TRIANGLE OF SADNESS

„I sell shit!“

Triangle Of Sadness ~ S/F/D/UK/TR/GR/DK/CH/MEX/USA 2022
Directed By: Ruben Östlund

Carl (Harris Dickinson) und Yaya (Charlbi Dean) sind zwei ausgesprochen schöne, junge Menschen, demzufolge Models und auch ein Paar. Durch ihren Status als Influencerin ergattert Yaya für die beiden die Teilnahme an einer Mittelmeerkreuzfahrt auf einer Luxusyacht gemeinsam mit diversen anderen, reichen Menschen. Deren Crew setzt sich zusammen aus einem ständig besoffenen, in marxistischer Literatur vertieften Kapitän (Woody Harrelson), einer zur unbedingten Serviceerfüllung angehaltenen Uniformiertenstaffel unter Leitung der entsprechend gedrillten Chefstewardess Paula (Vicki Berlin) sowie der fast ausschließlich aus Philippinos bestehenden ArbeiterInnenschaft. Nach einem stürmischen Kapitänsdinner, das in einer Orgie aus Kotze, Dünnpfiff und Suff endet, wird das Schiff von Piraten gekapert und versenkt. Acht Überlebende stranden auf einer scheinbar verlassenen Insel: neben Paula, Yaya und Carl sind dies der App-Entwickler Jarmo (Henrik Dorsin), der dekadente Oligarch Dimitry (Zlatko Buric), die nach einem Schlaganfall teilgelähmte Theres (Iris Berben), der Pirat Nelson (Jean-Christophe Folly) und die Putzfrau Abigail (Dolly De Leon). Als einzige in händischer Arbeit erfahrene Person übernimmt in Anbetracht der desolaten Situation rasch Abigail die Führung über die kleine Gruppe und erklärt sich selbst zur Kapitänin. Eine ganz neue Erfahrung für sie.

Wo viel Hype ist, da ist naturgemäß auch immer viel Geraune. Und wie es so ist im Leben, positioniert man sich seiner individuellen Perzeption gemäß mal auf der einen und mal auf der anderen Seite. Im Falle „Triangle Of Sadness“, der seinem Regisseur Ruben Östlund neben diversen anderen Preisen bereits die zweite Palme d’Or eingetragen hat, stellt sich im Hinblick auf Meinungsdiversität rasch die primäre Frage nach „gelungener“ oder auch „treffender“ Satire, ähnlich wie bei der Netflix-Produktion „Don’t Look Up“ im letzten Jahr, deren zumindest ansätzliche Ausprägung der von Östlunds Film nicht unähnlich ist. In einer Zeit, da Menschen wie Elon Musk die globale Aufmerksamkeit bündeln und die Diskussion um das perverse Ungleichgewicht monetärer Mittel immer allgegenwärtiger wird, sind filmgewordene Spottschriften wie diese zunächst einmal eine offensichtliche Erscheinung. Nur: wie subtil und sophisticated haben sie zu sein? Oder darf es auch „in your face“ zugehen, laut, ordinär und vulgär gar? Der Weg, den „Triangle Of Sadness“ wählt, passt. In seiner ein ums andere Mal zutiefst abjekten Vorgehensweise trifft das Script vielleicht nicht jedes Mal punktgenau, meist aber doch sehr zielsicher ins Schwarze. Das buchstäblich aus dem Ruder laufende captain’s dinner auf der Yacht mit seiner anschließenden Kontrastierung aus humaner Komplettentleerung und moralöknomischer Grundsatzdiskussion im Vollrausch zweier Delirprofis empfand ich nicht nur himmelschreiend witzig, sondern darüberhinaus als komödiantischen Höhepunkt, der in einer Reihe steht mit den großen Slapstick- und Screwball-Szenarien von Chaplin über die Marx Brothers bis hin zu Jerry Lewis und vielleicht eines schönen Tages mit diesen in einem Atenzug genannt werden wird. Als gänzliches Juwel besteht „Triangle Of Sadness“ trotz dieser grandiosen Klimaxminuten allerdings nicht; die das Geschehen einfassende Beziehung von Yaya – Charlbi Dean makellos schön, mir zuvor gänzlich unbekannt und entsetzlicherweise schon so jung verstorben – und Carl karikiert zwar ganz hübsch die fahle Ausgehöhltheit solcher, von erschreckend-permanenter Selbstillustration geprägter Insta-Existenzen, taugt als Rahmung jedoch eher bedingt und lässt durchblicken, dass Östlund hier und da selbst nicht so recht wusste, was er da eigentlich genau aufs zu Korn nehmen gedachte. Ähnliches gilt für das natürlich mit Golding und Orwell kokettierendem Inselkapitel, das wohl die Frage nach Machtumverteilung, sowie deren adäquatem Ge- bzw. Missbrauch ausloten soll. Hier versagt sich der Film leider jene Geschlossenheit und Konsequenz, derer er als veritables Meisterwerk unerlässlich bedurft hätte. So bleiben exquisite Glanzlichter neben manchem Fragezeichen, wobei erstere ihre Dominanz in der Rückschau glücklicherweise stante pede verteidigen.

8/10

THE UNBEARABLE WEIGHT OF MASSIVE TALENT

„Nick… . FUCKIIIIIIIIING Cage!“

The Unbearable Weight Of Massive Talent (Massive Talent) ~ USA 2022
Directed By: Tom Gormican

Um seiner geflissentlich darbenden Karriere und dem damit einhergehend darbenden Bankkonto zu begegnen, nimmt Hollywood-Schauspieler Nicolas Cage (Nicolas Cage) leicht widerwillig ein außergewöhnliches Engagement an: Er soll gegen eine Million Dollar als prominenter Geburtstagsgast des auf Mallorca lebenden Unternehmenschefs Javi Gutierrez (Pedro Pascal) erscheinen. Javi, ein glühender Verehrer von Cage und seinem Gesamtwerk, der jenen außerdem gern als Hauptdarsteller für sein erstes, eigenes Drehbuch gewönne, lockt den zunächst distanzierten Star mit Drinks und anderen Lustigmachern, woraufhin sich rasch tatsächliche Sympathien zwischen den beiden Männern entwickeln. Doch die putzige Harmonie trübt alsbald ein: Die CIA hat Javi im Visier als Kidnapper der Tochter (Katrin Vankova) des katalinischen Präsidenten und setzt ausgerechnet den überrannten Cage als Maulwurf gegen seinen Gastgeber ein. Tatsächlich jedoch ist ohne dessen Wissen Javis Cousin, der Mafioso Lucas (Paco Léon) für die Entführung verantwortlich. Dies rettet zwar die Freundschaft der beiden männer, macht ihre Gesamtsituation jedoch nicht weniger lebensgefährlich…

Dass Hollywood-Schaffende sich immer wieder selbst spielen, bildet zwar keine Seltenheit; dass sie sich höchstselbst als Protagonisten eines fiktiven Abenteuers um ihre eigene Person zur Verfügung stellen, darf man jedoch nach wie vor als kleine Rarität erachten. Vor diesem Hintergrund stellen sich dann auch mehr oder weniger unweigerliche Assoziationen zu einer anderen, noch sehr viel grotesker aufgezogenen Selbstdemontage eines amerikanischen Weltstars ein, nämlich zu Spike Jonzes „Being John Malkovich“. Gegen den Wahnwitz von Jonzes und Charlie Kaufmans wahnwitziger Dramödie, die einst Malkovich himself zum Endgefäß für einen bizarren, mentalen Geburtskanal modelte, kommt „The Unbearable Lightness Of Massive Talent“ zwar nicht an, findet aber dennoch hübsche Wege, das Buddy-Duo Cage und Pascal vor der lichtdurchfluteten, mallorquinischen Kulisse in ein paar lustige, später auch actionreiche Episoden zu verstricken. Dabei gibt der Leinwand-Cage, ebenso wie damals der Leinwand-Malkovich freilich, eine Alternativversion seines tatsächlichen Selbst; so werden ihm etwa eine fiktive Ex-Frau (Sharon Horgan) und Teenagertochter (Lily Mo Sheen) herbeigedichtet, die er durch seine arrogante Selbstherrlichkeit verprellt.
Im weiteren Hergang outet sich der Film schließlich als ähnlich versiert in punkto Cage-Facts wie seine zweite Hauptfigur Javi Gutierrez; es kommt erwartungsgemäß zu diversen title drops und Reminiszenzen an frühere Beiträge aus dem umfangreichen Œuvre des Darstellers, der unterdessen allenthalben von seinem eigenen, jüngeren alter ego aus der Ära „Wild At Heart“ heimgesucht und traktiert wird. Das nimmt sich alles recht amüsant und tragfähig aus, verzichtet jedoch nicht auf die eine oder andere Redundanz. Am komischsten empfand ich dabei dabei jene Szenen, in denen Cage, intoxiniert durch diverse Rauschmittel von Alkohol bis Acid (einmal sogar durch ein hochpotentes Spionage-Sedativ), torkelnd oder sonstwie diffus durch die mediterrane Gegend laviert. Nicht, dass der Film unter späterem Verzicht auf derlei Sperenzchen gegen Ende hin geerdeter würde; es bleibt angenehm bescheuert. Trotzdem – auf den ganz großen Anarcho-Irrsinn, die totale Cage-Kirmes gewissermaßen, wird wohlweislich verzichtet. Schade.

7/10

THE BLACK PHONE

„I almost let you go.“

The Black Phone ~ USA 2021
Directed By: Scott Derrickson

North Denver, Colorado, 1978. Der Jugendliche Finney Shaw (Mason Thames) leidet unter den Attacken diverser Bullys an seiner Schule. Zudem kanalisieren sich die Depressionen seines alleinerziehenden Vaters (Jeremy Davies) in Form von Gewaltausbrüchen, die er und seine jüngere Schwester Gwen (Madeleine McGraw) zu erdulden haben. Mit dem wehrhaften Robin (Miguel Cazarez Mora) gewinnt Finney immerhin einen schlagkräftigen Freund, doch auch dieser Lichtblick schwindet bald wieder – Robin wird Opfer des „Grabber“ (Ethan Hawke), eines als Zauberer verkleideten Kidnappers, der in der Gegend Jungen im Teenager-Alter verschleppt und spurlos verschwinden lässt. Eines Tages gerät auch Finney in die Fänge des Verbrechers und erfährt nach und nach die schreckliche Wahrheit über den ihm ausschließlich maskiert gegenübertretenden Psychopathen, der vor Finney bereits fünf Kids in seinem Keller gefangen gehalten und ermordet hat. Über ein in jenem Verlies befindliches, anschlussloses Telefon erhält Finney bald darauf Anrufe seiner „Vorgänger“, die ihm aus einer Art Zwischendimension heraus dabei helfen wollen, dem Grabber zu entkommen…

Mit „The Black Phone“, einer weiteren Blumhouse-Produktion, wildert nun auch Scott Derrickson im offenbar noch lange nicht versiegten Reservoir der immer zahlloser werdenden Retro-Genre-Produktionen, die sich so überaus darin gefallen, die siebziger und achtziger Jahre als periodische Kulisse für ihre mehr oder minder innovativen Storys zu nutzen. Dieses Vorgehen gelingt analog dazu, zumal in Anbetracht seines inflationären Einsatzes, in wechselnd ansprechender Form, wobei das reanimierte Zeitkolorit zusehends selten wirklich zweckmäßig erscheint. Immerhin liefert selbiges einen beständigen Vorwand, ein paar knackige Rocksongs der Ära auf die Tonspur zu zaubern.
Derrickson, der in Bezug auf die Qualität seiner Filme ein bis dato relativ heterogenes Werk aufweist und binnen relativ kurzer Zeit sowohl Ordentliches („Sinister“) als auch harsch Enttäuschendes („Deliver Us From Evil“) vorlegte, begibt sich mit „The Black Phone“ schnurstracks in den mediokren Sektor jener Welle. Zwischen altbekannten Versatzstücken, vom Telefon als Kommunikationsmittel ins Jenseits über den Kidnappingplot und die übersinnlich begabte Schwester bis hin zum identitätsgestörten Serienmörder, der sein gewalttätiges alter ego vornehmlich über das Tragen einer Maske definiert, befleißigt sich Derrickson recht hausbackener Elemente, um sein jüngstes Gattungsstück an Frau und Mann zu bringen. Zwar gelingt es ihm vereinzelt, durchaus schöne Momente zu schaffen (so verändert sich der spirituelle Zustand der vormaligen Opfer-Geister jeweils rückwirkend zur zeitlichen Distanz ihres Todestags) und sein Publikum trotz des eher kurzfilmtauglichen Narrativs behende am Ball zu halten, das stets zuverlässige Auffangnetz der Konventionalität verlässt er de facto jedoch zu keiner Sekunde.
So bleibt „The Black Phone“ mit dem Abstand von ein paar Tagen als passabler, wenngleich wenig aufregender Mosaikstein seiner Alltagsprovenienz im Gedächtnis, der als modernisierte „Hänsel-&-Gretel“-Variation mit seinen rar gesäten Ausreißern nach oben kaum wirklich protzen kann.

6/10

RUN ALL NIGHT

„Tell everyone to get ready. Jimmy’s coming.“

Run All Night ~ USA 2015
Directed By: Jaume Collet-Serra

Nachdem der irischstämmige New Yorker Jimmy Conlon (Liam Neeson) viele Jahre als Killer für seinen besten Freund, den Syndikatsboss Shawn Maguire (Ed Harris) gearbeitet hat, fristet er sein Leben als dauerbesoffener Schnorrer und Tagedieb. Sein Sohn Mike (Joel Kinnaman), verheiratet und Vater zweier Kinder, will von ihm nichts wissen. Shawn hat derweil seinerseits Probleme mit dem eigenen Filius Danny (Boyd Holbrook), einem koksenden, lauten Störenfried, der seinen Vater gern in Geschäfte mit der albanischen Heroinmafia einspannen würde. Als dieser ablehnt und Danny jede weitere Hilfe versagt, erschießt dieser die beiden entsandten Albaner (Radivoje Bukvic, Tony Naumovski) kurzerhand, wird dabei jedoch durch einen dummen Zufall von deren Chauffeur, Mike Conlon, beobachtet. Nunmehr macht Danny Jagd auf Mike. Jimmy erfährt von der Sache und rettet Mike das Leben, indem er Danny tötet. Der vor Wut schäumende Maguire Senior vergisst alle Freundschaft und will weder Vater noch Sohn Conlon lebend davon kommen lassen. Ihn und seine Leute, einen übereifrigen Police Detective (Vincent D’Onofrio) und einen psychopathischen Profikiller (Common) auf den Fersen, erwartet die Conlons eine lange Nacht.

Einen der kaum mehr überschaubar vielen Genrefilme, auf die sich Liam Neeson im Alter und wohl beginnend mit Pierre Morels „Taken“ verlegt hat. Auch gemeinsam mit dessen Regisseur, dem spanischstämmigen Jaume Collet-Serra, hat Neeson nunmehr bereits vier Filme gemacht, wobei ich „Run All Night“ immerhin hinreichend ansehnlich fand, mir die übrigen drei in Kürze auch anschauen zu wollen. Nun darf man von diesem, einem grundsätzlich amttlich gecrafteten Gebrauchsfilm immerhin, keine sonderliche Innovation erwarten. Collet-Serras diverse neo-klassische Elemente aus Action- und Gangsterkino fusionierendes Werk schippert auf den ersten Blick im direkten Fahrwasser von Chad Stahelskis „John Wick“: Ein verzogener Gangsterfilius weckt durch sein koksinduziertes, egomanisches Verhalten einen eigentlich zu allseitiger Milieuberuhigung lange schlafenden Hund, der sein vormaliges Handwerk reumütig an den Nagel gehängt glaubt. Der aufgrund fehlgeleiteter Familienehre gekränkte Bossvater entfesselt daraufhin eine leichenreiche Hatz, deren Verlierer am Ende zwangsläufig er selbst und seine Organisation sein müssen, da die sie mitreißende Ein-Mann-Naturgewalt allzu entschlossen agiert. Soweit das Grundprinzip eben auch von „Run All Night“, der insofern noch interessant ist, als dass er sich ein wenig in die Subkultur irischen Migrantentums vortastet und mit Ed Harris einen diesbezüglich ja hinlänglich beschlagenen Antagonisten aufbietet. So ist es vor allem das Väterduell der beiden alternden Stars, das das Herz das Films schlagen lässt. Davon unabhängig, dass der eine der beiden, zumindest bezogen auf ihren gegenwärtigen Clinch, auf der moralisch sicheren Seite steht, hat Jimmy Conlon freilich allzu viele Sünden auf dem Kerbholz, um dem im Morgengrauen und upstate angesiedelten Finale als Katholik noch lebend entweichen zu dürfen – zu viele Opfer sind dem zeitweilig als „The Gravedigger“ Berüchtigten ehedem vor den Lauf geraten. Dabei sühnt Jimmy im Inneren bereits seit vielen Jahren. Vom Gewissen erdrückt, dem Sohn entfremdet und dem Suff verfallen, ist er seinen alten Kumpanen bestenfalls noch für schäbige Scherze gut und darf gerade noch volltrunken den Weihnachtsmann auf Shawns Familienfeier darbieten. Doch wehe, es wird persönlich (und das wird es) – Jimmy ist schneller nüchtern als die nächste Whiskeyflasche entkorkt und türmt im Nullkommanichts Leichen auf wie zu seinen besten Zeiten.
Collet-Serra inszeniert diesen doch relativ austauschbaren Plot dynamisch und wendungsreich; dabei gefällt er sich durch mäßig aufregende, um nicht zu konstatieren redundante Regiesperenzchen wie gewaltige time lapse shots durch das nächtliche New York, die dem eigentlichen Wesen des Narrativs als kammerspielartiger Doppelvendetta eher zuwider laufen. Dennoch bietet „Run All Night“ summa summarum noch immer genug an brauchbaren Elementen, um im leicht überdurchschnittlichen Qualitätssektor bestehen zu können.

7/10

ROSETTA

Zitat entfällt.

Rosetta ~ BE/F 1999
Directed By: Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne

Rosetta (Émilie Duquenne) ist 18, arm, unzufrieden und wütend. Mit ihrer Mutter (Anne Yernaux), einer pathologischen Alkoholikerin, wohnt sie in einem Wohnwagen auf dem Campingplatz „Grand Canyon“ nahe Seraing bei Lüttich. Das bisschen Geld, über das die beiden Frauen verfügen, reicht kaum zum Überleben, zudem schämt sich Rosetta grenzenlos für ihre Zugehörigkeit zum Subprekariat. So betritt sie das Campinggelände nie durch den Haupteingang, sondern stets durch ein Loch im Zaun, wo sie, ein Alltagsritual, ihre Laufschuhe gegen versteckte Gummistiefel tauscht. Jeden Gelegenheitsjob verliert Rosetta im Handumdrehen wieder und niemand mag ihr trotz vehementer Nachfragen eine feste Einstellung geben. Als Rosetta den Waffelbäcker Riquet (Fabrizio Rongione) kennenlernt, ergibt sich ganz allmählich ein Perspektivwechsel für die widerborstige junge Frau.

Mehr noch als der Vorgänger „La Promesse“ wagt „Rosetta“ einen unbestechlichen und zudem wiederum gänzlich ungeschönten Blick in den Abgrund von Existenzminima inmitten westeuropäischer Wohlstandsnationen. Rosetta und ihre Mutter gehören zu den Ärmsten der Armen, es langt hinten und vorne nicht. Die dazugehörigen Begleiterscheinungen sind so akut wie alltäglich; Rosettas Mutter säuft und lässt sich für einen Schluck Schnaps auch umweglos sexuell ausbeuten, derweil Rosetta in typischer, kindesbedingter Koabhängigkeit Tag für Tag vergeblich versucht, die zusehends verwahrlosende Frau zur Entwöhnung zu bewegen. Indes wünscht sie selbst sich nichts sehnlicher als ein wenig Struktur, Selbstwertgefühl und Normalität; bloß keine Sozialschmarotzerin sein, sondern die eigene Schicksalsherrin – zumindest ein klein wenig. Doch ohne Schulabschluss oder Ausbildung bleibt kaum Alternative. Als sich der sich ebenfalls mehr schlecht als recht durchs Leben schlagende Riquet anfängt, für sie zu interessieren, antwortet sie nicht nur mit spontaner Ablehnung, sondern denunziert den jungen Mann, der heimlich selbstgebackene Waffeln unter der Hand verkauft, bei dessen Chef (Olivier Gourmet), um selbst den Stand übernehmen zu können. Womit sie nicht rechnet, ist Riquets Hartnäckigkeit. Der ist, bei aller verzweifelten Gegenwehr Rosettas, schließlich sogar zur Stelle, als sie verzweifelt zum Suizid schreiten will.
Just an dieser Stelle entlassen uns die Dardennes wieder ad hoc aus dem Geschehen; die Weitererzählung, wie auch immer sie ausfallen mag, ist allein dem Rezipientenkopf vorbehalten. Und noch ein wenig karger wirkt Rosettas mit denselben formalen Mitteln erzählte Geschichte im Vergleich zu der von Igor in „La Promesse“ – beides Coming-of-Age-Storys vor der grauen Stadtkulisse Seraings (erstere jedoch flankiert durch ein wesentlich greifbareres Narrativ), scheint der sich gegen eindeutig Falsches positionierende Igor zumindest noch die Wahl einer Weggabelung zu erhalten, derweil Rosetta überhaupt keinen Ausweg mehr sieht. Doch gibt es auch einen für sie, den sie allerdings unter größten Überwindungen erst annehmen lernen muss: sie wird geliebt. Und geliebt sein werden kann, zumal, wenn man aus blanker Selbstverständlichkeit gewohnt ist, sich 24/7 im Elend zu suhlen, überaus anstrengend sein.

8/10

DRUK

Zitat entfällt.

Druk (Der Rausch) ~ DK/S/NL 2020
Directed By: Thomas Vinterberg

Vier Gymnasiallehrer und Freunde stehen an Wendepunkten ihrer jeweiligen Biographien. Ihnen allen gemein ist eine existenzielle Unzufriedenheit, die sich aus ganz unterschiedlichen, spezifischen Gründen niederschlägt und auch ihr Berufsengagement negativ beeinflusst. Martin (Mads Mikkelsen) etwa ist verheiratet und hat zwei Kinder im Teenageralter. Sein Familienleben ist von langweiliger Routine und Leidenschaftslosigkeit geprägt, was sich auch anhand des abweisenden Verhaltens seiner Frau Anika (Marie Bonnevie) manifestiert. Nikolaj (Magnus Millang), der Jüngste des Quartetts, zeigt sich derweil mit seinen drei quäkenden Kleinkindern überfordert, während Junggeselle Peter (Lars Ranthe) noch auf der Suche nach einer stabilen Beziehung ist. Sportlehrer Tommy (Thomas Bo Larsen), der Älteste, wirkt ebenfalls einsam und zudem ausgebrannt und leer. Bei einem Geburtstagsessen lenkt Nikolaj das Gespräch auf eine These des Psychiaters Finn Skårderud, der zufolge der Mensch ein permanentes Alkoholdefizit von 0,5 Promille aufweist, was seine soziale und psychische Funktionalität stark einschränke. Gemeinsam beschließen die vier Freunde, ein streng kontrolliertes und dokumentiertes Experiment zu wagen: Der Effekt eines Daueralkoholspiegels von besagtem Promillesatz und dessen Effekt auf Berufs- und Privatleben soll erforscht werden…

Thomas Vinterbergs jüngster, vom Unfalltode seiner neunzehnjährigen Tochter Ida überschatteter Film erhielt gewaltigen Kritikerzuspruch. Als sorgältig inszenierte und von großartigem Spiel getragene, berührende Tragikomödie in wohlfeil etablierter skandinavischer Tradition weiß „Druk“ tatsächlich weitgehend zu überzeugen – als fiktionalisierte Studie um das hochsensible Thema des Alkoholge- und -missbrauchs scheitert er allerdings, und zwar nachgerade kläglich. Die Plotprämisse nimmt sich rückblickend bereits als erstaunlich naiver Rohrkrepierer aus: Vier gestandenen, dem Bildungsbürgertum zuzurechnenden Männern mittleren und fortgeschrittenen Alters, einer davon Abstinenzler, dürften die Sucht- (und nicht nur solche) Gefahren infolge fortwährend praktizierten Alkoholkonsums durchaus bewusst sein, dennoch initiieren sie ein „Experiment“, das eher einem Initiationsritus für Burschenschaften gleicht. Die stilisierte Trunksucht bedeutsamer historischer Charaktere findet sich allenthalben erwähnt und umkränzt; Grant, der die Konföderierten besiegte, Hemingway, der große Literat, Churchill, der dem erklärten Gesundheitsmenschen Hitler die Stirn bot.
Als bilde Alkohol den Schlüssel zum Tor der sukzessiven Genialitätsentfesselung beginnen auch Nikolaj, Peter, Tommy und Martin, nunmehr unentwegt angeschickert, sich und ihre Qualitäten neu zu entdecken. Doch die Schattenseiten der freilich nur scheinbar kontrollierten Vergiftung von Körper und Seele gewinnen die erwartbare Übermacht. Der alles überflügelnde Pegel steigt und mit ihm der unwiderstehliche Hang zur egomanen Entgleisung und zum Exzess. Nikolaj und Martin grätscht der drohende – und schließlich vollkommene – Verlust der Familie zwischen die gummierten Beine, der Suff lässt Peter zum überaus fragwürdigen Lebensberater eines seiner Schüler avancieren und treibt den depressiven Tommy in den Selbstmord. Katastrophe statt Katharsis. Mit Wodka spielt man nicht, schon gar nicht mit russischem. Glücklicherweise rettet die analoge, rechtzeitige Erkenntnis den Rest der Freunde und versichert dem wahlweise erstaunten und/ oder möglicherweise auch erleichterten Publikum zum versöhnlichen Schlussvorhang: ab und zu einen zu trinken geht klar, aber den Kater am nächsten Tag muss man aushalten können.
„Druk“ behandelt diese Offenbarung und den beschwerlichen Weg dorthin mit dem sensationalistischenen Gestus der Entdeckung des Penicillins. Alkoholgenuss ist nicht für jede/n, die psychische Disposition ist entscheidend und nicht jede/r verträgt eben gleich viel. So kosmisch, wie Vinterberg und sein Koautor Tobias Lindholm uns ihre kleine Examinierung zu verkaufen trachten, ist all das mitnichten, es sei denn für ein handverlesenes, wohlsituiertes Programmkinopublikum, das sich hier und da mal ein Gläschen Riesling zur Forelle gönnt.
Über Alkohol, das Trinken, Sucht, Drogen und deren direkte (oder indirekte) Affizierung von Lebenswegen gibt es viele, wunderbare Filme. Ironischerweise zählt der sich zu deutsch so vielversprechend selbstbetitelnde „Der Rausch“ leider nicht dazu.

5/10

SUKKUBUS – DEN TEUFEL IM LEIB

„Hol den Stier!“

Sukkubus – Den Teufel im Leib ~ BRD 1989
Directed By: Georg Tressler

Die Schweizer Alpen im 19. Jahrhundert: Drei Männer, der Senn (Peter Simonischek), der Hirt (Giovanni Früh) und ein Lehrlingsjunge (Andy Voß) treiben Milchkühe auf. Das eintönige Tagesgeschäft macht dem gleichfalls gottesfürchtigen wie abergläubischen Trio zu schaffen; vor allem die zur Brachlage gezwungene Libido gilt es immer wieder zu zäumen. Eines Abends steht der Schnaps auf dem Tisch. Der zunächst noch gradlinige Senn lässt sich im Suff vom Hirten überreden, einen „Tuntsch“ zu fertigen, einen weiblichen Fetisch, der aus Stroh und Lumpen besteht. Das heidnische Konstrukt erwacht, als Senn und Hirt sich an ihm vergehen, kurz zu fleischlichem Leben (Pamela Prati), verschwindet jedoch unmittelbar darauf wieder. Am nächsten Tag, die Männer schieben das unheimliche Ereignis stillschweigend beiseite, taucht der Tuntsch wieder auf und jagt ihnen eine Todesangst ein. Und tatsächlich müssen die beiden Älteren ihren Frevel teuer bezahlen…

Die traditionsreiche Alpensage um das Sennentuntschi, dessen gottlose Erweckung grauenvolle Ereignisse nach sich zieht, stand Pate für Georg Tresslers mit einigem Abstand entstandene, elfte und letzte Kinoregie, bevor er nurmehr Episoden für maue TV-Serien inszenierte. Franz Seitz schrieb das Drehbuch, er und Luggi Waldleitner produzierten. Der große kommerzielle Erfolg war dem phantastisch-morbiden Heimatdrama erwartungsgemäß nicht beschieden, als rares Genrestück blieb er eigentlich ein Apokryph der (west-)deutschen Filmhistorie. Allzu merkwürdig und sperrig wird „Sukkubus“ dem damals von diversen Hollywood-Blockbustern überfluteten Publikum vorgekommen sein; ich selbst, damals dreizehn Jahre alt und scharf auf alles, was ich an eigentlich nicht jugendfreiem Horror- oder Actionstoff in die Finger bekommen konnte, erinnere mich noch an die Besprechungen und Werbeanzeigen in den eingängigen Filmblättern (die spätere VHS-Veröffentlichung wurde dann nochmal deutlich intensiver beworben) und dass ich daraufhin beschloss, den Film doch lieber nicht sehen zu wollen. Gut, die sich auf dem Kinoposter und den Programmfotos nackt bleckende, archaisch wirkende Pamela Prati mit ihren bleichen Augenlinsen war da für mich auch noch nicht hinreichend reizvoll – ein Umstand, der sich in den Folgejahren ändern sollte. Heute erscheint mir vor allem jene Sequenz einprägsam, in der sich die Männer daran machen, eine vom Hang gestürzte Kuh zu häuten.
Tatsächlich gestaltet „Sukkubus“ sich primär auf einer sehr erwachsenen, sinnlichen Ebene unheimlich. Die alte Fabel warnt vor der Übermannung durch unmäßige, vor allem jedoch unkontrollierte Geilheit, davor, dass man den Herrgott zugunsten der im tiefen Inneren lauernden Instinktivität vergessen und daraufhin nie wieder gut zu machende Fehler begehen könnte. Tatsächlich ist es die ewig lauernde Libido, die vor allem die zwei älteren Viehhirten nicht loslassen mag – während der Senn seine Bedürfnisse unter einem kalten Gebirgswasserfall abtötet, vergreift sich der mit schwarzmagischer Folklore liebäugelnde Hirt einmal beinahe an dem Jungen und ist dann auch der Initiator der Tuntsch-Erweckung. Im festen Glauben, dass die Menschen in ihrem Tun bloß Spielzeuge zwischen Himmel und Hölle sind, ertönt allabendlich der Gebetsspruch des Sennen über der Alp, bis er sich, benebelt vom Hochprozentigen, eines nachts zu einer bösen Verballhornung alles Christlichen umformiert. Damit ist zugleich der Untergang besiedelt.

8/10

PALM SPRINGS

„Its one of those infinite time loop situations you might have heard about.“

Palm Springs ~ USA/HK 2020
Directed By: Max Barbakow

Schon seit einer gefühlten Ewigkeit ist Nyles (Andy Samberg) in einer Zeitschleife gefangenen, die dazu führt, dass er den 9. November bewusst immer wieder und wieder erleben muss. Dabei handelt es sich gleichfalls um den Hochzeitstag von Tala (Camila Mendes), der besten Freundin seiner enervierenden Partnerin Misty (Meredith Hagner), der in einem kleinen Hotel im sonnendurchfluteten Palm Springs stattfindet. Die Erklärung für die quantenphysische Extravaganz: In einem nahegelegenen Felsengebirge gibt es eine Höhle nebst mysteriösem Energiefeld, das jede Person, die sich ihm nähert, zu ebenjener Endlosrepetierung der immerselben letzten 24 Stunden verdammt. Nachdem Nyles bereits vor längerem während eines ausgiebigen, gemeinsamen Drogentrips den aus Irvine stammenden Hochzeitsgast Roy (J.K. Simmons) mit zur Höhle und somit in die Zeitschleife genommen hat, landet auch die Brautschwester Sarah (Cristin Milioti) eines Nachts versehentlich darin. Während für Nyles, der insgeheim schon seit längerem in Sarah verliebt ist, die unverhofft eingeweihte Begleitung eine willkommene Abwechslung vom alltäglichen Einerlei darstellt, mag sich seine neue Gespielin nie ganz mit der ausweglosen Situation abfinden. Zwar verliebt sich auch Sarah irgendwann in Nyles, doch gewisse Gründe veranlassen sie trotz ihrer Gefühle dazu, nach einer wissenschaftlich probaten Lösung für ihr Problem zu suchen…

Der Zeitschleifen-Topos stellt bereits länger, als man gemeinhin vermuten möchte, ein festes SciFi-Subgenre dar, dessen literarische und filmische Umsetzungen in der Regel noch eine zusätzliche, untergeordnete Erzählgattung bedienen, seien es die (romantische) Komödie, Thriller- und/oder Action-Storys. Weltberühmt wurde das Sujet natürlich endgültig durch Harold Ramis‘ unsterblichen Klassiker „Groundhog Day“, in dem es für Bill Murray als Hauptfigur Phil Connors gilt, über den Schatten seines unermüdlichen, lakonischen Zynismus‘ zu springen und jenen einen, ausnahmslos idealen Tag zu verbringen, um sich ins reale Morgen retten zu können. Derlei moralinsaure Metaphysik spielt in Max Barbakows „Palm Springs“ ebensowenig eine (allzu eminente) Rolle wie wahlweise die Aufklärung eines Kriminalfalles oder irgendwelche Mindfuck-Volten, wie sie andere Exempel vor ihm längst mit diesbezüglich deutlich intensiverem Interesse durchgespielt haben. „Palm Springs“, der mir mit etwas Sichtungsabstand etwas wie eine westgewandte, weniger kantige und weichere, philanthropischere Behauung der letzten beiden Korine-Filme vorkommt, könnte man vielmehr als postmodernistische time loop romcom bezeichnen: er wähnt seine mündige Zuschauerschaft als in bester Kenntnis befindlich um die zahllosen Möglichkeiten und Fallstricke, die das Erlebnis des sich permanent wiederholenden Tages beinhaltet und gibt sich erst gar keine Mühe damit, das, was Bill Murray einst noch als existenzielle Besonderheiten erlebte, auch nur im Mindesten sensationalistisch wieder aufzurollen. Dass jede noch so vermeintlich grenzwertige Aktion keinerlei nachhaltigen Effekt aufweist, da der nächste Morgen (im vorliegenden Fall) pünktlich um 9.01 a.m. wieder „auf Null“ schaltet, haben auch Nyles und der ihn völlig zu Recht als seine ultimative Nemesis wähnende Roy bereits zu Beginn des Films längst internalisiert.
Das Publikum derweil wird an die Seite der mit ihm frisch in der pikanten Situation befindlichen Sarah gestellt, einer sympathischen, aber etwas lose vor sich hin lebenden Mittdreißigerin, die, ebenso, wie der sich seiner besonderen Lage längst ergebende Nyles, bis dato noch nicht die wahre existenzielle Erfüllung gefunden hat. Am Ende rettet sie beide schließlich der unbedingte Wille zur Konsequenz und dazu, sich der persönlichen Zukunft emotional wohlgerüstet zu stellen, freilich mit Sarah als initiierendem Faktor. Zuvor gibt es allerlei Gelegenheiten sowohl zum aufrichtigen Verlieben als auch zu mal mehr, mal weniger schwarzem Humor mit – auch das freilich ein beliebtes traditionelles Element – multipler Todesfolge; mal mehr, mal weniger einkalkuliert. Besonders liebenswert daran sind die überaus schöne Paarung Samberg – Milioti, dazu passend einige typisch SNL-lastige Bonmots und eine exzellente Songauswahl. Könnte mit mehrfacher Betrachtung noch wachsen.

8/10

FLIGHT

„I know how to lie about my drinking. I’ve been lying about my drinking my whole life.“

Flight ~ USA 2012
Directed By: Robert Zemeckis

Nach einer durchzechten, durchvögelten Nacht und ein paar Lines Koks zum Runterkommen geht Flugkapitän Whip Whitaker (Denzel Washington) wie gewohnt zur Arbeit, um ein Passagierflugzeug von Orlando nach Atlanta zu fliegen. Ein Schlechtwettertief zu Beginn des Fluges meistert der erfahrene Pilot noch behende, kurz vor der Landung versagt dann das Höhenleitwerk und die Maschine gerät in den Sturzflug. Mittels eines waghalsigen Manövers, bei dem Whitaker den Flieger kurzerhand auf den Kopf und dann wieder zurück dreht, gelingt ihm eine leichte Stabilisierung und es können trotz des nachfolgenden Crashs bis auf sechs Menschen alle Passagiere gerettet werden. Der nur leicht verletzte Whitaker wird zunächst als Held des Tages gefeiert, dann kommt heraus, dass seine Blutwerte stark belastet waren und er noch selbst während des Fluges am Wodka genippt hat. Die öffentliche Meinung macht eine Kehrtwende und Whitaker muss sich schließlich wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht verantworten. Die Bekanntschaft mit der vormals drogensüchtigen Nicole (Kelly Reilly) gibt ihm vorübergehenden Halt, sein pathologisches und selbstzerstörerisches Suchtverhalten jedoch mag er sich nicht eingestehen, was wiederum zum Bruch mit Nicole führt. Schließlich steht die maßgebliche Anhörung bevor, die Whitaker dank seines pfiffigen Anwalts Hugh Lang (Don Cheadle) die Chance gibt, alles zum Positiven zu wenden…

Anders als in Clint Eastwoods vier Jahre später entstandenem „Sully“ geht es dem eine ganz ähnlichen Storyprämisse verhandelnden „Flight“ nicht um die Klarstellung von prekären Luftfahrt-Ereignissen oder die Ehrenrettung eines in akuter Stresssituation korrekt handelnden Piloten. Zemeckis‘ Film ist trotz jener spektakulären Ausgangslage das nüchtern erzählte Porträt eines multitoxikomanen Süchtigen und eine Erzählung darüber, wie Abhängigkeit als allmächtiger Existenzfaktor das Lebens eines Individuums beeinflusst und prägt. Die klug gewählte conclusio besteht darin, dass Whip Whitaker die meisten Menschen im beschädigten Flugzeug weder wegen noch trotz seines inflationären Alkohol- und Drogenkonsums retten konnte, sondern ganz schlicht mit ihm.
Jahrelang süchtige Personen, denen es gelingt, ihr öffentliches Image auf akzeptablem Niveau zu halten, entwickeln sowohl im Bezug auf ihre Abhängigkeit als eben auch mit ihr hochkomplexe Persönlichkeitsstrukturen. Diese beinhalten vor allem die wohlfeil erlernte Fertigkeit professioneller Selbsttäuschung, die von der Leugnung der Sucht bis hin zu der nicht minder irrigen Autosuggestion reicht, sie wahlweise kontrollieren oder behende mit ihr umgehen zu können. Abhängige durchlaufen je nach der Intensität ihres individuellen Suchtstadiums und dessen Wechselwirkung mit ihrem sozialen Umfeld sämtliche jener Stadien in sich unwillkürlich repetierender Reihenfolge, wobei sich die Abwärtsspirale ungeachtet aller Anstrengungen sukzessive fortsetzt. Ein endgültiges Entkommen daraus ist mäßig wahrscheinlich und im Falle des Erfolges letztlich ausschließlich einer glücklichen Kombination begünstigender Faktoren zuzuschreiben. Ohne ausnahmslose Abstinenz ist ein langfristiger Weg aus dem Teufelskreis faktisch unmöglich.
Die Geschichte von Whip Whitaker greift auf dem Weg zu seinem forcierten Suchtausstieg diverse Stationen einer Abhängigkeit auf, freilich nicht, ohne am Ende eine sehr kinogemäße Selbstrettung hintenanzustellen, die wohl vor allem dazu taugt, das Publikum zu beschwichtigen und mit einem positiven Gefühl zu entlassen. Ganz so konsequent wie er es im Verlauf seiner Erzählung verspricht, nimmt sich „Flight“ dann schlussendlich doch nicht aus. Als es in der finalen Befragung darum geht, die Integrität der beim Absturz heldenhaft verstorbenen Stewardess Katerina (Nadine Velazquez), die mit Whitaker die letzte, verhängnisvolle Nacht verbracht hat, in eigener Rettung zu vernichten oder wahlweise zu retten, entscheidet sich der wiederum im Vollrausch befindliche Held für letzteres; um den Preis der eigenen öffentlichen Ehre zwar, aber im Gegenzug zur persönlichen Rettung der Seele. Mit der schonungslosen Ehrlichkeit gehen Gefängnis, aber auch Abstinenz einher; verloren geglaubte Beziehungen können gekittet werden, Whitaker nimmt die gesetzlich oktroyierte Strafe gewissermaßen als unverhofftes Geschenk entgegen. Damit pflegt der als Beschreibung einer Suchtcharakteristik wie eingangs erwähnt ansonsten annähernd brillante „Flight“ mit seinem on top befindlichen Hauptdarsteller einen ähnlichen magischen Realismus wie etwa Mike Figgis‘ „Leaving Las Vegas“: Der ganz ordinäre Alkoholiker zelebriert weder seinen Todessuff in Vegas, noch entwickelt er sich in einer kurzen, starken Minute zum altruistischen Heiligen. Einen gänzlich ungeschönten, unromantischen Realismus in dieser Angelegenheit bleibt Hollywood mit seinen vielen Trinkergeschichten uns bis heute schuldig.

8/10

SENNENTUNTSCHI

„Das isch der Dämon!“

Sennentuntschi ~ CH 2010
Directed By: Michael Steiner

In den Schweizer Alpen. Birgit (Birgit C. Krammer) und ihre kleine Tochter Bibi (Paula Marija) finden beim Pilzesammeln eine skelettierte Leiche. Den herbeigerufenen, skeptischen Polizisten berichtet Birgit dann von einer mysteriösen Kette von Ereignissen, die sich hier vor 35 Jahren abgespielt hat: Damals tauchte eine verwahrloste und stumme junge Frau (Roxane Mesquida) im naheliegenden Dorf auf, das der hiesige Pfarrer (Ueli Jäggi) sogleich in aller Öffentlichkeit für den just zuvor stattgefundenen Suizid seines Messners verantwortlich machte – das Mädchen wäre nämlich ein vom Teufel gesandter Dämon. Die abergläubische Dorfgemeinschaft stellt sich umgehend auf die Seite des Geistlichen, wobei einzig der Ortsgendarm Reusch (Nicholas Ofczarek) sich der verstörten Frau annimmt, ihre Herkunft zu recherchieren und sie zu beschützen versucht. Im angrenzenden Gebirge taucht derweil der junge Romand Martin (Carlos Leal) bei dem Ziegenhirten Erwin (Andrea Zogg) und seinem geistig behinderten Adlatus Albert (Joel Basman) auf, vorgeblich, um sich als Senn anlernen zu lassen. In Wahrheit hat Martin jedoch aus krankhafter Eifersucht heraus seine Freundin ermordet und befindet sich nun auf der Flucht. Im abendlichen Absinthrausch besinnt sich Erwin dann der alten Sage um das „Sennentuntschi“, derzufolge ein paar einsame Sennen eine Kunstfrau aus Lumpen hergestellt haben, in die dann unheiliges Leben fuhr. Später rächte sich das Sennentuntschi grausam für die an ihm begangene Unzucht. Nachdem Erwin das entsprechende „Ritual“ durchgeführt hat, taucht tatsächlich eine junge Frau in der Hütte auf – das stumme Mädchen aus dem Dorf…

Alpenhorrorgeschichten als finstere Variante des (klassischen) Heimatkinos bilden leider noch immer eine rare Ausnahmererscheinung im deutschsprachigen Filmgeschehen. Vornehmliche Exempel wären Georg Tresslers ebenfalls auf der Sennentuntschi-Sage basierender „Sukkubus“, dem wohl dem Vernehmen nach bald endlich eine adäquate Veröffentlichung zuteil wird, Ralf Huettners berückend schönen „Der Fluch“ sowie, aus der jüngeren Geschichte, Marvin Krens „Blutgletscher“ und natürlich Lukas Feigelfelds „Hagazussa“. Die unwegsame und somit gewissermaßen auch undurchdringliche Gebirgswelt beflügelt seit eh und je die Phantasie ihrer Einwohner, wobei insbesondere die oftmals wesentlichen Elemente der Abgeschiedenheit und Einsamkeit vortreffliche Motive für Mysterie, Spuk oder Wahnsinn liefern. Geheimnisse bleiben hier zumeist Geheimnisse, Tote verschwinden in tiefen Schluchten oder tiefem Eis und tauchen nie wieder auf, es sei denn, als rächende Geister. Die Mär vom Sennentuntschi markiert in diesem folkloristischen Nährboden eine besonders berühmte Sage in der Schweizer Alpenregion.
Der unter etlichen finanziellen Querelen entstandene, schlussendlich aber glücklicherweise doch noch realisierte „Sennentuntschi“ von Michael Steiner bietet nicht nur innerhalb des eingangs erwähnten, kleinen Filmzirkels einen unbedingt sehenswerten Beitrag, bei dessen Betrachtung man alledings die (ggf. untertitelte), orginiale schwyzerische Tonspur der hochdeutschen Nachsynchronsation den Vorzug geben sollte. Steiner erzählt seine inmitten der 1970er Jahre spielende Story als Rückblick mittels zwei parallel erzählter Handlungsstränge, die, wie sich später herausstellen wird, der eigentlichen Chronolgie der Ereignisse zuwider laufen und erst am Ende zusammengeführt werden. Die daraus zunächsten resultierenden, leichten Unsicherheiten im Zuge der Erstrezeption erfordern zunächst einiges an konzentrierter Deduktion, erweisen sich dann aber im weiteren Verlauf als absolut sinnfälliges narratives Mittel und nicht etwa als naseweiser Formaffekt. Auf diese Weise spitzen sich nämlich die beiden Ungeheuerlichkeiten, in deren jeweiligem Zentrum das arme, „titelgebende“ und von der eh stets formidablen Roxane Mesquida ganz wunderbar interpretierte Mädchen steht, gleichrangig zu und ergänzen sich im Verlauf der dann umso erschüttertender wirkenden Doppel-Conclusio. Tatsächlich bleibt dieses Geheimnis noch nicht einmal das einzige – der abgelegene Mikrokosmos von „Sennentuntschi“ steckt voller ungesühnter Schuld. Dass diesbezüglich und wie nebenbei noch abgergläubisches Hinterwäldlertum, kleinprovinzielle Unreflektiertheit und klerikale Bigotterie aufs Korn genommen werden, zeichnet Steiners absolut sehenswerten Film nur umso mehr aus.

8/10