SUR MES LÈVRES

Zitat entfällt.

Sur Mes Lèvres (Lippenbekenntnisse) ~ F 2001
Directed By: Jacques Audiard

Die fast taube Carla (Emmanuelle Devos) arbeitet als Angestellte in einem mittelständischen Bauunternehmen in Paris. Mit 35 ist sie noch immer alleinstehend, obwohl ihre geheimen Sehnsüchte eine ganz andere Sprache sprechen. Ihr schüchternes, affirmatives und biederes Wesen verhindert jedoch offene oder gar intime Kontakte zu Männern, derweil ihre Freundin Annie (Olivia Bonamy), deren kleines Kind Carla allenthalben babysittet, umso wilder durch die Betten tobt. Als der auf Bewährung entlassene Ex-Knacki Paul (Vincent Cassel) Carla als Bürounterstützung zugeteilt wird, entwickelt sich nach und nach ein ambivalentes Verhältnis zwischen den beiden outcasts, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Carla fühlt sich auf seltsame Weise von Paul abgestoßen und zugleich für ihn verantwortlich. Der Kleinkriminelle wiederum plant bereits die Flucht nach vorn, indem er den Nachtclubbesitzer Marchand (Olivier Gourmet) abzocken will. Ausgerechnet Carla, die aufgrund ihrer Behinderung hervorragend von Lippen lesen kann, soll ihm bei der Durchführung behilflich sein…

Eine ungewöhnliche Romanze hat Jacques Audiard mit seiner dritten Langfilm-Regiearbeit vorgelegt: das schicksalsbedingte Zusammentreffen zweier vereinsamter Individuen, die sich geradezu determinstisch brauchen und verdienen, für die Erkenntnis dieses Faktums jedoch erst diverse, nicht selten bizarre Umwege und Nebenstraßen benötigen. Audiard kleidet diese Odyssee vom Suchen und Finden in einen wie beiläufig erzählten Kriminalplot mit Noir-Elementen nebst antiklimaktischer Conclusio, die zum Ende hin nochmal unterstreicht, wie zweckdienlich die vermeintlichen Genreavancen eigentlich sind. Als sehr viel elementarer für seine Anordnung erweisen sich die ungeheuer sorgfältig ausgearbeiteten Charakterisierungen seiner Hauptfiguren Carla und Paul, wobei vor allem erstere eine sukzessive Wandlung vom unbeachteten, einsamen Mauerblümchen hin zur selbstbestimmten Frau durchlebt mit dem kaum minder verloren wirkenden Paul als Emanzipationstrittbrett. Eine erste unbeholfene Annäherung seinerseits, die ohnehin eher als unbeholfene Form der Gegenleistung gedacht ist, erweist sich als im schlechtesten Wortsinne unfruchtbar; erst Carla selbst findet eine Form, den bisherigen Existenzversager für ihre (karrieristischen) Zwecke zu instrumentalisieren. Damit endet ihr wechselseitiges Engagement jedoch nicht; Paul führt Carla in „seine“ Welt ein, die der kleineren und größeren Gangster, des Nachtlebens und des wechselseitigen Übervorteilens. Darin inbegriffen ist auch, dass die Gefahrenlage zuweilen beinahe tödliche Ausmaße annimmt, ebenso, wie sie zwei Solitäre zusammenschweißen kann. Trotz des verdienten happy ends lässt Audiard die Kehrseite amourösen Großstadtfatums nicht außer Acht: ausgerechnet Pauls ehern scheinender Bewährungshelfer (Olivier Perrier) verbirgt hinter seiner alternden Fassade die tiefsten Abgründe.

8/10

Hinterlasse einen Kommentar