AMAZING GRACE

„Your life is a thread. It breaks, or it doesn’t break.“

Amazing Grace ~ UK/USA 2006
Directed By: Michael Apted

England, 1782. Der junge Parlamentarier William Wilberforce (Ioan Gruffudd) exponiert sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit öffentlich als leidenschaftlicher Gegner des Sklavenhandels. Auch sein bester Freund, der spätere Premierminister William Pitt (Benedict Cumberbatch), steht, obgleich politkarrieristisch wesentlich ambitionierter, auf Wilberforces Seite. Pitt ist es auch, der Wilberforce einem kleinen Zirkel von abolitionistischen Aktivisten vorstellt, darunter der Theologe Thomas Clarkson (Rufus Sewell) und der Ex-Sklave Olaudah Equiano (Youssou N’Dour). Zunächst erweisen sich Wilberforces Bemühungen im Unterhaus als zwecklos; allzu gewichtig ist der Widerstand der an der Sklaverei verdienenden Lobby. Viele Jahre des unermüdlichen Kampfes und der Überzeugungsarbeit stehen Wilberforce bevor, bis am 25. März 1807 ein Gesetz zum Verbot des Sklavenhandels im britischen Machtbereich mit großer Mehrheit durchgesetzt und erlassen wird. Nur drei Tage nach der endgültige Abschaffung der Sklaverei in Großbritannien stirbt Wilberforce am 29. Juli 1833.

Michael Apteds Biopic über einen der der maßgeblichen Abolitionisten in Europa verzichtet anders als viele historisch grundierte Filme über die Sklavereiganz bewusst darauf, die inhumanen Zustände vor Ort, also in Afrika, auf den Schiffen oder in den Kolonien zu bebildern und unterscheidet sich allein dadurch in beträchtlicher Weise von den diversen, oft deutlich populäreren Kino- und TV-Klassikern zum Thema. Wilberforce, ein Kind der Aufklärung und der damit einhergehenden, humanistischen Strömungen, bezieht seine Maximen höchstselbst nicht aus unmittelbaren Zeugnissen der global grassierenden Unmenschlichkeit, sondern aus dem, was ihm mündlich und schriftlich zugetragen wird. Als ein maßgeblicher Faktor ergibt sich die Bekanntschaft mit dem alternden Ex-Sklavenschiffskapitän John Newton (Albert Finney), der, innerlich geläutert und zum Christ geworden, erst Jahrzehnte der Buße und Einkehr benötigt, bevor er als mittlerweile Erblindeter seine Memoiren zu Diktat gibt.
Bis zur körperlichen Aufzehrung widmet sich Wilberforce seinem Ziel; er wird krank und süchtig nach Laudanum. Erst die Heirat mit der starken Barbara Spooner (Romola Garai) verleiht ihm die Kraft, weiter für die Abschaffung der Sklavenhandels einzutreten. Dabei gelingt es ihm, mehr und mehr auch prominente Stimmen wie den Lebemann Lord Fox (Michael Gambon) für seine Zwecke zu gewinnen.
„Amazing Grace“ wirkt in seiner gelassenen, akribischen und dennoch spannenden Art des Erzählens wie eine Fortführung der Welle biographischer Filme der dreißiger und vierziger Jahre aus Hollywood und England, von denen diverse etwa von William Dieterle inszeniert wurden. Diese pflegten ihre Titelcharaktere als getriebene und demzufolge oftmals auch anfällige Visionäre zu porträtieren, deren (geistige, technische oder materielle) Errungenschaften ihnen einen Platz im Pantheon großer Geister sicherten. Hier wie dort gab und gibt es eher wenig Platz für Kritik an den Protagonisten, derweil sie in besonderem Maße die Summe ihrer Fürsprecher, Unterstützer und natürlich Widersacher darstellen. Zu konstatieren, „Amazing Grace“ sei ein wenig aus der Zeit gefallen, wäre also sicherlich nicht ganz verfehlt. Für mich ist das neben vielen anderen jedoch eine seiner Hauptqualitäten.

8/10

THE BANISHING

„Amen.“

The Banishing ~ UK 2020
Directed By: Christopher Smith

Essex, 1938. Der immens gottesfürchtige Vikar Linus Forster (John Heffernan) zieht mit seiner Gattin Marianne (Jessica Brown Findlay) und deren unehelicher Tochter Adelaide (Anya McKenna-Bruce) in das berüchtigte Landhaus Morley Hall, in dem sich drei Jahre zuvor Schreckliches ereignet hat, was der ortsansässige Bischof Malachi (John Lynch) jedoch wohlfeil unter den Teppich gekehrt hat. Einzig der als Scharlatan verschrieene, in Morley wohnhafte Okkultismusforscher Harry Reed (Sean Harris) ahnt um die dämonische Gefahr, in der vor allem Marianne und die kleine Addie schweben. Morley Hall wurde nämlich auf den Ruinen eines Klosters bigotter Mönche erbaut, die dort einst grausige Taten verantworteten und einen besonders unruhigen Geist in den Katakomben hinterließen…

Im Horrorfilm und besonders im Haunted-House- und Exorzismus-Subgenre bieten vermeintlich authentische Lokalitäten oder Begebenheiten sowie entsprechende, paranormale Phänomene mit angeblich realen Wurzeln seit jeher eine immens dankbare Projektionsfläche für mannigfaltige Revision und eifrige Fabulierung. „The Banishing“, originär veröffentlicht beim einschlägigen VOD-Service Shudder, greift jenes Element wiederum auf, um einen einserseits stark traditionsverhafteten und andererseits doch recht postmodernistisch gefärbten Gattungsbeitrag zu liefern. Handlungsort und Personen wurzeln durchweg auf historischen Vorbildern, jeweils unter geringfügigen, für Faktenvertraute jedoch offensichtlichen Namensänderungen, wobei erwartungsgemäß auch der Fall des realen Borley Rectory, dem berühmtesten Spukhaus Englands, nebst den Berichten des damals dort unnachgiebig um Aufmerksamkeit heischenden Spiritualisten Harry Price im Nachhinein als barer Humbug entlarvt wurde. Ihre Funktionalität als Inspirationstableau für kleine Schauergeschichten haben die alten Geschichten jedoch nie wirklich eingebüßt, wie „The Banishing“ nunmehr demonstriert.
Smiths Film erfuhr bis dato vornehmlich Widerwillen und Ablehnung; er wolle allzuviel und offeriere dabei doch vornehmlich Albernheiten, misslungene Details und campigen Versatz. So einfach finde ich es nicht. Gewiss, es lässt sich nicht leugnen, dass „The Banishing“ recht unverfroren auf die sich ihm darbietende Kolportageklaviatur eindrischt. Zur Orientierung ~ all dies kommt im Film vor: ein verfluchtes Haus mit noch verfluchteren Kellergewölben, eine Familie mit unheilvoller, an ihrer Stabilität nagender Vorgeschichte, ein spirituell begabtes Kind, das sich zusehends merkwürdig verhält, ein in seinen Glaubensgrundsätzen extrem geprüfter Gottesmann, ein sinistrer Bischof, welcher mit den Nazis kooperiert, die sich wiederum okkulte Mächte anzueignen trachten, ein unerlöster weiblicher Geist mitsamt totem Baby, böse Mönchsdämonen in Kapuzenkutten, Zeit- und Dimensionsverschiebungen, beidseitig aktive Spiegel, albtraumhafte Visionen, ein exzentrischer Bohèmien, der schließlich den Tag rettet und natürlich der heraufdämmernde Zweite Weltkrieg mitsamt der Frage der moralisch korrekten britischen Reaktion auf den kontinentalen Faschismus. Keine schlechte Agenda für knappe 100 Minuten Erzählzeit und dabei erstaunlicherweise doch unter steter Bemühung der traditionell ehrwürdigen, sepiafarbenen Kontemplation englischer Genreerzählungen dargeboten. Obschon das Ganze durchaus etwas von einem eklektischen Gemüseeintopf besitzt, habe ich mich gut darin zurechtgefunden; ich mochte die Darsteller, allen voran den unglaublich an einen jungen Derek Jacobi erinnernden Sean Harris, wie er ungezwungen tanzt, säuft, sich lachend zusammenschlagen lässt und scheinheiliger Frömmelei trotzt.
„The Banishing“ ist tatsächlich ein recht erhabener Film, an dem mir besonders gefällt, der er sich allem Konsensuellem ganz bewusst fernhält und es weiten Publikumsteilen bewusst schwer macht, andererseits aber recht genau zu wissen scheint, was er wie tut.

7/10

HIS HOUSE

„It has followed us here.“

His House ~ UK 2020
Directed By: Remi Weekes

Das aus dem Südsudan stammende Ehepaar Rial (Wunmi Mosaku) und Bol (Sope Dirisu) lebt nach seiner Ankunft in England in einer Flüchtlingsunterkunft. Nyagak (Malaika Wakoli-Abigaba), die Tochter der beiden, ist zuvor während der Schiffspassage ertrunken. Ihr Verlust hat tiefe Risse bei Bol und Rial hinterlassen. Schließlich wird dem Paar unter strikten Aufenthaltsauflagen ein verwahrlostes Reihenhaus in einer anonymen Vorstadtsiedlung zugewiesen. Es dauert nicht lange, bis Bol, dem der Verbleib in der neuen Heimat über alles geht, Geister zu sehen beginnt. Vor allem Nayagaks unruhige Seele scheint voller Wut auf ihn und treibt Bol mit ihren ebenso aggressiven wie anklagenden Erscheinungen an die Grenzen des Wahnsinns. Auch Rial nimmt die Gespenster wahr. Für sie handelt es sich um einen Apeth, einen Dämon, der mit Schuld beladene Opfer bis aufs letzte Haar verschlingt, bevor er wieder Ruhe gibt. Während Bols und Rials Betreuer (Matt Smith) sich Sorgen zu machen beginnt, gilt es für die beiden, den Apeth irgendwie wieder los zu werden…

Dass der jüngere Horrorfilm sich, wie es den Wurzeln des Genres ja ohnehin seit eh und je entspricht, einer der kulturell bedeutsamsten Indikatoren für diverse gesamtgesellschaftlich geführte Diskurse zeigt, sollte keinem halbwegs aufmerksamen Genrebetrachter entgangen sein. Remi Weekes‘ „His House“ nun ist wohl einer der ersten Beiträge der Gattung zur Flüchtlingsthematik, und ein gleichermaßen sensibler wie berückender dazu. Ohne den Haunted-House-Topos seiner fest eingeschriebenen Ingredienzien zu berauben oder diese gar formal zu innovieren, erzählt Weekes wie beiläufig, was es heißt, eine krisengeschüttelte Heimat um Leibes und Lebens Willen hinter sich lassen und all die weiteren Entbehrungen auf sich nehmen zu müssen, die damit einhergehen, in das so sicher scheinende Mittel- bzw. Westeuropa zu migrieren. Denn die diversen, psychobiographisch versiegelten Traumata, die Albträume und möglicherweise auch auf sich geladene Schuldkomplexe bleiben – auch wenn der neu betretene Grund und Boden nicht von sichtbarem Blut getränkt sein mag. Der Apeth, die symbolische Manifestation all des Zurückgelassenen, ist längst nicht die einzige unnehmbar scheinende Hürde zur Sorgenfreiheit. Da sind auch noch die fremde Sprache, die andersartige Kultur, die hässliche, graue Zubetoniertheit der westlichen Urbanität, die Despektierlichkeit der hiesigen, weißen Ureinwohner mit all ihren kleinen und großen alltagsrassistischen Ressentiments, die aus ihrem Widerwillen und ihrem Unverständnis größenteils erst gar keinen Hehl machen. Ein schmuckloses, verkommenes Haus ohne Leben mit Müll, Dreck und Ungeziefer, Nachbarn ohne zwischenmenschliche Regungen, ein paar Pfund zum (Über-)Leben, dumme Bemerkungen, Verbote und Einschränkungen allerorten. Rial und Bol kommt das gepriesene, sichere England vor wie eine Teildiktatur mit ihnen selbst als humanem Bodensatz. Als ob all das nicht ausreichte, sind da noch die Schreie der Ertrunkenen, Ermordeten, Zurückgebliebenen, die in jeder ruhigen Minute ihr unablässiges Echo platzieren. Welcher Weg der richtige ist, müssen Rial und Bol erst herausfinden, wo „His House“ ihn stellvertretend für sie bereits gepflastert hat und nun mit ihnen beschreitet. Die einzige Option muss (und kann nur) lauten: weitermachen, kämpfen, niemals aufgeben.

8/10

AMULET

„What is happening to me?“

Amulet ~ UK/AE 2020
Directed By: Romola Garai

Der Veteran Tomaz (Alec Secareanu) hat seinen Kriegsdienst einst als Grenzposten auf irgendeinem osteuropäischen Konfliktschauplatz verrichtet. Nun lebt er als Flüchtling und Tagelöhner in London. Als das Heim, in dem er schläft, abbrennt, nimmt sich die Nonne Schwester Claire (Imelda Staunton) seiner an. Tomaz soll der in einem halbverfallenen Haus mit ihrer gebrechlichen Mutter lebenden, Magda (Carla Juri) helfen, notdürftig das Gebäude instand zu halten. Dafür bekommt er Kost und Logis. Die eigenbrötlerische Magda fasziniert den immer wieder von traumatischen Flashbacks heimgesuchten Ex-Soldaten und obwohl er ahnt, dass die kaum menschlich erscheinende Gestalt auf dem Dachboden, die Magdas Mutter sein soll, ein schreckliches Geheimnis umgibt, verliebt er sich in die junge Frau. Zwischenzeitliche Entschlüsse, dem Haus und den Frauen den Rücken zuzukehren, revidiert Tomaz immer wieder, bis er schließlich die grauenhafte Wahrheit erkennen muss und auch, dass seine Rolle in einem schicksalhaften, übernatürlichen Gefüge schon lange determiniert ist.

Das grandiose Regiedebüt der bislang ausschließlich als Darstellerin in Erscheinung getretenen Romola Garai reiht sich thematisch in die Garde des feministisch geprägten, jungen Horrorkinos ein und bereichert dieses um einen weiteren, ebenso hochinteressanten wie sehenswerten Beitrag. Garai, die auch als eine der vielen Anklägerinnen im Weinstein-Prozess fungierte (und somit nochmal eine zutiefst persönliche Agenda in diese Arbeit einfließen ließ), erweist sich als erstaunlich stilsichere Filmemacherin, die sich nicht davor scheut, ein extrem gemächliches Erzähltempo vorzulegen, in stark artifizialisierte Bereiche vorzudringen, Ellipsen einzusetzen oder mit kräftigen Formalia wie ausgeprägtem Chiaroscuro, von denen andere DebütantInnen eher wohlweislich die Finger ließen, zu arbeiten. Das komplexe Resultat ist ein mutiges, fabulierfreudiges, wenngleich sich betont sperrig und unzugänglich gebendes Genrestück, das das Unverständnis, mit dem ihm ein Großteil des unterhaltungsbedürftigen Publikums begegnen dürfte, nicht nur bereitwillig in Kauf nimmt, sondern a priori tapfer einkalkuliert. Dabei lohnt es sich immens, sich auf „Amulet“ einzulassen, da seine Mehrdimsionalität, seine labyrinthische Struktur und vor allem die fabulierfreudigen Bilderwelten sich erst im letzten Drittel zur Gänze erschließen. Dass unter den gleichermaßen geschmackvollen wie entgleisten Schichten ferner ein dezidiert antipatriarchalischer Thesenfilm lauert, der Motive um paganistische Entitäten mit feministischer Kraft auflädt, wird manch männlichen Zuschauer nachhaltig befremden. Gut so!

8/10

THE FAVOURITE

„I will not lie! That is love!“

The Favourite ~ IE/UK/USA 2019
Directed By: Yorgos Lanthimos

England, im frühen 18. Jahrhundert. Während die Armee sich auf dem Kontinent im Zuge des teuren Spanischen Erbfolgekriegs gegen die Franzosen aufreibt, lenkt die von schwerer Gicht und zeitweiser geistiger Umnachtung geplagte Königin Anne (Olivia Colman) die staatlichen Geschicke mehr schlecht als recht von zu Hause aus. Dabei kämpfen vor allem Annes intimste Vertraute Sarah of Marlborough (Rachel Weisz), Annes Jugendfreundin und Gattin des Feldoffiziers John Churchill (Mark Gatiss), sowie deren Oppositioneller Robert Harley (Nicholas Hoult) um die primäre Beratungsgunst der Königin: Während Lady Sarah um Steuererhöhungen buhlt, um das Militär zu unterstützen, schlägt sich der Parlamentarier Harley auf die völkische Seite. Als Dritte im Bunde schaltet sich noch die geschickte Emporkömmlingin Abigail Masham (Emma Stone) in den intriganten Reigen ein, eine junge, verarmte Adlige, die nach Einstellung bei Hofe binnen kurzer Zeit ebenfalls zur Intima der Königin aufsteigt und Lady Sarah mit allerlei unfeinen Methoden zu schassen versucht.

Stringente, thematische Homogenität kann man bei Yorgos Lanthimos, der hier erstmals, jedoch wiederum mit der ihm eigenen Brillanz ein Fremdscript verfilmte, nicht eben ausmachen. Was seine bisherige Arbeit dennoch motivisch eint, ist jene sonderbare Gratwanderung zwischen tiefer Misanthropie auf er einen und aufrichtiger Empathie für seine Figuren auf der anderen Seite, die sämtliche seiner Filme ihre würdevolle Gravitas verleihen. In „The Favourite“ lässt er uns seine sich wechselseitig zerfleischen Charaktere unter Befleißigung einer geradezu aufreizenden Impulsivität hassen: Olivia Colman als gebrechliche, zeternde und doch dauergeile Königin, ewig kotzend und mit offenen Wunden an den Beinen, gibt das monströse Porträt einer welken Patriarchin, das mich (gewiss nicht von ungefähr) in nicht wenigen Momenten an Kathy Bates‘ Annie Wilkes in Rob Reiners wunderbarem „Misery“ erinnerte; Rachel Weisz oszilliert mittels des ihr eigenen, wie immer ungemein kraftvollen Spiels geheimnisvoll zwischen aufrichtig scheinender Zuneigung zu Anne und ihrer ganz privaten Agenda; derweil in Abigail Masham ein sich zunehmend zerstörerisch ausnehmender Machthunger aufwallt, der sich mutmaßlich an einer in ihrer früheren Biographie datierenden, standesbedingten Demütigung entzündet. Nicholas Hoult schließlich als parfürmierter, tuckiger Dandy-Albtraum bietet das skurill verzerrte Bild eines opportunistischen Volksvertreters auf historischer Hoheitsebene. Garantiert keine/r dieser vorangestellten ProtagonistInnen ist dazu angetan, zur Identifikationsfigur des hilflos ins Ränketreiben geschubsten Publikums zu avancieren; allzu distanziert lokalisiert sich ihr politgeschichtlicher Hintergrund und allzu unverständlich erscheinen ihre missratenen Wertmaßstäbe. Dass Lanthimos dennoch Spannung und Interesse an ihrem Wirken schürt, möchte ich rundheraus seiner großen Kunst zuzuschreiben.
Vergleiche mit Stanley Kubricks Übermeisterwerk „Barry Lyndon“ wurden jawohl bereits zigfach angestellt und das mit Gewissheit nicht von ungefähr. Die ruchlose Dekadenz, die frostige Gefühlskälte und den allgegenwärtigen Narzissmus der barocken Ära hatte Kubrick darin mit der ihm eigenen, perfektionistischen Besessenheit auf unnachahmliche Weise inszeniert und bereits dort lernte man hinreichend, dass auf niemanden in wallendem Gewand, Puderperrücke und Dreispitz vertrauensvoller Verlass sein mag. Sowohl die von Kubrick entwickelte, innere Dialektik als auch die formale Geschlossenheit mit seinem minimalistischen Score, seinen fisheyes und bizarren slomos, allesamt klügstens zum Einsatz gebracht, verbucht mit „The Favourite“ nunmehr auch Yorgos Lanthimos endgültig für sich – ohne allerdings das Genie bloß einfallslos zu repetieren geschweige denn zu kopieren. Vielmehr scheint mir hier ein junger Filmemacher in beträchtlich gleichrangige Nähe zu rücken – ob Lanthimos sich diese Lorbeeren tatsächlich verdient, wird allerdings und freilich erst die Zeit zeigen müssen und können. Momentan halte ich ihn für einen der größten und wichtigsten aktiven Regisseure.

9/10

THE CONSTANT GARDENER

„That’s the way it is here.“

The Constant Gardener (Der ewige Gärtner) ~ UK/D/KE/F/CH/USA 2005
Directed By: Fernando Meirelles

Was genau seine noch nicht lang mit ihm verheiratete Gattin, die Aktivistin Tessa (Rachel Weisz), in ihrer Freizeit eigentlich treibt, weiß der in Nairobi tätige, englische Diplomat Justin Quayle (Ralph Fiennes) gar nicht so genau und er lässt sie machen. Er kümmert sich stattdessen lieber um seinen geliebten Garten. Der Aufenthalt des Paars in Kenia gestaltet sich weitgehend standeskonform; man verkehrt vornehmlich mit der weißen Elite oder den wenigen farbigen Kenianern, denen Bildung und Karriere vergönnt ist. Tessa verbringt viel Zeit mit dem belgischen Arzt Dr. Bluhm (Hubert Koundé), man munkelt bereits von einer Liebschaft. Nach einer gemeinsamen Reise der beiden in den Norden wird Tessas Leiche am Lake Turkana gefunden, Bluhm ist verschwunden. Quayle begreift erst jetzt, wie wenig er eigentlich wirklich über Tessa wusste und beginnt, Nachforschungen auf eigene Faust anzustellen. Mit seiner unliebsamen Neugier stößt er bald auf eine Mauer des Widerstands, die sich aus Pharmaverbänden, Lobbyisten und Korruption zusammensetzt und ihn selbst in höchste Lebensgefahr bringt.

Wenn das erstweltliche Kino sich diskursiv mit drittweltlichen Missständen auseinandersetzt, regt sich zurecht bei vielen Filmfreunden offenes Unwohlsein. Ich sehe das anders, da ich der Meinung bin, dass damit Wahrnehmungspforten aufgestoßen werden, die ansonsten möglicherweise verschlossen blieben. Die Tatsache, dass Afrika, von seinen zahllosen innerpolitischen Problemen abgesehen, noch immer unter den Folgen kolonialistischer Ausbeutung zu leiden hat und nach wie vor einen liebsamen Spielball verbrecherischer, kommerzieller Erwägungen großkapitalistischer Konzerne darstellt, kann insofern gar nicht oft genug ins mitteleuropäische Bewusstsein gehievt werden.
John le Carré, der eigener Aussage zufolge eine Verfilmung seiner Romane ehedem dezidiert erwünscht und später zumindest stets fest eingeplant hat, lieferte die Vorlage zu „The Constant Gardener“; der brasilianische Regisseur Fernando Meirelles machte dann unter der Ägide des Mike-Leigh-Hausproduzenten Simon Channing Williams vier Jahre später daraus seinen fesselnden Einstieg in die anglophone Filmindustrie. Große Namen also, veredelt noch zusätzlich durch eine entsprechende Schauspielphalanx.
„The Constant Gardener“ vermengt formvollendetes, klassisches Politthrillerambiente mit einer ebenso unkitschigen wie traurigen Liebesgeschichte, deren ganzes Ausmaß und bittere Tragik sich dem Zuschauer peu à peu in Rückblenden erschließt.
Nach dem noch recht unverbindlichen Anfang beginnen wir, gemeinsam mit dem eingangs gefassten Protagonisten Justin Quayle, einem durchweg braven und integren, aber auch naiven Vorzeigediplomaten, sowohl die aktivistischen Umtriebe seiner ermordeten Frau als auch seine aufrichtige, doch sehr viel tiefer verwurzelte Liebe zu ihr zu entdecken. Beide Bohrungen, die in der internationalen Verstrickung aus Politik und Pharmakonsortien, als auch die im eigenen Herzen führen jeweils in tödliche Sackgassen. Nicht, dass le Carré oder Meirelles, die ein brillantes Kombinat aus inhaltlicher Relevanz und exzellenter Regie vollziehen, uns am Ende mit völlig leeren Händen dastehen ließen; der unabwendbare Skandal wird pothume Kreise ziehen.
Für Tessa und Justin jedoch gibt es nurmehr das Wiedersehen im Jenseitigen – am anderen Ufer des karg umfelsten Turkanasees gewissermaßen.

8/10

DISCIPLE OF DEATH

„Whatever you do – don’t go near the old hall!“

Disciple Of Death (Das Monster mit der Teufelsklaue) ~ UK 1972
Directed By: Tom Parkinson

Cornwall, im 18. Jahrhundert: Ausgerechnet die mit einem Blutstropfen besiegelte, heimliche Verlobung des Bauern Ralph (Stephen Bradley) mit der Junkerstochter Julia (Marguerite Hardiman) sorgt dafür, dass der satanistische Selbstmörder Asher (Mike Raven) zu untotem neuen Leben erwacht. Sein diabolisches Ziel: sieben jungfräuliche Herzen zu extrahieren, um dann in die Ewigkeit eingehen zu können. Die bereits von ihm behexte Julia soll sein letztes Opfer sein. Gemeinsam mit dem Geistlichen Parson (Ronald Lacey) und mit der Hilfe eines mysteriösen Kabbalisten (Nicholas Amer) gelingt es Ralph, der bereits seine Schwester (Virginia Wetherell) an Asher verloren hat, dem Unhold und seinem aus der Hölle herbeigerufenen Zwergenadlatus (Rusty Goffe) den Garaus zu machen.

Nicht alles im britischen Horrorfach der Frühsiebziger stammte automatisch aus den qualitätsstandardisierten Produktionsschmieden der diesbezüglich spezialisierten Studios wie Hammer, Amicus oder Tigon. Es gab da auch die eine oder andere räudige Kleinstschindel, so etwa den vorliegenden „The Disciple Of Death“, der sich an die kurze Welle aus vornehmlich historisch gewandeten Folk- und Okkulthorrorfilmen hängte. Im Zentrum dieser einzigen Regiearbeit Tom Parkinsons, die als einzig vorhandene Musik Bachs „Toccata und Fuge“ in Dauerschleife verwendet, steht der schillernde Mike Raven alias Austin Churton Fairman, der in seinen knapp 73 Lebensjahren allerlei versuchte – und nur das Wenigste davon wirklich konstant oder gar längerfristig erfolgreich. Zu seinen selbsterkorenen Berufungen zählten neben der Filmerei, die ihn in eine Kurzkarriere von ganzen vier Projekten binnen zwei Jahren (die zwei davon, die ich noch nicht kenne, werde und muss ich – Erinnerungsnotiz – umgehend nachholen) führte, auch das Theaterspiel, der Ballettanz, ein paar Engagements als Flamenco-Gitarrist, die Radiomoderation, einige Jahre als Blues-DJ, die Arbeit als Autor und Skulpteur sowie die Schafzüchterei in Cornwall, im Zuge derer er auch als Co-Produzent für „The Disciple Of Death“ auftrat.
Jener hübsch einfältige, möglicherweise unter dem Einfluss des einen oder anderen bewusstseinserweiternden Derivats entstandene Leinwand-Plumpudding kombiniert seinen geradezu märchenhaften, infantil-naiven Plot mit einigen deftigen Make-up-Effekten, die die Zensoren trotz ihrer Durchschaubarkeit erwartungsgemäß auch hierzulande erzürnten. Mike Raven himself sorgte dafür, dass er besonders „effektvoll“ in Szene gesetzt wurde, was vor allem seine augenrollenden Beschwörungs- und Opferriten zu einer jeweils unnnachahmlichen Schau macht. Speziell die zweite Filmhäfte, beginnend mit dem Besuch in der Alchemistenstube des lustigen Kabbalisten (in der deutschen Synchronfassung freilich bloß ein weniger verfänglicher „Okkultist“), gerät zu einer delirierenden Karussellfahrt. Meine Lieblingsszene und überhaupt eine für die Ewigkeit ist die, in der Ronald Lacey mitsamt seiner unmöglichen Perücke von dem Zwerg praktisch widerstandsfrei zu Boden gerungen und ihm dann von selbigem die Kehle zernagt wird. Das sollte, dass muss man gesehen haben!
Die deutsche Synchronfassung mit einem zur Höchstform auflaufenden Christian Marschall sollte nicht unerwähnt bleiben – erweist sie doch dem freidrehenden, sich dabei völlig Ernst nehmenden Überschwall des Films nochmals ihre zusätzliche Ehre.
Un-ge-laublich.

5/10

THE IPCRESS FILE

„Do you always wear your glasses?“

The Ipcress File (Ipcress – Streng geheim) ~ UK 1965
Directed By: Sidney J. Furie

Um einen zuvor ermordeten Berufsgenossen zu ersetzen, wird der für den britischen Geheimdienst arbeitende Harry Palmer (Michael Caine), ein seiner Arbeit zwar pflichtbewusst, aber doch vergleichsweise lässig nachgehender Zeitgenosse, von seinem Vorgesetzten Ross (Guy Doleman) zu einer Observationsabteilung versetzt, der der reichlich verkniffene Major Dalby (Nigel Green) vorsteht. Palmer und seine neuen Kollegen erhalten den Auftrag, den zwielichtigen Grantby (Frank Gatliff) und seine rechte Hand Housemartin (Oliver MacGreevy) zu beschatten, die vermutlich in direktem Zusammenhang stehen mit der Entführung eines hochrangigen Atomphysikers (Aubrey Richards). Im Laufe seiner Ermittlungen stößt Palmer auf ein Tonband mit dem Begriff „Ipcress“. Auch der US-Geheimdienst schaltet sich ein und heftet sich an die Spuren Palmers, der bald selbst im Verdacht steht, mit dem Feind zu paktieren. Mehrere Männer aus Palmers Umfeld werden ermordet u d auch er selbst steht offenbar auf der Abschussliste. Schließlich wird Palmer persönlich entführt und begreift, was tatsächlich hinter „Ipcress“ steht – eine radikale Methode zur Gehirnwäsche, die von einer gegnerischen Macht eingesetzt wird, um westliche Wissenschaftler ihres Wissens zu entledigen…

Die Figur des Harry Palmer, ein Gegentwurf zum schillernden britischen Superspion James Bond, spielte Michael Caine zunächst in drei Filmen unterschiedlicher Regisseure und dann in der Mitte der neunziger Jahre nochmal in zwei TV-Fortsetzungen. Der Initialschuss „The Ipcress File“, die Adaption eines Romans von Len Deighton, versprach vor allem dem damals 32-jährigen Hauptdarsteller seinen Durchbruch als Filmstar zu verschaffen. Als eines der wenigen wirklich ernstzunehmenden Bond-spoofs (wobei jener Terminus an dieser Stelle eigentlich beträchtlich wackelt) hielt der Part des Harry Palmer tatsächlich einiges an mehrkanaligem Potenzial bereit – die Spionage-Arbeit wird hier als vornehmlich unglamouröses, dröges und oftmals bürokratielastiges Geschäft dargestellt, das sich zwar mitunter gefährlich ausnimmt, von den schillernden Jet-Settereien eines sich im Luxus nahezu sämtlicher maskuliner und weltlicher Verlockungen suhlenden 007 jedoch denkbar weit entfernt ist. Palmer ist ein Allerweltstyp von durchschnittlicher Intelligenz und Körperkraft, er hat ein stinknormales Appartement, kocht gern für sich selbst und kennt sich mit Dosen-Champignons aus. Um sich ausgiebig promiskuitiv zu verhalten, erhält er erst gar nicht die Gelegenheit und Brillenträger ist er außerdem – ein Held für den alltäglichen Gebrauch. Dennoch gibt es weiterreichende Verbindungen zumindest zum um diese Zeit bereits vier Filme starken Kino-Universum James Bonds; Harry Saltzman coproduzierte, Ken Adam designte die Sets, Peter Hunt besorgte den Schnitt und John Barry die Musik. Vor allem anhand der – wie gewohnt sagenhaften – Arbeit des Letzteren lassen sich allerdings gleichfalls sehr schön die Differenzen herauslesen. Während Barrys 007-Partituren häufig laut und bombastisch daherkommen, würde sein Palmer-Hauptthema in einem Bond-Film bestenfalls als Untermalung für eine Nebensequenz fungieren, in der der Protagonist irgendein Bürogebäude betritt. Auch Sidney J. Furies Inszenierung strotzt vor Vitalität und kunstvollen kleinen Arrangements, die ihre Entstehungsära wunderhübsch unterstreichen. Der nach wie vor aktive Kanadier Furie, um diese Zeit gewiss noch als hoffnungsvoller und durchweg anerkennenswerter Filmemacher zu bezeichnen, teilte ab den Achtzigern das Schickal anderer namhafter Kollegen seiner (und der Vorgänger-)Generation wie John Frankenheimer, Michael Winner, Richard Fleischer oder J. Lee Thompson – über den Umweg vergleichsweise niedrig budgetierter Genrefilme landete er als maßgeblicher Mitverursacher des kläglichen dritten „Superman“-Sequels irgendwann bei Cannon. In der Folge gab es dann noch vornehmlich wenig enthusiastisch beleumundete DTV-Produktionen, darunter zwei mit Dolph Lundgren, die ich just einmal rasch auf meine Watch-List gesetzt habe.

8/10

FUNNY MAN

„Sorted.“

Funny Man ~ UK 1994
Directed By: Simon Sprackling

Der Plattenproduzent Max Taylor (Benny Young) gewinnt beim Pokern von dem geheinisvollen Callum Chance (Chtristopher Lee) ein altehrwürdiges englisches Anwesen, dem er sogleich mitsamt seiner Gattin (Ingrid Lacey) und den zwei Kindern (Jamie Heard, Harry Heard) einen schicksalsträchtigen Besuch abstattet. Das Haus erweist sich nämlich als infernalischer Spielplatz eines teuflischen Harlekins, des Funny Man (Tim James), der in einem bitterbösen Reigen nicht nur umgehend die Taylors zur Hölle schickt, sondern auch Johnny (Matthew Devitt), Max‘ verspätet anreisenden Hippie-Bruder und einige von ihm mitgenommene Anhalter.

Simon Spracklings kleine, billig, aber visuell einfallsreich hergestellte Splatter-Comedy bewegt sich nur subliminal über dem Niveau von Amateurkunst und erweist sich vor allem als ein Film von Fans für Fans. Im Geiste der frechen Horrorhelden der Spätachtziger und Frühneunziger, die zu diesem Zeitpunkt längst die Grenzen zur Groteske überschritten hatten, zu den eigentlichen Helden ihres dedizierten Publikums avanciert waren und ihre Erfolge mit Kombinationen aus besonders illustren Mordvarianten und mehr oder weniger subversivem Humor feierten, geriert sich auch der Funny Man, ein realitätsbeugender Dämonenharlekin, dessen äußerlich opulentes Domizil eine reine Spielwiese für seine sadistischen Spielereien darstellt und der sein nach Blut lechzende Zuschauerschaft mittels permanenter Durchbrüche der vierten Wand und Direktansprachen bei Laune hält. Die diversen Drogenreferenzen und -Witzchen, die das Bild mehr oder weniger begleitend mitbestimmen, bildeten dabei offenbar keine rein plotinterne Extravaganz – auch Stab und Besetzung delektierten sich dem Vernehmen nach relativ konstant an BTM-Räuschen. Dies sorgte unter anderem dafür, dass im Zuge zuvor different geplanter, sehr viel ernster konnotierten Szenenabläufe mehrfach improvisiert wurde und der zirzensische Mummenschanz, den „Funny Man“ in seiner nunmehr endgültigen Form abgibt, überhauot erst entstehen konnte. Nicht jeder Gag erweist sich da als echter Volltreffer und ich möchte meinen, dass es auch der gezielt vorbereiteten Kognition des Rezipienten eher zuträglich sein sollte, während der Betrachtung selbst auf bleierne Nüchternheit zu verzichten. Dennoch trägt sich Spracklings Kifferkomik lediglich bis zu einem gewissen Maße, bevor dann doch wieder die offenkundigen Limitationen des Unterfangens zu Tage treten. Charmant ist und bleibt der Film in seiner zur Travestie überspannten Art, die nicht selten an den frühen Peter Jackson erinnert, gewiss. Ein Genrewerk für jedermann dürfte er indes nicht sein.

6/10

THE BEAST IN THE CELLAR

„He can see in the dark!“

The Beast In The Cellar (Der Keller) ~ UK 1971
Directed By: James Kelley

Auf einem ländlich gelegenen, englischen Militärstützpunkt kommt es zu einem nächtlichen Mord an einem der Soldaten. Der wackere Corporal Alan Marlow (John Hamill) warnt sogleich die einzigen beiden zivilen Anwohnerinnen, die beiden betagten, liebenswürdigen Schwestern Ellie (Beryl Reid) und Joyce Ballantyne (Flora Robson), zu denen er im Laufe der Zeit ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut hat. Die Ermittler vermuten, dass in Anbetracht der Spuren an der Leiche eine entflohene Raubkatze verantwortlich sein muss. Doch die Ballantyne-Schwestern wissen es besser. Als es zu weiteren Todesfällen kommt, ziehen sie aus einem jahrzehntelang gehüteten Familiengeheimnis die letztmögliche Konsequenz…

Neben dem Vorreiter Hammer waren in den Sechzigern und telweise Frühsiebzigern noch die vor allem für ihre Episodenfilme renommierte Amicus, die breiter gefächerte Anglo-Amalgamated und schließlich die Tigon British die wesentlichen Lieferanten für britischen gothic horror und natürlich auch dessen spätere, zeitgemäßere Ablösungen. Die Tigon wurde 1966 von Tony Tenser, einem Londoner Geschäftsmann  litauisch-jüdischer Abstammung, gegründet, nachdem dieser die bescheiden begonnene, dann nach und nach reüssierende Gesellschaft Compton Films verlassen hatte, um eigene Wege zu gehen. In Tensers bzw. Tigons Portfolio befindet sich mit „The Beast In The Cellar“ einer der schönsten Repräsentanten des englischen Horrorfilms in den angehenden Siebzigern. Über Umwege der damaligen, eher amerikanisch geprägten Welle des hag horror oder Hagsploitation-Films zuzurechnen, sind die beiden ältlichen Ballantyne-Schwestern (jeweils brillant dargeboten von Beryl Reid und Flora Robson) dabei eigentlich bloß mittelbare Verursacher des geschilderten Übels. In ihrem ebenso tragischen wie furchtbaren Falle greift die alte Weise vom Gegenteil des Guten, nämlich des gut Gemeinten. Das Mysterium um den Verursacher der blutigen Morde und die damit zusammenhängende Vorgeschichte enthüllt Ellie/Beryl Reid eigentlich erst gegen Ende des Films in einer wunderschön vorgetragenen und inszenierten Befragung durch den zuständigen Polizisten (T.P. McKenna): Nachdem ihr Vater einst mit einer schweren PTBS aus dem Frankreich des Ersten Weltkriegs heimgekehrt und später als psychisch und körperlich zertrümmerter Mensch verstorben war, wollten Ellie und ganz besonders Joyce mit allen Mitteln verhindern, dass auch ihr jüngerer Bruder Stephen (Merlyn Ward/Davydd Havard) dem Ruf des Militärs folgte und entschieden sich für das aus ihrer Logik einzig Richtige: Stephen wurde gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von ihnen sediert und in einem Kellerverlies des Hauses eingemauert. Dort blieb er, sich selbst überlassen und mit dem Nötigsten versorgt, bis er einen Weg heraus entdeckte und seinen über die Jahrzehnte aufgestauten Wahnsinn an jenen kanalisierte, auf die er nunmehr all seinen Hass projizierte – uniformierten Soldaten. Rasch kristallisiert sich vor allem in der Revision  heraus, dass „The Beast In The Cellar“ somit weitaus weniger Horrorfilm denn Drama ist. James Kelley benötigt tatsächlich nur wenige exploitative Elemente, um seine Kellerkind-Story zu entfalten und zur Wirkung zu bringen und selbst diese erweisen sich als reines Publikumszugeständnis und somit nahezu redundant. Mit der zunächst penibel umschifften, visuellen Offenbarung des derangierten Stephen Ballantyne ganz zum Schluss fällt gewissermaßen auch das letzte Suspense-Element – wir sehen die traurige Gestalt eines geistig umnachteten, verwitterten Kauzes, der selbst ein Opfer ungeheuerlicher Umstände wurde und dessen Schicksal sich möglicherweise nur um 27 Jahre Hölle verzögert hat. Dennoch mag und kann man den Schwestern nicht wirklich böse sein. Die eigentliche, ewig lauernde, ewig schwelende Bestie, die „The Beast In The Cellar“ anklagt und der wohlverdienten Angst preisgibt, ist der Krieg.

8/10