DER FREIE WILLE

„Weg!“

Der freie Wille ~ D 2006
Directed By: Mathias Glasner

Theo Stoer (Jürgen Vogel) saß neun Jahre in der forensischen Psychiatrie, weil er mehrere Frauen vergewaltigt und brutal verprügelt hatte. Aufgrund einer positiven Prognose wird er heuer entlassen und kommt zunächst in einer WG in Mülheim unter, wo ihm sein Bewährungshelfer Sascha (André Hennicke) dabei hilft, den Rückweg in den sozialen Alltag und den Umgang mit seinem keineswegs versiegten Drang, sich an Frauen zu vergehen, zu meistern. Theo tritt einen Job in der Druckerei Engelbrecht an. Gerade als er bemerkt, dass seine abgründige Persönlichkeitsseite sich wieder Bahn zu brechen droht, lernt Theo Nettie (Sabine Timoteo) kennen, die sich ebenfalls in psychischer Mitleidenschaft befindliche Tochter seines Chefs (Manfred Zapatka). Aus sich anfänglich zögerlich entwickelnder Sympathie zwischen den beiden wird bald aufrichtige Liebe. Infolge einer eigentlich alltäglichen Eifersuchtsepisode verliert Theo schließlich doch wieder die Kontrolle über sich. Um Nettie vor möglichen Übergriffen zu schützen, trifft er eine folgenschwere Entscheidung.

Vor Matthias Glasners, ja, Meisterwerk, habe ich mich lange Jahre gedrückt, weil ich einerseits ahnte, dass seine Betrachtung sich als eine ebenso fordernde wie nachhallende Angelegenheit erweisen würde und andererseits wegen seiner beträchtlichen Laufzeit von guten 160 Minuten, die insbesondere den eben genannten Effekt nochmals potenzieren könnte. Beide Befürchtungen erwiesen sich als zutreffend, was den umfänglichen Reichtum, den „Der freie Wille“ mit sich bringt und den er dem offenherzigen Rezipienten erweisen kann, allerdings völlig unterzuordnen ist. Der unmittelbar zuvor gesehene „Tore tanzt“, bei dem Matthias Glasner der Regisseurin und Autorin Katrin Gebbe als Scriptberater zur Seite stand und der bereits ein ebenso eindrucksvolles wie hinreichend niederschmetterndes Echo bei mir hinterließ, veranlasste mich schließlich dazu, „Der freie Wille“ gewissermaßen „nachzulegen“ – eine gute, die beste Entscheidung.
Die größte Stärke von Glasners bravourös arrangiertem Drama liegt vielleicht darin, sein kontroverses Konzept nicht nur nicht zu scheuen, sondern es auf gnadenlose Weise zu einem offensiven Element zu machen. Aus seinem rigoros durchverhandelten Topos, den gewaltbereiten und -affinen Vergewaltiger und Kriminellen vor allem als Mensch darzustellen, ihn in denkbar mutigster Konsequenz gar zur Identifikationsfigur des Zuschauers zu machen, schöpft „Der freie Wille“ sein ungeheures Potenzial. Zu Beginn erleben wir Theo Stoer gleich in denkbar schlimmster Aktion; völlig entfesselt zerrt er ein erstes, rein zufällig seinen Weg kreuzendes Opfer (Anna Brass) zwischen die Stranddünen und vergewaltigt und prügelt sie aufs Fürchterlichste. Für den ihn anschließend jagenden und aufstöbernden, provinziellen Hetzmob mag man da beinahe sogar Verständnis aufbringen. Der neun Jahre später teilresozialisierte Protagonist präsentiert sich dann als Mensch, der die ihm innewohnenden Dämonen nunmehr zumindest rational einzuordnen imstand ist – ohne sie je wirklich bezwingen zu können. Mit seinem merkwürdig „beschnitten“ wirkenden Alltag in der mittelgroßen, tristen Ruhrgebietsstadt Mülheim lernen wir Theo dann allmählich besser kennen. Er scheint zur Einsamkeit verdammt, tingelt ziellos durch die spätabendlichen Straßen, das nächste, potenzielle Objekt zur Triebabfuhr stets im Augenwinkel. Seine zunächst unbemerkten Übergriffigkeiten intensivieren sich langsam wieder, als der Film uns Nettie Engelbrecht vorstellt, die gerade dabei ist, sich aus den depressiven Tentakeln ihres verwitweten Vaters zu befreien. Ein weiterer, gebrochener Mensch. In der folgenden Erzählstunde entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte, die selbst den Einsatz von Schuberts „Ave Maria“ zum Gegenteil jedweder Kitschigkeit zerfließen lässt. Doch alle Harmonie und Glückseligkeit enden einmal; Nettie lernt ihrerseits auf brutale Weise, sowohl Theo als auch den Schaden, den er angerichtet hat, zu begreifen, derweil Theo seinerseits eine letzte Konsequenz aus der eigenen, unheilbaren Zerrissenheit zieht. Wie bestürzend nahe uns schließlich Theos unbeirrt praktizierter Suizid geht, lässt letztmalig und in aller Denk- und Dankbarkeit begreifen, dass und inwieweit man Empathie und Verständnis für den doch via Moral, Sozietät und sich selbst längst verdammten Gewaltverbrecher aufzubringen vermochte. Ein unglaubliches, zutiefst humanistisches Verdienst dieses eminenten Stücks großer Filmkunst.

10/10

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