VOCES

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Voces ~ E 2020
Directed By: Ángel Gómez Hernández

Daniel (Rodolfo Sancho) und Sara (Belén Fabra) erwerben renovierungsbedürftige Immobilien und bringen sie wieder in Schuss, um sie dann gewinnbringend weiterzuverkaufen. Für die Zeit der Restauration leben sie zugleich dort. Für ihren neunjährigen Sohn Eric (Lucas Blas) erweist sich die ewige Umzieherei als psychologisch unvorteilhaft; er kann sich nie an Schule oder Freunde gewöhnen. Im jüngsten Haus, einer weit außerhalb Madrids liegenden, jahrhundertealten Villa, fühlt sich Eric sogar noch unwohler als üblich. Er hört Stimmen, die ihm böse Dinge einflüstern und klingen wie die von Daniel. Eine hinzugezogene Psychologin (Beatriz Arjona) hat gleich nach ihrem ersten Hausbesuch einen tödlichen Autounfall. Dabei bleibt es nicht – Eric ertrinkt nur wenige Nächte später in dem abgesperrten Außenschwimmbad. Während die trauernde Ruth verzweifelt zu ihren Eltern fährt, sucht Daniel, der mittlerweile selbst mehrere unheimliche Erlebnisse hatte, die Hilfe des arrivierten ESP-Forschers Germán (Ramón Barea), der mit seiner Tochter Ruth (Ana Fernández) den Ereignissen vor Ort auf den Grund gehen will…

Another building, another witch. Als besonders originell kann man den aus spanischer Fertigung stammenden haunted house chiller „Voces“ sicherlich nicht erachten, dafür jedoch als beflissenes Gattungsstück, das seine wenngleich routinierten Mittel effektvoll einzusetzen weiß. In der erweiterten Tradition der diversen Spukhausfilme der siebziger und achtziger Jahre stehend – vor allem „Burnt Offerings“, „Superstition“ und „Poltergeist“ finden sich jeweils mehrfach referenziert – demonstrieren und zelebrieren Script und Regie ihr aufmerksames Studium populärer Vorbilder praktisch ohne Unterlass. Auch Roegs „Don’t Look Now“ wirft abermals seinen großen, motivischen Schatten, wobei das Bemühen um Grusel- und Schockelemente freilich dem gegenwärtigen Genrekino angeglichen wird und sich dessen diverse Ingredienzien, immerhin durchaus kompetent, recht erschöpfend dargeboten finden. „Voces“ stellt inmitten des sich aktuell oftmals überaus doppelbödig präsentierenden Horrorfilms somit eher als reaktionär dar, indem er sich auf seine besonders evokativ abgespulte Dramaturgie als essenzielles Hauptelement stützt und sich möglicher, tiefergehender intellektueller Diskurse derweil stehenden Fußes verweigert. Diese Strategie geht soweit auf, verhindert allerdings zugleich mutmaßlich, dass man sich auch längerfristig an „Voces“ wird erinnern können.

6/10

A.C.A.B. – ALL COPS ARE BASTARDS

Zitat entfällt.

A.C.A.B. – All Cops Are Bastards ~ I/F 2012
Directed By: Stefano Sollima

Die drei römischen Bereitschaftspolizisten Cobra (Pierfrancesco Favino), Negro (Filippo Nigro) und Mazinga (Marco Giallini) bezeichnen sich selbst als „Brüder“. Sie werden immer dann herbeigerufen, wenn die vorderste Front gefragt ist. Fußballspiele mit gewaltbereiten Hooligans gehören ebenso dazu wie Hausräumungen, politische Demonstrationen oder Auflösungen illegaler Flüchtlingslager. Vierter im Bunde ist der mittlerweile ausgeschiedene, als Parkwächter arbeitende Carletto (Andrea Sartoretti), der jedoch im Grunde noch nahtlos dazugehört. Sowohl ihre Arbeit als auch ihre Vorgehensweise findet sich gestützt von einer allseitigen, unerschütterlichen Selbsträson. Man sieht sich etwas larmoyant als notwendiges Übel; als die, die die Drecksarbeit verrichten müssen, eben weil sie es so gut können. Umso breitärschiger kultiviert das Quartett seinen Hass auf alle gesellschaftlichen Störfaktoren: Neonazis, Kommunisten, Ausländer, Asylanten, Ultras, Schnorrer, Obdachlose – das Gesocks lauert in jedem Winkel. Strafverfahren wegen Gewaltanwendung, wie eines gegen Cobra, der einem Fußballfan die Vorderzähne ausgeschlagen hat, sind eben eine obligatorische Begleiterscheinung des Drecksjobs.
Als der deutlich jüngere, unwirsche Neuling Adriano Costatini (Domnenico Diele) zur Bereitschaft kommt, nehmen die Übrigen sich seiner quasi-väterlich an. Der Junge muss eben noch etwas zurechtgestutzt werden. Doch das Altherren-Idyll droht an seinem eigenen Selbstverständnis zu zerbrechen, als Mazinga bei einem Einsatz ein Messer ins Bein bekommt und berufsunfähig wird. Diese Aktion schreit nach Rache, und zwar ganz inoffiziell. Doch der bald geworfene Bumerang kommt ebenso schnell wieder zurück und für Costatini ist der Punkt erreicht, an dem kein Freundschaftspakt der Welt mehr zur Rechtfertigung herhält…

Fast zeitgleich mit „Diaz – Don’t Clean Up This Blood“ erschien der ebenfalls englisch betitelte „A.C.A.B. – All Cops Are Bastards“, dessen klassisches, programmatisches Akronym gleichermaßen von Links wie Rechts verwendet wird. Sollimas Polizeifilm eignet sich insofern gut als companion piece zu Vicaris berückendem Meisterwerk, als dass Genua ’01 und die gewaltsame Räumung der Diaz-Schule auch hierin eine – obschon eher hintergründig besetzte – zentrale Motivrolle einnehmen: Cobra, Nero, Mazinga und Carletto waren einst nämlich höchstselbst Teil der Hundertschaft, die die friedlichen Demonstranten krankenhausreif prügelten – ein Erlebnis, das selbst diesem hartgesottenen Quartett noch sechs Jahre später Bauchschmerzen bereitet. Das schlechte Gewissen hält jedoch keinen von ihnen davon ab, nach die persönliche Agenda nach wie vor zur oberen Maxime zu machen, auch wenn Cobra Costatini zunächst mehrfach davon abhält, gegen mögliche Verdächtige übergriffig zu werden oder ihn nach einem Gewaltausbruch sogar deckt. Ihr jeweiliges persönliches Versagen im Privatleben tut das Übrige dazu, insbesondere den hochaggressiven Negro zusehends die (Selbst-)Kontrolle verlieren zu lassen. Cobra, als Junggeselle noch mit den wenigsten außerberuflichen Problemen belastet, tut sein Möglichstes, um den Kern der Bruderschaft zusammenzuhalten, doch gegen die Tatsache, dass Mazingas Sohn Giancarlo (Eugenio Mastrandrea) sich längst von dem liebesunfähigen Vater abgewandt und zum Nazi-Skin geworden ist, kann selbst er nichts ausrichten, ebensowenig wie gegen die Anzeige wegen Körperverletzung, die Negro zu Recht anhängig ist, seit er seine Ex-Frau (Eradis Josende Oberto) bedroht und geschlagen hat. Alles bröckelt. Schließlich wird Costatini zum Denunzianten, als er sich an die Abteilung für innere Angelegenheiten wendet. Wie der filmfinale Einsatz gegen eine Unzahl rach- und blutsüchtiger Ultras (wegen der Ermordung des Lazio-Fans Garbriele Sandri durch einen Polizisten), der die drei Freunde nochmals zusammenführt, von Sollima im unzweideutigen Gedenken an „Assault On Precinct 13“ inszeniert, endet, bleibt dem Zuschauer vorenthalten. Als jedoch das Stichwort „Diaz“ am Ende wieder aufploppt, ahnt Cobra, dass sich hier möglicherweise eine Art metaphysischer Schuldspirale schließen wird. Trotz seiner Zeitbezüge gemahnt „A.C.A.B.“, den Sollima gekonnt und druckvoll inszenierte, deutlich direkter an Sidney Lumets Polizeifilmzyklus denn an politisches Kino. Im Mittelpunkt stehen die vier Protagonistenschicksale und deren Reziprozität, die einmal mehr in den Abgrund weist.

8/10

RUN ALL NIGHT

„Tell everyone to get ready. Jimmy’s coming.“

Run All Night ~ USA 2015
Directed By: Jaume Collet-Serra

Nachdem der irischstämmige New Yorker Jimmy Conlon (Liam Neeson) viele Jahre als Killer für seinen besten Freund, den Syndikatsboss Shawn Maguire (Ed Harris) gearbeitet hat, fristet er sein Leben als dauerbesoffener Schnorrer und Tagedieb. Sein Sohn Mike (Joel Kinnaman), verheiratet und Vater zweier Kinder, will von ihm nichts wissen. Shawn hat derweil seinerseits Probleme mit dem eigenen Filius Danny (Boyd Holbrook), einem koksenden, lauten Störenfried, der seinen Vater gern in Geschäfte mit der albanischen Heroinmafia einspannen würde. Als dieser ablehnt und Danny jede weitere Hilfe versagt, erschießt dieser die beiden entsandten Albaner (Radivoje Bukvic, Tony Naumovski) kurzerhand, wird dabei jedoch durch einen dummen Zufall von deren Chauffeur, Mike Conlon, beobachtet. Nunmehr macht Danny Jagd auf Mike. Jimmy erfährt von der Sache und rettet Mike das Leben, indem er Danny tötet. Der vor Wut schäumende Maguire Senior vergisst alle Freundschaft und will weder Vater noch Sohn Conlon lebend davon kommen lassen. Ihn und seine Leute, einen übereifrigen Police Detective (Vincent D’Onofrio) und einen psychopathischen Profikiller (Common) auf den Fersen, erwartet die Conlons eine lange Nacht.

Einen der kaum mehr überschaubar vielen Genrefilme, auf die sich Liam Neeson im Alter und wohl beginnend mit Pierre Morels „Taken“ verlegt hat. Auch gemeinsam mit dessen Regisseur, dem spanischstämmigen Jaume Collet-Serra, hat Neeson nunmehr bereits vier Filme gemacht, wobei ich „Run All Night“ immerhin hinreichend ansehnlich fand, mir die übrigen drei in Kürze auch anschauen zu wollen. Nun darf man von diesem, einem grundsätzlich amttlich gecrafteten Gebrauchsfilm immerhin, keine sonderliche Innovation erwarten. Collet-Serras diverse neo-klassische Elemente aus Action- und Gangsterkino fusionierendes Werk schippert auf den ersten Blick im direkten Fahrwasser von Chad Stahelskis „John Wick“: Ein verzogener Gangsterfilius weckt durch sein koksinduziertes, egomanisches Verhalten einen eigentlich zu allseitiger Milieuberuhigung lange schlafenden Hund, der sein vormaliges Handwerk reumütig an den Nagel gehängt glaubt. Der aufgrund fehlgeleiteter Familienehre gekränkte Bossvater entfesselt daraufhin eine leichenreiche Hatz, deren Verlierer am Ende zwangsläufig er selbst und seine Organisation sein müssen, da die sie mitreißende Ein-Mann-Naturgewalt allzu entschlossen agiert. Soweit das Grundprinzip eben auch von „Run All Night“, der insofern noch interessant ist, als dass er sich ein wenig in die Subkultur irischen Migrantentums vortastet und mit Ed Harris einen diesbezüglich ja hinlänglich beschlagenen Antagonisten aufbietet. So ist es vor allem das Väterduell der beiden alternden Stars, das das Herz das Films schlagen lässt. Davon unabhängig, dass der eine der beiden, zumindest bezogen auf ihren gegenwärtigen Clinch, auf der moralisch sicheren Seite steht, hat Jimmy Conlon freilich allzu viele Sünden auf dem Kerbholz, um dem im Morgengrauen und upstate angesiedelten Finale als Katholik noch lebend entweichen zu dürfen – zu viele Opfer sind dem zeitweilig als „The Gravedigger“ Berüchtigten ehedem vor den Lauf geraten. Dabei sühnt Jimmy im Inneren bereits seit vielen Jahren. Vom Gewissen erdrückt, dem Sohn entfremdet und dem Suff verfallen, ist er seinen alten Kumpanen bestenfalls noch für schäbige Scherze gut und darf gerade noch volltrunken den Weihnachtsmann auf Shawns Familienfeier darbieten. Doch wehe, es wird persönlich (und das wird es) – Jimmy ist schneller nüchtern als die nächste Whiskeyflasche entkorkt und türmt im Nullkommanichts Leichen auf wie zu seinen besten Zeiten.
Collet-Serra inszeniert diesen doch relativ austauschbaren Plot dynamisch und wendungsreich; dabei gefällt er sich durch mäßig aufregende, um nicht zu konstatieren redundante Regiesperenzchen wie gewaltige time lapse shots durch das nächtliche New York, die dem eigentlichen Wesen des Narrativs als kammerspielartiger Doppelvendetta eher zuwider laufen. Dennoch bietet „Run All Night“ summa summarum noch immer genug an brauchbaren Elementen, um im leicht überdurchschnittlichen Qualitätssektor bestehen zu können.

7/10

LE GAMIN AU VÉLO

Zitat entfällt.

Le Gamin Au Vélo (Der Junge mit dem Fahrrad) ~ BE/F/I 2011
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne

Cyril (Thomas Doret), ein Junge von vielleicht 12, 13 Jahren, lebt im Heim. Als er registriert, dass sein Vater Guy (Jérémie Reiner) nicht nur sang- und klanglos den Wohnort gewechselt, sondern auch Cyrils geliebtes Fahrrad verkauft hat, hat, wird sein Verhalten noch renitenter als ohnehin schon. Verzweifelt versucht er, den Kontakt zu Guy wieder aufzunehmen. Durch Zufall begegnet Cyril bei seinen Nachforschungen der Friseurin Samantha (Cécile de France), die sich ohne zu zögern des Jungen annimmt, ihm sein Fahrrad zurückkauft und ihn sogar an Wochenenden in ihre Obhut nimmt. Nachdem Cyril nach einem gemeinsam Besuch mit Samantha bei seinem Vater, der eine neue Lebensgefährtin (Selma Alaoui) hat und in deren Restaurantküche arbeitet, aufs Schmerzlichste erfahren muss, dass Guy keinen Kontakt mehr mit ihm wünscht, gerät er an den kriminellen, jugendlichen Rattenfänger Wes (Egon Di Mateo), der Cyril zu einem Raubüberfall auf einen Zeitungsverteiler (Fabrizio Rongione) anstiftet. Mit allen Mitteln versucht Samantha, den Kontakt zwischen Cyril und Wes zu unterbinden – doch vergebens. Der Junge zieht den Überfall durch und wird dabei erkannt. Straffällig geworden, muss Cyril gleich in mehrfacher Weise Verantwortung für sein Handeln übernehmen.

„Le Gamin Au Vélo“ führt die Dardennes erneut ein kleines Stück weiter an den Gebrauch konventionellerer Mittel heran – mit Cécile de France leisteten sie sich erstmals eine bereits international etablierte Hauptdarstellerin und sogar eine kleine musikalische Weise darf mehrfach (insgesamt viermal) ertönen, die jeweils die Funktion einer Art Kapitelüberleitung übernimmt. Motivisch bewegt man sich indes auf etabliertem Terrain – eine Coming-of-Age-Story, in der ein/e bereits biographieversehrte/r ProtagonistIn sich den Wirrnissen des Lebens stellen muss, sich in diesen (vorübergehend) verliert und schließlich an eine existenzielle Weggabelung gerät, hatten die Dardennes ja bereits mehrfach angeordnet und auskultiert. Insoweit stellt Cyril eine weitere Facette jenes vormals eingehend behauenen Charaktertotems dar, dessen Ausprägungen auch Figuren wie Igor, Rosetta, Bruno und ansatzweise auch die verirrte Lorna hervorbrachte. Und wiederum gibt es Avancen an klassische Literaturvorbilder. Wie einst Oliver Twist an den üblen Fagin gerät Cyril an den „Organisator“ Wes und wie Pinocchio seine gute Fee findet Cyril die ihm gegen alle Widerstände beistehende Samantha. Einzig ihre wie aus heiterem Himmel fallende, kompromisslose Zuneigung und Liebe ermöglicht Cyril eine Begradigung seiner verwundeten Persönlichkeit und vermutlich auch ein krisenentledigteres Erwachsenwerden. Allerdings lassen die Dardennes an Cyril auch eine letzte, physisch spürbare Sanktion nicht vorübergehen, gewissermaßen eine möglicherweise notwendige Lebenslektion, die den Jungen erst auf ganzer Linie „begradigen“ wird. Inwieweit diese letzte „Tracht Prügel“ sowohl für Cyril als auch für den Film notwendig ist oder ob sie lediglich dazu angedacht war, ein klimaktisches Finale zu setzen und das Publikum noch ein letztes Mal emotional zu affizieren, erschließt sich mir nicht ganz. Dennoch ist man nunmehr aufrichtig davon überzeugt, dass Cyril seine Lektion gelernt hat.

8/10

L’ENFANT

Zitat entfällt.

L’Enfant ~ BE/F 2005
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne

Stolz präsentiert die achtzehnjährige Sonia (Déborah François), just von der Entbindungsstation kommend, Bruno (Jérémie Renier) ihren gemeinsamen, neugeborenen Sohn Jimmy. Das Paar steht weitgehend vor dem materiellen Nichts; Bruno, der mit seinen vierundzwanzig Jahren gerade einmal den emotionalen Reifegrad vielleicht eines Grundschulkindes besitzt, schlägt sich mit Diebstählen und Hehlereien durch den Tag. Seine und Sonias gemeinsame Sozialwohnung hat er kurzerhand für ein paar Tage untervermietet, um ein paar Euros zu verdienen. Mit seinem neuen Status als Vater eines Babys kann Bruno daher folgerichtig in keinster Weise umgehen. Spontan beschließt er, Jimmy an eine Gruppe illegaler Adoptionsvermittler zu verkaufen. Als er Sonia dies wie selbstverständlich eröffnet, bricht sie zusammen und muss ins Krankenhaus. Obwohl es dem völlig uneinsichtigen Bruno gelingt, Jimmy wieder zurückzuholen, will Sonia fortan nichts mehr mit ihm zu tun haben. Hinzu kommt, dass die Gangster unter Gewaltandrohung eine weitere hohe Geldsumme von ihm als „Aufwandsentschädigung“ verlangen. Ein eilends organisierter Raubüberfall, bei dem Bruno sich von seinem noch wesentlich jüngeren Helfershelfer Steve (Jérémie Segard) helfen lässt, geht ebenfalls schief…

…oder von einem, der sich sukzessive immer tiefer in die Scheiße reitet. Das im Gangsterfilm häufig bediente Narrativ des kleinkriminellen Glücksritters, der deutlich mehr abbeißt als er schlucken kann, diente den Dardennes als inhaltlicher Motor für ihren nächsten Film, freilich wiederum eine Studie in Armut, Unreife und Hoffnungslosigkeit. Für die Interpretation ihrer Hauptfigur griffen die Belgier auf Jérémie Renier zurück, der als Igor bereits in „La Promesse“ einige empfindliche Lebenslektionen zu lernen und sich am Ende seiner moralischen Verantwortung zu stellen hatte. Bruno als ein älteres alter ego Igors zu bezeichnen, liegt mit ein wenig Phantasie insofern im Bereich des Optionalen. Der im Prinzip nicht unsympathische junge Mann wird vor existenzielle Herausforderungen gestellt, die er aus verschiedenen Gründen nicht zu meistern imstande ist und begegnet diesen nicht nur mit Hilflosigkeit, sondern mit einem ultimativen Sündenfall: er verscherbelt seinen neugeborenen Sohn für ein paar Kröten und erwartet zudem von der Kindesmutter, dass sie diese ungeheure Entscheidung im Nachhinein mitträgt. Sie könnten ja „ein Neues machen“, führt er zu seiner argumentativen Rechtfertigung ins Feld. Für Bruno, der sich schon allzu lange auf geborgter Sühnefreiheit ausruht, der Anfang vom Ende der moralischen Verlotterung. Wie ein Junkie oder Alkoholiker muss er erst so tief fallen, dass es tiefer nicht mehr geht, mit dem Rücken zur Wand stehen ohne jedwede Fluchtmöglichkeit. Erst diese Position lässt ihn aufwachen und verehrt ihm zugleich eine letzte Chance, die Dinge irgendwann zum Besseren zu wenden.
Hoffnungslosigkeit ist die Sache der Dardennes bei allem sprachlos Machenden, das ihre Figuren regelmäßig zu durchleben und -leiben haben, nicht. Jede und jeder erhält bei ihnen eine zweite Chance, bevor sie ein weiteres Mal mitten aus der letzten Szene heraus in den Abspann gehen. In „L’Enfant“, dessen Titel wiederum trefflichts doppeldeutig gewählt ist, gestalten sie diese finalen Momente so zärtlich, taktil und berührungsintensiv wie noch nie zuvor und überlassen dadurch zugleich weniger der inneren Fortschreibungsimagination als bislang gewohnt. Dass ihnen wiederum mehr Budget zur Verfügung stand, schlägt sich in kaum merklichen Details nieder: mehr Bewegungsabläufe gibt es zu sehen (Bruno ist fast unaufhörlich unterwegs), dazu sogar eine motorisierte Verfolgungsjagd als Actionsequenz. Dass sie sich an standardisiertere Kinomechanismen heranwagen, schwächt die Kraft des dardenne’schen Kosmos jedoch zum Glück keineswegs.

9/10

LE FILS

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Le Fils (Der Sohn) ~ BE/F 2002
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne

Der Tischler Olivier (Olivier Gourmet) bildet straffällig gewordene Berufsschullehrlinge in seinem von ihm innig geliebten Fach aus. aus. Als eines Tages ein neuer Azubi namens Francis (Morgan Marinne) vor Ort auftaucht, versucht Olivier zunächst alles, den Jungen von sich fernzuhalten und lehnt sogar einen Platz in seinem Kurs für ihn ab. Schließlich entscheidet er sich dann doch, Francis unter seine Fittiche zu nehmen und bemüht sich zugleich, mehr über den schüchternen Burschen zu erfahren. Der Grund für das alles ist so erschreckend wie unheimlich – Francis hat vor einigen Jahren Oliviers kleinen Sohn getötet.

Wiederum in Seraing angesiedelt, diesmal jedoch mit einem versöhnlicheren, weitaus weniger ausgewaschenen Blick auf die grenznahe Wallonenstadt als in ihren beiden Vorgängerfilmen, erzählen die Dardennes eine bewegende Geschichte um die wohlfeilen Traditionstopoi Schuld, Sühne und Erlösung. Wie gewohnt sind die verwendeten Formalia so karg und buchstäblich dogmatisch wie nur irgend möglich und die sich nur sehr zögerlich ergebende Entschlüsselung der höchst komplexen Motivationslage ihres Protagonisten Olivier immens spannungsvoll. Der seit „La Promesse“ fest zur personellen Grundausstattung der Dardennes gehörende, allerweltsgesichtliche Olivier Gourmet trägt dabei ausnahmslos jede Szene und evoziert trotz scheinbar stoischer Mimik ein Maximum an Interesse an seiner Figur. Was mit diesem so selten eine äußere Regung zeigenden Olivier, wie sich immer wieder beweist, beinahe eine Art Magier in seinem Metier, eigentlich los ist, entbättert das Script nur ganz peu à peu: Einst mit der Tankstellenangestellten Magali (Isabella Soupart) verheiratet, offenbart diese ihm, dass sie demnächst eine neue Ehe anstrebe und außerdem schwanger sei. Den Grund für die vormalige Trennung des Paares und auch für Oliviers Unfähigkeit, nunmehr anders als in Zwei- bis Dreiwortsätzen mit Magali zu kommunizieren, erfährt man im weiteren Verlauf – die beiden haben ihren kleinen Sohn verloren und darüberhinaus auch sich. Oliviers ganzer Lebensinhalt besteht nunmehr in seiner Arbeit, im Zuge derer das Schicksal eine Kreisbewegung vollführt. Mit dem sechzehnjährigen Francis nämlich, der gerade fünf Jahre im geschlossenen Jugendstrafvollzug hinter sich hat, begegnet Olivier just dem Jungen, der sein Leben einst entscheidend verändert hat, jenem Jungen nämlich, der seinen Sohn und damit auch die innere Harmonie Oliviers auf dem Gewissen hat. Und dieses mochte sich nie wirklich erleichtern. Francis leidet unter Einsamkeit, Angstattacken und muss regelmäßig Sedativa einnehmen. Warum Olivier sich des Jugendlichen, der freilich nicht um die eigentliche Identität seines Lehrers weiß, fast unmerklich annimmt, bleibt offen. Will er sich möglicherweise in einem geplanten Akt der Selbstjustiz rächen oder geht es ihm doch um bloßes Verständnis? Ein gemeinsamer Besuch in einem entlegenen Holzverarbeitungsbetrieb wird die kryptische Beziehung des Paars schließlich kulminieren lassen, die Wahrheit auftischen und die meisten offenen Fragen beantworten. Insofern vollzieht „Le Fils“ gewissermaßen auch wieder einen geschlosseneren Abschluss als „Rosetta“, einen, der so heimlich herzerwärmend wie unspektakulär daherkommt, vor allem aber einen, der der Doppeldeutigkeit des Titels erst ihre wahre Immanenz verleiht.

8/10

LA PROMESSE

Zitat entfällt.

La Promesse (Das Versprechen) ~ BE/F/LUX/TU 1996
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne

Igor (Jérémie Renier) ist 15 und schraubt am liebsten an allem herum, was fährt und einen Motor hat. Doch weder dafür, noch für irgendwelche anderen Alltagsaktivitäten eines Jungen in seinem Alter bleibt ihm hinreichend Zeit. Igor muss seinem kriminellen Vater Roger (Olivier Gourmet) nämlich rund um die Uhr zur Verfügung stehen, wenn es um die Organisation von dessen Machenschaften geht. Roger beherbergt in einer Schrottimmobilie illegale Migranten aus aller Herren Länder, manche nur im Transit, andere auf unbestimmte Zeit. Zu ebenjenen gehört auch der aus Burkina Faso stammende Amidou (Rasmané Ouédraogo), dessen deutlich jüngere Frau Assita (Assita Ouédraogo) mitsamt dem gemeinsamen Baby soeben nachgekommen ist. Igor fasziniert die selbstbewusste Afrikanerin nebst all ihrer exotischen Brauchtumspflege. Als Amidou bei einer Überraschungsvisite der Einwanderungsbehörde von einem Baugerüst stürzt, verwehrt ihm Roger aus Angst aufzufliegen jedwede Hilfe, lässt ihn verbluten und zementiert den Leichnam danach ein. Zuvor nimmt Amidou Igor jedoch noch das Versprechen ab, sich um Assita und das Baby zu kümmern. Während er Assita vorlügt, er wisse nicht, wo Amidou sich aufhalte, gibt sich Igor ganz zum wachsenden, in Gewaltausbrüchen mündenden Zorn Rogers alle Mühe, Assita zu helfen und sie zu Verwandten in Italien zu schaffen. Bald muss er sich endgültig zwischen seiner eigenen Zivilcourage und der väterlichen Dominanz entscheiden…

Mit „La Promesse“, ihrem dritten Spielfilm, erschienen das belgische Bruder- und Autorengespann Dardenne auf der cineastischen Landkarte und ist seither nicht mehr davon wegzudenken. Seither Stammgäste in Cannes, konnten sie schon mehrfach eminente Preise abräumen und blieben sowohl der Auswahl ihrer Sujets als auch ihrem Inszenierungsstil stets treu. Jene Mixtur könnte man gewissermaßen als Verquickung der sozialrelevanten Themen der Briten Ken Loach und Mike Leigh auf der einen sowie der strengen, formalen Kargheit von Dogma 95 auf der anderen Seite kategorisieren. Dabei vollzieht bereits „La Promesse“ scheinbar mühelos die emotionale Affizierung des Publikums, allein durch sein 16mm-Format, die ruppige, dokumentarisch anmutende Handkamera und die permanenten Close-ups der extrem naturalistisch interpretierten Hauptfiguren. Unter gänzlichem Verzicht auf eine Musikspur, exaltierte Requisiten, Kostüme oder Atelieraufnahmen bleibt „La Promesse“ wie viele seiner Nachfolger daher permanent realitätsverpflichtet und entwickelt gerade dadurch seinen tiefen Sog. Gefilmt in maroden Verfallsbauten des winterlichen Seraing, einer dem Strukturwandel zum Opfer gefallenen Arbeiterstadt nahe Lüttich, präserviert der Film einen sich nicht selten höchst unangenehm ausnehmenden Einblick in das kleinkriminelle Prekariat vor Ort, gekoppelt mit dem hoffnungslos anmutenden Los der von Roger ausgenommenen Illegalen. Dennoch steht der an einen existenziellen Scheideweg geführte Igor – bravourös gespielt von dem damals tatsächlich erst fünzehnjährigen Renier – im permanenten Zentrum des Geschehens. Rasch entwickelt man tiefes Mitgefühl mit dem so intelligenten, lebensfitten Jungen, der vom eigenen Vater, der in seiner nicht selten an ähnlich gefärbte, literarische Vaterfiguren und Ausbeuter wie Dickens‘ Fagin oder Stevensons Long John Silver erinnert, verraten und im Prinzip emotional auf das Schlimmste missbraucht wird. Kaum eine Minute für Igor, in der er einmal ganz bei sich sein, den kriminellen Alltagswust, in den Roger ihn stante pede reißt, vergessen kann. Ständig muss er Rogers Anweisungen wie ein unmündiger Adlatus Folge leisten, sogar die Ausbildungsstelle kostet Igor seine autoritätsmächtige Hörigkeit. Regungen von Gewissen und Menschlichkeit quittiert Roger mit diversen Sanktionen von Liebesentzug bis Prügel; fadenscheinig glückselig anmutende Momente sind Rogers eigener, naiver Vorstellung selbiger geschuldet. Dass Igor am Ende in einem ungeheuren emanzipatorischen Kraftakt den Mut aufbietet, sich mit aller Konsequenz gegen den Vater und seine Machenschaften zu positionieren, verabreicht „La Promesse“ dann nochmal einen gehörigen Energieschub.

9/10

ANTLERS

„I’m hungry.“

Antlers ~ USA/MEX/CA 2021
Directed By: Scott Cooper

Siprus Falls, Oregon. Die Kleinstadlehrerin Julia Meadows (Keri Russell) macht sich gesteigerte Sorgen um ihren Schüler Lucas Weaver (Jeremy T. Thomas). Der Junge wirkt zunehmend abgemagert und verwahrlost. Julia, die gemeinsam mit ihrem Bruder Paul (Jesse Plemons), mit dem sie zusammenwohnt und der Sheriff von Siprus Falls ist, in ihrer Kindheit selbst zu Missbrauchsopfern ihres Vaters geworden war, befürchtet bezüglich Lucas ein ähnliches Schicksal. Gemeinsam mit ihrer Rektorin Ellen Booth (Amy Madigan) und ihrem Bruder Paul beschließt Julia, ihrem Verdacht nachzugehen. Ein erster Hausbesuch bei den Weavers, wo Lucas mit seinem verwitweten Vater Frank (Scott Haze), einem auf lokaler Ebene berüchtigten Kriminellen, und seinem kleinen Bruder Aiden (Sawyer Jones) zusammenlebt, endet für Booth tödlich. Damit nicht genug finden sich bald weitere grausig zugerichtete Leichen und Tierkadaver. Der Jäger Warren Stokes (Graham Greene) ahnt um die alles andere als beruhigende Lösung des Rätsels…

Der Wendigo ist ein Naturdämon mit amorpher Gestalt aus der Sagenwelt der Algonquin-Ureinwohner. Dessen Geist besetzt seine Wirt, verändert ihn innerlich und äußerlich und verdammt ihn zu ewigem Hunger, der proportional zu jeder weiteren erlegten Mahlzeit anwächst. Auch vor Kannibalismus schreckt der fleischfressende Wendigo dabei nicht zurück. Für „Antlers“, seinen ersten Horrorfilm, greift Scott Cooper ebenjenen Mythos, der, zumindest in protagonistischer Funktion, bislang ausschließlich auf der B- und Indie-Genreebene Verwendung fand, auf und beschert ihm seine Studio-Premiere. Hier lauert der Wendigo zu Beginn im Inneren einer stillgelegten Mine, in der Frank Weaver und sein Kompagnon sich ein kleines Meth-Labor eingerichtet haben und damit die Unruhe des Wesens stören. Der Geist des Wendigo sucht sich nämlich spätestens dann stets einen neuen Gastkörper, wenn sein vorheriger vernichtet wurde. Nachdem Frank und Aiden erste Anzeichen jener unstillbaren Besessenheit zeigen, sorgt ersterer selbst dafür, dass beide in häuslicher Zwangsquarantäne bleiben, derweil Lucas sie mit Aas versorgt. Natürlich kann der Wendigo in Franks Körper fliehen und beginnt sein blutiges Treiben unter freiem Himmel.
Coopers weitgehend in gepflegter Routine verharrendes monster movie verehrt dem Wendigo einen durchaus sehenswerten Großeinstand. Dabei orientiert sich das Script durchweg an klassischen Gattungsstrukturen, zumal solchen, in denen evil native spirits eine gehobene Rolle einnehmen. Erst nach und nach wird der in indianischer Geschichte freilich hoffnungslos unbeschlagenen weißen Community bewusst, welches übernatürliches Übel ihr auflauert und damit auch, welche Medizin dagegen einzusetzen ist. Die Protagonistin erfährt eine zusätzliche Charakter- und Motivationsebene durch ein persönliches Trauma, das sie empathisch für das Schicksal eines ihrer Schutzbefohlenen macht und jenen zu ihrem Schützling werden lässt. Ein wenig body horror kommt hinzu, wenn die gehörnte (respektiv „begeweihte“) Gestalt des Wendigo aus Franks Körper hervorbricht und als gewaltiges Ungetüm die Gegend unsicher zu machen beginnt. Das alles nimmt sich wie erwähnt angemessen kernig aus, begnügt sich jedoch damit, seinen sicheren Kurs stoisch beizubehalten und diesen nicht etwa von riskanten Innovationsbestrebungen stören zu lassen. Jene Vorgehensweise trägt „Antlers“ am Ende zwar keinen Innovationspreis ein, macht ihn aber doch zu einem weiteren, amtlichen Horrorstück der Gegenwart.

7/10

HOUSE OF GUCCI

„Quality is remembered long after price is forgotten.“

House Of Gucci ~ USA/CA 2021
Directed By: Ridley Scott

Mailand 1978: Auf einer Party lernt die dem gehobenen Arbeitermilieu entstammende Patrizia Reggiani (Lady Gaga) Maurizio Gucci (Adam Driver) kennen, den Jura studierenden Sohn des zur Hälfte an der berühmten Modemarke anteilhabenden Witwers Rodolfo Gucci (Jeremy Irons). Gegen den Willen seines Vaters heiratet Maurizio die Emporkömmlingin, die sich ihren Weg in die familiäre Schaltzentrale über Maurizios Onkel Aldo (Al Pacino) fräst, dessen eigener Sohn Paolo (Jared Leto) so ganz und gar nicht Aldos Vorstellungen eines fähigen Unternehmenserben entspricht. Patrizia beginnt, nach und nach ihre neue Machtposition auszuspielen und treibt schwere Keile in den familiären Zusammenhalt. Als sich Maurizio von Patrizia scheiden lässt, greift diese zu radikaler Gegenwehr…

Nachdem er sich mit „All The Money In The World“ bereits einer anderen sich aufreibenden Hochfinanz-Dynastie gewidmet hatte, nimmt Ridley Scott sich in „House Of Gucci“ der Geschichte um den Mord an Maurizio Gucci an, der am 27. März 1995 von einem zunächst unbekannten Attentäter erschossen wurde. Den daraus resultierenden, aus mehrerlei Gründen schönen „House Of Gucci“, inszeniert Scott mit leichter Hand und schwerer Ironie. Seine vier männlichen Guccis Maurizio und Rodolfo, vor allem aber Paolo und Aldo, gerieren sich als exzentrische Paradiesvögel zwischen pseudoaristokratischem Hochmut und exaltierter Pose, die das dazugehörige Darstellerquartett mittels hinreißenden Overactings darbietet. Als hätte man sich ganz bewusst abgesprochen, versuchen sich insbesondere Pacino und Leto unter ihrem irren Makeup in campiger Larmoyanz gegenseitig zu überflügeln, ein Duell, das der ungebrochen formidable New-Hollywood-Veteran freilich souverän für sich entscheidet. Die wahre interpretatorische Offenbarung ist jedoch Lady Gaga, die ich erstmals in dieser Position wahrnehmen durfte. Für die ungebildete, etwas bauernschlaue, aber über die Maßen selbstbewusste Intrigantin dürfte sie sich ein Beispiel an Joan Collins‘ legendärer „Dynasty“-Rolle der Alexis Carrington genommen haben, bekanntermaßen einer bedarfsweise zur Furie werdenden Hexe. Zwischen Leidenschaft und Boshaftigkeit oszillierend macht sie insbesondere dem beeinflussbaren Maurizio mittelbar das Leben schwer, indem sie ihn als ihr heimliches Machtinstrument missbraucht. Die überfällige Quittung lässt sie sich im Gegenzug allerdings nicht gefallen.
„House Of Gucci“ erinnert mich geradezu frappierend an die Schlag auf Schlag entstandenen, etwas in Vergessenheit geratenen, obschon starbesetzten Familienepen der Spätsiebziger wie Thompsons „The Greek Tycoon“, Youngs „Bloodline“ oder Richerts „Winter Kills“, die sich allesamt nicht scheuten, die alte Weise von sich selbst korrumpierender, intrafamiliärer Dekadenz in adäquat luxuriöse Breitbilder zu kleiden und dabei Storys zu erzählen, die sich dramaturgisch betrachtet zwar auf dem deterministischen Niveau eines Groschenromans bewegten, sich den Lebensrealitäten ihrer mal mehr, mal weniger heimlichen Vorbilder jedoch stets auf Haaresbreite annäherten. Exakt deren voluminösen Gestus greift Scott ganz unverhohlen wieder auf und schüttelt damit wie beiläufig großes Kino aus dem Ärmel. Analog zu seinen mitunter stoffeligen Ahnherren nimmt sich jedoch auch „House Of Gucci“ nicht ganz perfekt aus. Lässlicher- und mir unverständlicherweise hapert es an Details: Das Script missachtet etwa die authentische Chronologie (Reggiani und Gucci hatten sich bereits sechs Jahre zuvor verheiratet und waren nach New York gegangen) und die ansonsten durchaus gelungene Auswahl der Musikstücke purzelt ebenfalls schwer durcheinander. So löst etwa „Paid In Full“ von Eric B. & Rakim New Orders „Blue Monday“ als Hintergrundmusik ab bei einer 1983 stattfindenen Versace-Modenschau. Derlei Beispiele gibt es noch einige mehr, wobei etliche davon mir gewiss (noch) gar nicht aufgefallen sind. Andererseits ist Scott kein Scorsese und entbehrt auch dessen perfektionistische Detailvesessenheit, was auch gut so ist. Ja, „House Of Gucci“ bietet kaum verhohlenen, lustvollen Camp und ich finde es erfreulich, dass es das anno 2021 noch gibt.

8/10

THEY CALL ME MISTER TIBBS!

„A case is never solved until a judge says it is.“

They Call Me Mister Tibbs! (Zehn Stunden Zeit für Virgil Tibbs) ~ USA 1970
Directed By: Gordon Douglas

Die junge Prostituierte Joy Sturges (Linda Towne) ist in ihrem Appartment erschlagen worden. Detective Virgil Tibbs (Sidney Poitier) vom SFPD wird mit dem Fall betraut. Ein anonymer Anrufer, hinter dessen Identität sich der schmierige, halbseidene Hausbewohner Rice Weedon (Anthony Zerbe) verbirgt, behauptet gegenüber der Polizei, Tibbs‘ Freund, den auch politisch engagierten, liberalen Reverend Logan Sharpe (Martin Landau) in der Nähe des Tatorts gesehen zu haben. Dieser versichert Tibbs, mitten im Endspurt eines Wahlkampfes steckend, die Ermordete zwar gut gekannt, mit ihrem Tod jedoch nichts zu tun zu haben. Tibbs ermittelt dennoch in alle Richtungen, derweil ihm privat sein renitenter Sohn Andy (George Spell) zunehmende Sorgen bereitet…

Drei Jahre nach Norman Jewisons ausgezeichnetem Südstaaten-Polizeifilm „In The Heat Of The Night“ schlüpfte Sidney Poitier erneut in die Rolle des so überaus nüchtern agierenden Ermittlers Virgil Tibbs. Das archaische Milieu des ewig gestrigen Südens hinter sich lassend, hat der stets besonnene Detective sein Einsatzgebiet nunmehr in der Westküsten-/Hippie-Metropole San Francisco, in der Rassismus und Segregation zumindest keine wesentliche Alltagsrolle mehr bekleiden. Analog dazu weicht Quincy Jones‘ vormals bluesige, schwitzige Musik zeitgenössischeren Funk- und Soul-Klängen. Zumindest Tibbs‘ unverwechselbarer Charakter wird jedoch aus dem Orginal mit herübergetragen; Professionalität und Ratio prägen nicht nur seinen beruflichen Werdegang, sondern erschweren ihm auch den Umgang mit den Wogen des Lebens. Filius Andy, just in einer unleidigen Sturm- und Drang-Phase, versucht mit allen Mitteln, sich von der elterlichen Autorität zu emanzipieren, was allenthalben zu scharfen Vater-/Sohn-Konflikten führt und Tibbs seine ohnehin schwierigen Untersuchungen nicht eben erleichtert. Bezeichnenderweise ist die dramaturgisch mit Abstand stärkste Szene jene, in der Tibbs zu einer drakonischen Erziehungsmaßnahme greift und daran selbst verzweifelt.
Der ein berühmtes Dialogzitat des Vorgängers titulär aufgreifende „They Call Me Mister Tibbs!“ hat trotz der versierten Inszenierung Gordon Douglas‘ nicht mehr den durchschlagenden Impact von „In The Heat Of The Night“, der seine historische Geltung nicht nur als wesentlicher Markstein des antirassistischen Films hält, sondern auch dem buddy movie unerlässliche Impulse verlieh. Douglas‘ gediegene Arbeit bietet derweil nicht mehr und nicht weniger als einen für seine Ära weitgehend repräsentativen Polizeifilm, der zwischen Peter Yates‘ „Bullitt“ und Don Siegels „Dirty Harry“ einen weiteren unbestechlichen San-Francisco-Cop bei der protagonistischen Arbeit zeigt, der im Vergleich zu seinen archetypischen „Kollegen“ allerdings eine weitaus ehernere Systemtreue an den Tag legt und – unverwechselbares Kennzeichen – eben Afroamerikaner ist. Das wichtigste Verdienst des Films liegt darin, ebendieses Faktum als völlig normal und gegeben hinzunehmen und keinerlei Aufhebens darum zu machen; anno 1970 leider noch keine Selbstverständlichkeit.

7/10