs der Ära auf die Tonspur zu zaubern.
Derrickson, der in Bezug auf die Qualität seiner Filme ein bis dato relativ heterogenes Werk aufweist und binnen relativ kurzer Zeit sowohl Ordentliches („Sinister“) als auch harsch Enttäuschendes („Deliver Us From Evil“) vorlegte, begibt sich mit „The Black Phone“ schnurstracks in den mediokren Sektor jener Welle. Zwischen altbekannten Versatzstücken, vom Telefon als Kommunikationsmittel ins Jenseits über den Kidnappingplot und die übersinnlich begabte Schwester bis hin zum identitätsgestörten Serienmörder, der sein gewalttätiges alter ego vornehmlich über das Tragen einer Maske definiert, befleißigt sich Derrickson recht hausbackener Elemente, um sein jüngstes Gattungsstück an Frau und Mann zu bringen. Zwar gelingt es ihm vereinzelt, durchaus schöne Momente zu schaffen (so verändert sich der spirituelle Zustand der vormaligen Opfer-Geister jeweils rückwirkend zur zeitlichen Distanz ihres Todestags) und sein Publikum trotz des eher kurzfilmtauglichen Narrativs behende am Ball zu halten, das stets zuverlässige Auffangnetz der Konventionalität verlässt er de facto jedoch zu keiner Sekunde.
So bleibt „The Black Phone“ mit dem Abstand von ein paar Tagen als passabler, wenngleich wenig aufregender Mosaikstein seiner Alltagsprovenienz im Gedächtnis, der als modernisierte „Hänsel-&-Gretel“-Variation mit seinen rar gesäten Ausreißern nach oben kaum wirklich protzen kann.

6/10

BATTLE IN SEATTLE

„Please! Don’t arrest me!“

Battle In Seattle ~ USA/CAN/D 2007
Directed By: Stuart Townsend

Seattle, Ende November 1999. Bürgermeister Jim Tobin (Ray Liotta) ist stolz darauf, dass die Ministerialkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO), unter gewaltigem internationalen Medienecho als „Milleniumrunde“ angekündigt, in seiner Stadt ausgerichtet wird. Mit dem internationalen Gästeaufmarsch kommen jedoch auch viele unterschiedliche Gruppierungen von DemonstrantInnen, die das ausbeuterische neoliberale Treiben der Globalisierungsinstitution scharf verurteilen. Eine Gruppe, die sich durch friedlichen, aber ebenso aufsehenerregenden Protest Gehör zu verschaffen plant, wird von dem passionierten Jay (Martin Henderson) angeführt, der seinen Bruder einst bei einer Anti-Abholzungsdemo verlor. Während die Taktik von Jay und seinen Leuten durchaus aufzugehen scheint, beginnt eine autonome Fraktion blindwütig zu randalieren, was wiederum die Polizei zu einem deutlich verschärften Vorgehen mit dem Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken sowie wahllosen Verhaftungen veranlasst. Derweil müssen ein leidenschaftlich für die Lieferung von Medikamenten an Entwicklungsländer vorsprechender MSF- Repräsentant (Rade Serbedzija) und ein afrikanischer Minister (Isaach De Bankolé) die bittere Erfahrung machen, dass ihnen der gezielte Lobbyismus der WTO kein Forum zu bieten gedenkt…

Stuart Townsends Regiedebüt „Battle In Seattle“, der sich – zumindest ideologisch – wiederum in der langen Tradition von Haskell Wexlers New-Hollywood-Meilenstein „Medium Cool“ wiederfindet, antizipiert doch recht deutlich den unlängst geschauten „Diaz – Don’t Clean Up This Blood“, wobei gewiss weder der zugrunde liegende historische Kontext noch die Ambitioniertheit der filmischen Umsetzung gegeneinander aufzuwiegen sind. Was jedoch beide Filme unbedingt eint, sind ihr Motor und ihr Herz. Beide Autoren setzen klare, politische Zeichen ganz im Sinne ihrer friedlich demonstrierenden ProtagonistInnen; sie zeigen auf, mit welch korrumpierten, fadenscheinigen Selbstverständnis die Wirtschaftspolitik der Weltmächtigen nicht nur gemacht, sondern durch medienwirksame Gipfeltreffen wie die der WTO oder der G-8 auch noch verlogen und selbstbeweihräuchernd inszeniert werden. Agitprop? Mag sein. Dennoch: auch Seattle ’99 demonstriert bereits kurze, faschistische Blitzeinschläge – als Reaktion auf ein paar versprengte, vermummte Unruhestifter werden 500 friedliche AktivistInnen ohne jedwede Grundlage festgenommen und ohne Anklage inhaftiert. Weil sie sich weigern, ihre Personalien preiszugeben, hält man ihnen weitere Grundrechte, wie den telefonischen Ruf eines Rechtsbeistands, vor. Da die US-Regierung Clinton jedoch kein Berlusconi-Italien war (spätestens seit 2016 sähe die Sache auch hier gewiss anders aus), blieb es bei diesen noch halbwegs überschaubaren Repressalien, und es konnte infolge der Protestaktionen und der öffentlichen Reaktion darauf immerhin ein wichtiges Fanal gesetzt werden: Diverse Politiker aus Entwicklungsländern wurden wahlweise gezielt ignoriert oder erst gar nicht angehört und verweigerten, in Wechselwirkung mit dem Geschehen auf den Straßen, schließlich ihre Kooperation, so dass der gesamte Gipfel nach nur drei Tagen abgesagt und vertagt werden musste.
Wie später Daniele Vicari zeigt auch Townsend das Ganze im Stil eines multiperspektivischen Ensemblefilms und ebenfalls unter Einflechtung vor Ort entstandenen, authentischen Filmmaterials. Besonders augenfällig ist, dass bei einem recht geringen Budget und dabei ohne Beteiligung eines einzigen größeren Studios eine beträchtliche Riege von Hollywoodgrößen aufgefahren werden konnte, die die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, sich im Sinne dieses wichtigen Themas politisch zu positionieren. So gibt es wunderbare bis prägnante Auftritte etwa von Woody Harrelson als Bereitschaftspolizist, dessen im fünften Monat schwangere Frau (Charlize Theron) von einem seiner Kollegen völlig grundlos so geprügelt wird, dass sie ihr Baby verliert und urplötzlich auch in ihrem uniformierten Mann das Böse zu erkennen wähnt. Oder der kroatische Darsteller Rade Serbedzija. Eigentlich für sein ewiges type acting als südosteuropäischer Bösewicht in Actionfilmen berüchtigt, gibt er hier einen kurzen, aber umso sympathischeren Auftritt als gegen Windmühlen kämpfender, zusehends verzweifelnder MSF-Mediziner.
Dass Townsend inszenatorisch noch wenig Erfahrung hatte, zeigt sich hier und da in Anbetracht mancher redundanter Regiemanierismen. Er vertraute offenbar nicht zur Gänze auf die innere Zug- und Sprengkraft seines Sujets und befleißigte sich unnötig hektischer Wackelkameraspiele und Montagen, die eher an irgendwelche C.S.I.-Episödchen erinnern und ziemlich eindeutig auf die Nervosität des formalistischen Greenhorns schließen lassen. Auch das eine oder andere dramaturgische Klischee hätte gern umschifft werden dürfen. Derlei sehe ich „Battle In Seattle“ allerdings gern nach in Anbetracht dessen, was von ihm bleibt: Der seltene Status eines tatsächlich als „wichtig“ zu etikettierenden Films.

8/10

ONDSKAN

Zitat entfällt.

Ondskan (Evil) ~ S/DK 2003
Directed By: Mikael Håfström

Stockholm in den späten Fünfzigern. Der intelligente Teenager Erik Ponti (Andreas Wilson) fällt immer wieder durch brutale Schlägereien und andere kriminelle Aktionen auf, allesamt wohl umwegige Reaktionen auf die körperlichen Misshandlungen durch seinen gewalttätigen Stiefvater (Johan Rabaeus). Als er schließlich polternd der Schule verwiesen wird, sieht Eriks Mutter (Marie Richardson) die letzte Chance für ihren Filius, einen Abschluss zu bekommen, in einem Internatsplatz. Nachdem sie diverses Mobiliar veräußert hat, meldet sie Erik an der Eliteschule Stjärnsberg an. Dort herrscht eine traditionsreiche Hackordnung, die darin besteht, dass die Primaner die jüngeren Schüler mittels allerlei selbstherrlicher Regeln herumkommandieren, drangsalieren und erniedrigen. Erik verweigert jedoch jedweden Gehorsam und macht sich so zum obersten Hassobjekt des Schülersprechers Silverhielm (Gustaf Skarsgård) und seines Adlatus Dahlen (Jesper Salén). Deren Unterdrückungsversuche, die bald dazu dienen sollen, ihn aus der Reserve zu locken und ihn somit fliegen zu lassen, prallen samt und sonders an Erik ab, insbesondere, nachdem dieser die Schulmeisterschaft im Schwimmen gewinnt. So entwickelt man diverse alternative Strategien, darunter die, Eriks sanften Zimmergenossen Pierre (Henrik Lundström) zu tyrannisieren…

Der bereits 1981 erstveröffentlichte, autobiographische Roman „Ondskan“ des schwedischen Journalisten und Erfolgsautors Jan Guillou zählt zu den meistgelesenen muttersprachlichen Büchern im Land und erhielt auch Einzug in den deutschen Schulliteraturkanon. Bis zur weitestgehend kongenialen Filmadaption dauerte es dennoch einige Jahre, wobei die Wartezeit sich als lohnend erwies: Mikael Håfströms „Ondskan“ präsentiert sich als vielschichtiges Coming-of-Age-Drama, dessen diskursive Essenz sich vor allem auf den Topos „Selbstbehauptung innerhalb eines restriktiv-repressiven Systems“ kapriziert. Erik Ponti, „der Neue“, oder „die Ratte“, wie er von den Primanern um den sadistischen Silverhielm bald höhnisch gerufen wird, steckt nämlich in einem schweren Identitätsdilemma. Als durchaus selbst gewaltaffiner, erfahrener Schläger, dem es ein leichtes wäre, auch den älteren Fatzkes von Stjärnsberg unvergessliche Lektionen zu erteilen, darf er um keinen Preis zurückschlagen, denn das würde ihn den kostspieligen Schulplatz sowie den Abschluss kosten und seiner Mutter das Herz brechen. Es bedarf also anderer Mittel und Wege, um sich durchzusetzen, ohne zum Ausgestoßenen zu werden. Eriks nun folgender Weg gestaltet sich entsprechend mühsam und entbehrungsreich. Die Strafexerzizien von Silverhielm und seinem Gefolge werden zunehmend exzessiv und perfid, analog zu Eriks gleichbleibend stoischer Renitenz ihnen gegenüber. Der Lehrkörper indes schaut, obschon es durchaus liberal und fair denkende Didaktiker darunter gibt, gezielt weg und vertraut ganz auf das pädagogische Prinzip der „Selbsterziehung“ unter den Eleven – schließlich „funktioniert“ selbiges schon seit Jahrzehnten.
Allerdings ergibt sich aus Eriks stetig weiter kultiviertem Heldenstatus (und damit auch Guillaus Selbstbeweihräucherung) zugleich ein latentes Problem innerhalb des Narrativs, verfolgt es trotz aller treffender Anklagepunkte in Richtung Faschismus, Filz und Dünkelhaftigkeit doch eine unverhohlen darwinistische Denkweise. Erik kann am Ende nämlich nur reüssieren, weil er genügend Stärke, Cleverness und vor allem Resistenz besitzt, um sich durchzusetzen. Ein intellektuell geprägtes Individuum wie sein Freund Pierre Tanguy, Befürworter von Gandhis weg des gewaltfreien Widerstands oder Strindbergs Arbeiten, scheitert an den Repressalien der Älteren. Zu weich, zu verkopft – kurzum: zu schwach ist er, um Ungerechtigkeit und Despotismus langfristig ertragen zu können. Erik derweil macht aus seinen offenkundigen Vorbildern Elvis, Brando, Dean schon äußerlich keinen Hehl und wird wie sie schlussendlich rebellisch und findig genug sein, um den Spieß umdrehen zu können.
Man mag das mehr oder weniger genießbar finden – „Ondskan“ ist infolge diverser untadeliger Qualitätsmerkmale von der Inszenierung bis hin zu den darstellerischen Leistungen insgesamt ein starker Film, der zumindest zeigt, wie wichtig es vor allem für Heranwachsende ist, eine stabile moralische Agenda zu entwickeln.

8/10