THE LITTLE GIRL WHO LIVES DOWN THE LANE

„What about school?“ – „School is having people tell you what life is and never finding out by yourself.“

The Little Girl Who Lives Down The Lane (Das Mädchen am Ende der Straße) ~ CAN/F 1976
Directed By: Nicolas Gessner

Die dreizehnjährige Rynn Jacobs (Jodie Foster) lebt erst seit kurzem in einem kleinen, einsam gelegenenen Haus an der neuenglischen Küste. Das pittoreske Heim hat ihr Vater, ein Berufsautor, der mit Rynn zuvor jahrelang in England lebte, gemietet. Es dauert nicht lang, bis die Leute der dazugehörigen, kleinen Stadt auf Rynn aufmerksam werden, darunter die biestige Vermieterin Mrs. Hallet (Alexis Smith), deren hinlänglich als pädophil berüchtigter Sohn Frank (Martin Sheen) oder der Streifenpolizist Miglioriti (Mort Shuman) So besucht das überaus kluge, selbstbewusste Mädchen etwa keine Schule und lässt sich kaum in der Öffentlichkeit sehen. Ihr Vater macht sich sogar noch rarer; entweder will er bei seiner Arbeit nicht gestört werden oder ist auf Reisen, wie Rynn jedem, der nach ihm fragt, versichert. Mit dem Außenseiter Mario (Scott Jacoby) hat sie immerhin bald einen Freund, dem sie aufrichtig Liebe und Vertrauen entgegenbringen kann. Doch die Erwachsenen lassen Rynn nicht in Ruhe…

Nicolas Gessners auf einem Bühnenstück und später dazu verfassten Roman von Laird Koenig basierendes Drama erweist sich als ebenso spannend erzähltes wie vielschichtig dimensioniertes Kino, das dem Publikum ein gerüttelt Maß an diskursiver und auch philosophischer Eigenarbeit abverlangt. So erfährt man erst nach etwa der Hälfte der Spielzeit, welche Umstände Rynn wirklich in ihre gegenwärtige Lage getrieben haben: Der Vater hat sich, gezeichnet durch schwere Krankheit und dem Tode nah, im Atlantik ertränkt; die in England zurückgelassene Mutter, offenbar eine garstige, vereinnahmende Frau, fand Lynn später vor Ort und wurde dann von dem Mädchen mit dem ausdrücklichen Segen des Vaters vergiftet und ihre Leiche im Keller des Hauses versteckt. Um das Ansinnen des Vaters betreffs der Entwicklung seiner Tochter aufrecht erhalten zu können, muss das Mädchen ergo zur Mörderin werden – mehrfach, wie sich nach und nach erweisen wird.
Unser autoritär geprägtes, Jugendlichen keinerlei Mündigkeit zugestehendes Gesellschaftssystem lässt es schlichterdings nicht zu, dass ein Mädchen wie Rynn ihr eigenes, autonom gestaltetes Leben führen darf. „How old do you have to be before people start treating you like a person?“ fragt sie einmal und bringt damit die gesamte Crux ihrer individuellen Situation zum Ausduck. Entgegen aller ethischen Verträge und unter dem posthumen Appell des Vaters verteidigt sie ihre Selbstständigkeit bis aufs Blut und zumindest zunächst auch hinreichend geschickt, um unter dem Radar des beschirmten Rechtsauges damit durchkommen zu können. Die hexenartige Mrs. Hallet fällt einem Unfall in Rynns Haus zum Opfer -; die Umstände verlangen von dem Mädchen, dass sie die Leiche verschwinden lässt. Dazu – und nicht nur dazu – lässt ihr der etwas ältere teen outcast Mario seine unvoreingenommene Hilfe zukommen; er hilft ihr, Spuren zu verwischen und ihre Illusion vom noch lebenden Vater aufrecht zu erhalten. Wie Rynn ist Mario ein Sonderling. Gezeichnet durch eine spät ausgebrochene Kinderlähmung hinkt er und wenn die anderen Jugendlichen der Gegend sich beim Football vergnügen, gibt er Zaubervorstellungen auf Kindergeburtstagen. Rynn und Mario verstehen sich, verlieben sich und schlafen miteinander, eine weitere Unpässlichkeit wider jedwedes soziale Normativ. Das pure Böse schlägt jedoch abermals zu – in der Person von Mrs. Hallets Sprössling Frank, einem kleinen Mädchen nachstehenden Tunichtgut und Sadisten von wiederum überaus intelligentem, aber ebenso offen diabolischem Wesen. Aus einer Laune heraus quält er Rynns Hamster zu Tode, bedroht und erpresst das Mädchen später, ihm, während Mario im Krankenhaus liegt, hörig zu sein. Wiederum ist Rynn zur gewalttätigen Entledigung eines erwachsenen Störfaktors gezwungen und während sie dem tödlich vergifteten Frank Hallet beinahe reglos beim Sterben zusieht, laufen bereits die end credits. Koenig und Gessner entlassen uns mit diesem einerseits durchaus befriedigenden, schicksalsträchtigen Selbstjustizakt in ein konsequentes Dilemma – wenngleich Rynns Chancen, auch diesen Mord (oder besser: Todesfall?) zu vertuschen, höchst gering ausfallen, wünscht man ihr insgeheim, dass alles gut gehen möge, dass ihr Mario wieder gesund wird und das Paar auf eine gemeinsame, stabile Zukunft bauen kann. Andererseits ist diese Zukunftsprojektion wohl so romantisch wie naiv. Obwohl wir sie als kluge, eloquente Kindfrau erleben, wird Rynn langfristig keinen Chancen haben, sich sozial zu etablieren und einem (durchaus verdient) ungestörten Leben nachgehen zu können. Die Vergangenheit wird ihr immer wieder auflauern und ein Lebensstil, wie ihr Vater und sie selbst ihn für sich wünschen, dürfte langfristig unmöglich sein, aus vielerlei offensichtlichen Gründen. Ob Rynn mit ihrem freiheitlichen Selbstverständnis nun nicht reif ist für unsere Gesellschaft oder vice versa, mit dieser Entscheidung darf man sich schlussendlich tragen.
Vor allem jener bestimmte Verzicht auf jede Form moralinsaurer Tendenziösität macht „The Little Girl Who Lives Down The Lane“ nachträglich zu einem kleinen Meisterwerk.

9/10

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